100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs analysiert Thomas Schulte-Umberg (Wien) das Moment von „Religion“ im Krieg. Wer heute Frieden will, muss Krieg verstehen, und dazu gehört auch das Potential von Religion.
Vor einer Schlacht in Russisch-Polen vermerkte der k.u.k. Offizier Constantin Schneider am 29. August 1914 für seine Kriegserinnerungen: „Noch ein Bild von diesem kampffrohen Morgen vergesse ich nicht! An einem Baum in der Nähe einer kleinen Mühle hing ein armseliges Heiligenbild. Hier drängten sich nun die Leute zusammen und murmelten Gebete. Waren die Leute seit der ersten Schlacht gottesfürchtig geworden oder ging wirklich von dem Glauben eine geheimnisvolle Macht aus, die stärker war als der Tod? Aber um was beteten die Leute? Die Antwort würde zu einem Gemeinplatz führen, und sie sei mir daher erlassen.“[1]
Tiroler, ja, natürlich beten sie vor der Schlacht, was sonst, sind halt immer gottesfürchtige Leute.
Es waren Truppen aus Tirol, dem der Selbst- und Fremdzuschreibung nach heiligen, überaus frommen Land, vom Kaiser entgegen seinem Versprechen außerhalb der Tiroler Grenzen eingesetzt im fernen Osten. Tiroler, ja, natürlich beten sie vor der Schlacht, was sonst, sind halt immer gottesfürchtige Leute. Selbst nach drei entsetzlichen Kriegsjahren hatten sie nichts Besseres zu tun, als einen aus Mordinstrumenten gefertigten kiloschweren Rosenkranz einer Wallfahrtskirche bei Meran zu dedizieren, wie von Karl Kraus in seiner monumentalen Collage „Die letzten Tage der Menschheit“ dokumentiert. Zeugnisse eines vermutlich ernsthaften, aber leider verdrehten Glaubens, allenfalls bedauernswert. Doch so einfach ist es nicht, Tirol ist besonders, aber kein Sonderfall.
Glaube hat im Ersten Weltkrieg im Alltagsgeschehen an der Front wie in der Heimat eine gewisse Bedeutung gehabt.
Zunächst gilt es festzuhalten, dass für die meisten Menschen in Europa um 1900 Religion selbstverständlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens war. Es gab Unterschiede in der Intensität und den Formen der Frömmigkeit, bei Landleuten war in der Regel ein höherer Grad religiöser Bindung zu verzeichnen als bei Stadtmenschen, es gab die verschiedenen, in Glaube und Praxis deutlich voneinander abgegrenzten Konfessionen und Religionen. Es ist daher keine verwegene Annahme, Glaube hätte im Ersten Weltkrieg im Alltagsgeschehen an der Front wie in der Heimat eine gewisse Bedeutung gehabt. Zahlreiche Selbstzeugnisse von Soldaten wie Zivilisten belegen es.
Religion und religiöse Organisation als Säule staatlich-militärischer Macht
Weiter konnten bekanntlich Religion und religiöse Organisation eine Säule staatlich-militärischer Macht sein. Im Deutschen Kaiserreich fanden sich die beiden christlichen Konfessionen gemeinsam schon vor 1914 trotz des Geraunes vom latenten Kulturkampf gegen den römischen Katholizismus in solcher Lage. Im Zarenreich war die Vermengung von Herrschaft und orthodoxer Kirche derart eng, dass sie zielstrebig gemeinsam unisono dem Untergang entgegen steuerten.
Verblüffend ist der Fall der laizistischen französischen Republik im Krieg. Aufgrund der französischen Wehrgesetze wurden zehntausende Priester zur Armee eingezogen mit der Folge, dass jedes französische Bataillon einen eigenen praktizierenden Seelsorger haben konnte, eine Betreuungsintensität, von der in Österreich-Ungarn während des „Großen Krieges“ nur geträumt wurde.
Der Erste Weltkrieg war kein Religionskrieg, die Kennzeichnung als „Holy War“ (Philip Jenkins) hin, Aufrufe des osmanischen Sultans zum Dschihad her. Er war in erster Linie ein Krieg zwischen Staaten, deren Bürgern und wirtschaftlichen Potentialen sowie den besonders für die Verstetigung der Kriegsanstrengungen in Dienst genommenen bzw. sich zur Verfügung stellenden mentalen Dispositionen der jeweiligen Gesellschaften. In der Weltkriegsforschung wird die darin anklingende Dichotomie zwischen Zwang und Zustimmung mittlerweile nicht mehr als sich gegenseitig ausschließend gesehen.
