80 Jahre nach seinem Beginn ist der Zweite Weltkrieg für mich zu Ende gegangen. 2019 ist mein Vater gestorben. Sein Vater verhungerte 1946 in Gefangenschaft am Kaspischen Meer. 20 Jahre später wurde ich geboren.
Zeit ist dicht. Im Tod verdichten sich Gegenwart und Vergangenheiten zu einem klarsichtigen und engmaschigen Zeit-Sehen. Unerwartet und plötzlich trat nach dem Tod meines Vaters die Erkenntnis in mein Bewusstsein: Jetzt ist der Krieg zu Ende, für meinen Vater, seine Mutter, seinen Vater und für mich. Jetzt ist Frieden.
Der Krieg schlich sich ein und fraß sich fest.
Zu Kriegsbeginn 1939 war gerade das erste Kind des jungen Ehepaars Margareta und Adolf Hoyer im Egerland zur Welt gekommen – meine Tante Inge. Wie meine Großeltern die politische Situation erlebt haben, weiß ich nicht. Meine Tante hat immer von einem liebevollen Vater erzählt, der ihr Puppen schenkte. Mein Großvater war 1939 28 Jahre alt, hatte Geigenmacher gelernt, eine Ausbildung zum Chaffeur absolviert und den tschechischen Wehrdienst, und arbeitete seit kurzem als Rangierer bei der Deutschen Reichsbahn. Ein tschechisch-deutsch verfasster Heimatschein ausgestellt 1929 sichert ihm das Heimatrecht in der Gemeinde Ursprung zu. Heimat in selbstverständlicher Zweisprachigkeit.
Der Krieg fand 1939 anderswo statt, nicht in der Familie Hoyer, nicht mit Adolf, nicht für Margareta und Ingeborg Hoyer. Er schlich sich ein in ihr Leben. Im Januar 1943 wurde mein Vater Franz geboren, 1944 der Vater nach jahrelanger Rückstellung als Reichsbahnarbeiter eingezogen. Wo mein Großvater das letzte Kriegsjahr verbrachte und wieviel Kontakt er zu seiner Familie hatte, ist mir nicht bekannt. Er hat diese Zeit wohl relativ unbeschadet überlebt. Das Grauen des Krieges traf die Familie nach seinem offiziellen Ende, fraß sich in ihren Leben fest. Für die Familie Hoyer in Altenteich im Egerland begann der Krieg 1945. Im Juli 1945 schreibt Adolf Hoyer aus dem 270 km östlich von seinem Heimatort entfernten Neu Bisteritz (heute Nova Bystrice) seiner Frau:
Liebe Retti! Bin noch am Leben und gesund befinde mich im Lager Neu Bisteritz. Wäre sehr neugierig wie es Euch zu Hause geht. Adresse kann ich Dir keine angeben, weil der Brief ein Glücksfall ist wenn er Dich erwischt. Was machen die Kinder, hoffentlich sehe ich Euch noch einmal, ich bin mit den Kameraden beisammen die auf der Rückseite angegeben sind. Bleibt recht gesund und seit alle herzlich gegrüßt. Es grüßt Dich u k Dein Adolf
Wenn Du solltest Gelegenheit finden dann schicke nur meinen cechischen Wehrpaß im Übrigen geht es mir gut nur die Sorge um Euch läßt mich nicht zur Ruhe kommen wovon lebt Ihr wenn sich sollte wieder Gelegenheit bieten werde ich nicht versäumen. Viele Grüsse D. Adolf
Im August schreibt er wieder – diesmal aus dem 60 km weiter südlich gelegenen oberösterreichischen Döllersheim:
Liebe Retti! Seit alle herzlich gegrüßt wenn Du das Schreiben erhältst. Ich bin noch gesund und geht mir gut, wie es eben allen geht, mein einziger Wunsch wäre wie es Euch geht das Essen ist sehr knapp, heute sind wir wieder marsch bereit, wohin weis kein Mensch. Hoffentlich haben wir das Glück, daß wir uns noch einmal wiedersehen, mein größtes Bangen geht um die Kinder wovon Ihr lebt wenn keine Unterstützung gezahlt wird. Ich unterlassen nichts um Dich zu benachrichtigen. Mein einziger Wunsch Euch gesund zu Hause antreffen. Mehr kann ich Dir nicht schreiben und verbleibe für immer Dein Adolf. Sorge Dich nicht um mich ich halte aus, um Euch wieder zu sehen. Seit alle nochmals gegrüßt u. geküßt von Eurem Vater.
Am 20.8.45 meldet er sich aus Mährisch-Ostrau, 290 km weiter im Nordosten von Döllersheim.
Liebe Retti! Bin gesund und geht mir gut sind am Transport ins Ungewisse. Wenn ich nur einmal wüßte wie es Euch geht. Wie geht es denn Kindern sobald ich wieder schreiben kann werde nichts unversucht lassen. Meine größte Sorge seit Ihr ich hoffe das wir uns gesund wiedersehen, ich bin mit den Kam. aus Falkenau, Asch, u Grasslitz beisammen. Ich gebe die Hoffnung an Euch nicht auf. G.u K. D. Adolf. Viele Grüße an Euch alle Drei Inge u Franzi u Mutter von Adolf. Viel Glück!
Am nächsten Tag hat er nochmals die Gelegenheit zu schreiben.
Meine liebe Retti! Im Anfang meines Schreibens grüße ich Euch alle aufs herzlichste. Bin noch gesund und geht mir so ziehmlich gut, der Hunger ist steter Begleiter. Wenn ich nur wüste wie es Euch geht hoffentlich seit Ihr noch alle gesund und zu Hause, wenn Du mir mal schreiben kannst, das wäre mein schönster Augenblick damit ich wüste wie es Euch geht. Wir sollen in Arbeit kommen dann hoffen wir geht es uns besser. Wie geht es den Kindern laßt Euchs gut gehen. Es grüßt Euch Euer Vater Adolf. Mache nur wie es Euch am besten geht, ich werde aushalten damit wir uns gesund wiedersehen. Gr. K Dein Adolf
Ich weiß nicht, wie und wann diese Briefe meine Großmutter erreicht haben. Antworten hat mein Großvater bis zu seinem Tod im Oktober 1946 nicht erhalten. Am 29.1.1946 meldet er sich aus Baku am Kaspischen Meer:
Liebe Retti! Im Anfang meines Schreibens Grüß ich Euch alle aufs herzlichste. Bin in Russischer Gefangenschaft, es geht mir gut und bin gesund, was ich auch von Euch hoffe. Wie geht es Euch zu Hause, was machen die Kinder, habt Ihr genug zu essen, bekommst Du Unterstützung oder mußt Du arbeiten, wie steht es in Franzensbad, hast Du die Sachen alle noch. Ich wäre sehr froh wenn ich wieder nach Hause komme und fände Euch alle gesund auf. Von hier ist nicht viel zu schreiben, schreibe mir nur recht viel von zu Hause, geht Inge in die Schule die ganze Zeit denke ich an Euch hoffentlich sehen wir uns noch mal wieder. Nun schließe ich für heute mein Schreiben hoffentlich geschieht es öfter mit vielen herzlichen Grüssen an Euch alle Dein Adolf. Grüsse an Franzi Inge u Mutter.
Mit Mutter und den beiden Kindern wurde meine Großmutter am 26. Juli 1946 von Altenteich nach Eger, zwei Wochen später in ein Waldlager nach Blankenburg/Harz und wiederum vier Wochen später nach Dannefeld bei Gardelegen in die Altmark gebracht.
Am 13.9. und 3.10.1946 versuchte mein Großvater nochmals über einen Onkel und einen Freund zu erfahren, wie es seiner Familie geht. Im Januar 1950 erhält diese die Nachricht: Adolf Hoyer, geb. am 30.6.1911 mit Heimatanschrift Altenteich 85 Eger ist am 30.10.1946 in Baku am Kaspischen Meer an Dysentherie gestorben. Die Grabbezeichnung trägt folgende Zeichen: Grab 3 Quartal VII. Sollten sich meine Angaben mit den Ihren decken, wie: Geburtsdatum und Heimatanschrift, so handelt es sich um Ihren lieben Gatten der in Baku im Lager 468 gestorben ist.