Aus Perspektive einer Sozial- und Kulturgeschichte von Religion im Krieg stehen diesen rechtfertigende Bischöfe, ihn verherrlichende, zum Töten und Ertragen des Grauens auffordernde Priester, Bitten um göttliche Sieghilfe, Waffensegnungen (es gab sie), die in der Tat rühmliche Ausnahme des Friedenspapstes Benedikt XV., alles ‚von oben‘ gesetzte Akte, nicht im Gegensatz zur tröstenden und motivierenden Funktion insbesondere für die Kombattanten. Welches Maß an Bedeutung Religion in diesem Verständnishorizont für die Verstetigung der Kriegsanstrengungen zuzumessen ist, wird durchaus kontrovers diskutiert.
Es täte jedoch gut, einen Klassiker der Kriegstheorie in Erinnerung zu rufen. Carl von Clausewitz hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts von ausgeprägten moralischen Größen gesprochen, die für das Kontinuum der Kriegführung jederzeit und allerorten von ausschlaggebender Bedeutung seien. Wie anderswo argumentiert, kann im Rahmen einer moralischen Theorie von Krieg Religion per se eine der von Clausewitz apostrophierten Größen in Kriegen sein.[2] Mit Blick auf die kriegführenden Staaten und Gesellschaften des Ersten Weltkriegs spricht sehr viel dafür, dass es in diesem Krieg in hohem Maße so war.
Wer heute Frieden will, muss Krieg verstehen, und dazu gehört auf jeden Fall das Potential von Religion im Krieg.
Nun ist der Erste Weltkrieg doch lange her, und wer würde heutzutage in unseren Breitengraden offen von einer christlichen Sanktionierung des Opfers von Kombattanten in einem Krieg reden? Die alte Lehre vom gerechten Krieg lebt wohl noch in akademischen Kreisen und in der kirchlichen Lehre fort, sie wird aber durch eine Friedensethik zu ersetzen gesucht. Gerne wird, für die Theologie und ihre Kontrahenten recht einträglich, über das kriegerische Potential monotheistischer Religionen diskutiert. Entscheidend ist aber, dass im allgemeinen Bewusstsein durch eine weithin wahrgenommene christliche Absage an den Krieg seit den 1960er Jahren die Beförderung von und Partizipation in früheren Kriegen als Sünde gegen das Wesen des Christentums erscheinen. Ein Zustand, der nun – zum Glück – vergangen ist.
Die Konsequenz ist ein tiefsitzendes „Problem der Kriegsverdrängung“ (Hans Joas) bei Kirchen und Christen im deutschsprachigen Raum. Krieg ist besten- wie schlimmstenfalls ein zutiefst amoralisches, den eigenen Gedankenwelten und Praktiken konträres Geschehen. Das ist wohl zu begrüßen – für ein historisch informiertes Verstehen von Vergangenheit und Gegenwart allerdings wenig hilfreich. Um das zu erkennen langt schon ein etwas aufmerksamerer Blick auf Kombattanten christlicher Herkunft in Afghanistan oder der Ukraine. Wer heute Frieden will, muss Krieg verstehen, und dazu gehört auf jeden Fall das Potential von Religion im Krieg.
[1] Constantin Schneider, Die Kriegserinnerungen 1914 – 1919 (Wien u.a: Böhlau, 2003). S. 59.
[2] Vgl. Angela Kallhoff / Thomas Schulte-Umberg, “The Committed Soldier: Religion as a Necessary Supplement to a Moral Theory of Warfare”, in: Politics, Religion & Ideology 16 (2015) S. 434–448; dies., “Die Wende zum Soldaten und Fragen der Kriegsmoral”, in: DZPhil 65 (2017) S. 762–780; Beiträge zum Thema in dies. (eds.), Moralities of Warfare and Religion, Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation in Contemporary Society – J-RaT – Issue 1/2018, vol. 4 (open access).
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Autor: Thomas Schulte-Umberg ist Universitätsassistent (PostDoc) an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Sein aktuelles Forschungsgebiet ist das Verhältnis von Religion und Kriegsmoral, z.Zt. insbesondere die „Kriegserfahrungen in der katholischen Feldpastoral Österreich-Ungarns und des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg“.
Beitragsbild: Rainerregiment.at, mit freundlicher Genehmigung des Rechteinhabers SWGR – O.P.Lang.