Der deutsche Kommandant dieses Lagers erläutert in einem Brief im Februar 1950 die Umstände des Todes:
„Sie möchten nun noch gerne Einzelheiten von Ihrem lieben Mann erfahren. Es ist leider sehr schwer über Einzelheiten zu berichten, da durch mein Lager 10tausend von Kameraden gegangen sind. Die Angaben und Einzelheiten die ich Ihnen berichten kann stützen sich auf meine Unterlagen, die ich mir aus Kriegsgefangenschaft mitgebracht habe.
Am 23.3.46 kam ich nach Baku und fand dort ein Lager vor, das die Bezeichnung 442 trug. Ich selbst führte das Lager 468. Im Lager 442 sah es mit Ärztlicher Betreuung sehr schlecht aus und viele Kameraden lagen sehr krank danieder.
Auch Ihr mann war bei den Bedauernswerten. Aufgrund der schlechten Verhältnisse, die zum größten Teil deutschen zu verdanken waren, wurde ich als Lagerkommandant eingesetzt und sollte umgehend Ordnung schaffen. Leider waren die Kranken schon so abgemagert, man kann sagen fast verhungert, daß ich ja aus Leuten die der Tod schon gezeichnet hatte auch nicht mehr viel retten konnte. Die Lagerärzte Dr. Kneist u. Nöte deren Adresse ich noch nicht weiß, haben sich alle Mühe gegeben alles zu retten, was noch zu retten ging. Soweit ich mich entsinnen kann, war Ihr Mann schon bei denen, den es besser ging. Er wurde aber im August durch einen Rückfall von neuem krank und sein Körper war schon so schwach, daß er es beim zweiten Mal nicht mehr überstand.
Wie ich schon schrieb starb Adolf an Dysenterie. Leider kann ich mich nicht mehr auf die letzte Stunde jedes einzelnen besinnen. Das aber die Kameraden in letzter Stunde Ihrer Lieben in der Heimat gedachten war immer der Fall. Jeder klammerte sich mit aller Macht daran seine Liebe in der Heimat wiederzusehen und war er noch so krank und seine Lage noch so ausssichtslos.
Adolf wurde in feierlicher Form beigesetzt, der Pfarrer Lippold gab den letzten Segen und unser Chor sang 2 Lieder. Der Friedhof am Kaspischen Meer ist gut in Ordnung, mit Steinen ummauert und Kreuz und Bezeichnung versehen.“
Mein Großvater wurde nicht vergessen, sein Bild, seine Geschichte, Krieg und Vertreibung haben das Leben seiner Frau, seiner Kinder und auch seiner Enkelin geprägt. Es ging dabei nie darum, der ersten Heimat nachzutrauern und verlorenen Besitz wiederzuerlangen. Die Umstände waren es, die sich tief in unsere Leben eingegraben haben, die Sinnlosigkeit dieses millionenfachen Sterbens, das Hungern, das Leiden in unzähligen Einzelschicksalen, die Tragik des Kriegseinsatzes und der Gefangenschaft meines Großvaters, sein Weg in den Tod von Altenteich nahe der Grenze zu Bayern nach Baku in Aserbeidschan, die Vertreibung, das Nötigste packen für einen Transport ins Ungewisse, Hungern, Überleben, Heimkommen. Immer wieder die Frage, was würde ich mitnehmen, wenn ich plötzlich gezwungen werde, aufzubrechen. Immer wieder die Frage der Gerechtigkeit im Bewusstsein ihrer Unangebrachtheit.
Im Tod verdichtet sich die Zeit, verdichten sich Leben in völliger Abwesenheit der Frage nach Gerechtigkeit. Warum so und nicht anders? Ausgefragt. Ausgelitten. Auferstanden
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Autorin: Birgit Hoyer, Mitglied der Redaktion.
Bild: Birgit Hoyer