Der Theologe und Soziologe Gregory Baum (Montreal) ist ein vielfacher „Brückenmensch“. Norbert Mette skizziert sein Leben und Wirken und befragt ihn zu Stationen seines langen und wechselvollen Lebens.
Gregory Baum hat sich als „Brückenmensch“ charakterisiert. Damit trifft er in der Tat einen zentralen Punkt seines theologischen Wirkens. Brücken hat er nämlich in mehrfacher Hinsicht gebaut: von der scholastischen Theologie, die er noch studiert hat, zu einer Theologie der kritischen Zeitgenossenschaft (politische Theologie, Befreiungstheologie); von der katholischen Kirche zu den anderen christlichen Konfessionen und zum Judentum, später auch zum Islam; zwischen Kirche und (spät)moderner Gesellschaft; zwischen Theologie und Soziologie (und Ökonomie); zwischen Katholizismus und Sozialismus; zwischen englischsprachiger und französischsprachiger Theologie und Kirche in Kanada und darüber hinaus und nicht zuletzt zwischen Theorie und Praxis.
Brückenmensch
Wer ist Gregory Baum? Geboren im Jahr 1923 in Berlin als Gerhard Baum, wuchs er in einem großbürgerlichen, protestantisch gewordenen Elternhaus mit jüdischem Hintergrund auf. Als knapp Sechzehnjähriger wurde er im Rahmen der Transporte von jüdischen Kindern nach England gebracht und von dort aus 1940 nach Kanada, wo er 1942 aus dem Internierungslager frei kam und mit Unterstützung einer Kanadierin die Fächer Mathematik und Physik studieren konnte. Die Lektüre der Confessiones von Augustinus brachte ihn dazu, dass er 1946 in die katholische Kirche eintrat und ein Jahr später, nach Abschluss seines Studiums, in den Augustinerorden. Hier erhielt er den Namen Gregory. Die Zeit von 1950 – 1959 verbrachte er schwerpunktmäßig in der Schweiz. Er studierte dort Theologie an der Universität Freiburg und promovierte 1956 mit einer Studie über die Entwicklung der päpstlichen Lehre über den Ökumenismus im 20. Jahrhundert. 1954 war er zum Priester geweiht worden und seitdem neben seinem Studium in der Seelsorge tätig. Nach Kanada 1959 zurückgekehrt, wurde er als Theologieprofessor an das St Michael´s College an der Universität von Toronto berufen. 1960 ernannte ihn Papst Johannes XXIII auf Anregung von Kardinal Bea zum Konzilsperitus. Gregory Baum arbeitete im Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen mit, in dem die Vorlagen für verschiedene Konzilsbeschlüsse (bes. Dekret über den Ökumenismus, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, Erklärung über die Religionsfreiheit) erarbeitet wurden. Bis zum Abschluss des Konzils 1965 weilte er mehrmals im Jahr in Rom und nahm an den vier Vollversammlungen des Konzils teil. Von 1969 – 1971 absolvierte er ein zusätzliches Studium der Soziologie an der New School for Social Research in New York. Aufgrund von Differenzen mit der lehramtlichen Sexualmoral legte er 1976 sein Priesteramt nieder und trat aus seinem Orden aus. Er konnte aber weiterhin am St. Michel´s College Theologie und Soziologie lehren. 1977 heiratete er Shirley, eine alte Freundin, die Lehrerin und Ordensschwester gewesen war; 2007 starb sie. 1986 wurde Gregory Baum auf eine Professur in der Faculty of Religious Studies an der McGill University in Montreal berufen. 1999 wurde er emeritiert und ist seitdem aktiv dem Centre justice et foi verbunden. Unermüdlich und – wie er betont – vergnügt sitzt er weiterhin Tag für Tag an seinem Schreibtisch.
Unermüdlich und – wie er betont – vergnügt sitzt er weiterhin Tag für Tag an seinem Schreibtisch.
Die Bibliographie von Gregory Baum umfasst zahlreiche Bücher und unzählige Aufsätze[1]; leider liegen nur die frühen Werke sowie einige Zeitschriftenbeiträge in deutscher Übersetzung vor. Baum war Mitglied im Direktionskomitee der “Internationalen Zeitschrift für Theologie Concilium“ und Gründer und Herausgeber der Zeitschrift „The Ecumenist“. Als jüngstes Buch ist Anfang dieses Jahres seine theologische Autobiographie erschienen; als Titel hat er ein Zitat aus der Geschichte der Begegnung des Propheten Elija mit der Witwe in Sarepta (1 Kön 17, 8ff) gewählt: „The oil has not run dry“ [das Öl (im Krug) nahm nicht ab].[2] Plastisch erzählt er darin, wie er die Theologiegeschichte der letzten 60 Jahre miterlebt – und nicht zuletzt – entscheidend mitgeprägt hat.
Zur Art seines Theologietreibens schreibt er in seinem neuen Buch: „Ich halte mich für einen praktischen Theologen, der, bewegt von den bedrückenden Problemen der Gegenwart, bemüht ist, diese im Licht des Evangeliums zu interpretieren und auf sie zu antworten. Um das zu tun, reflektiere ich auf die Ressourcen des christlichen Glauben, höre ich auf die Stimmen in der katholischen Gemeinschaft, setze ich mich mit den Debatten unter den Theologen auseinander und begebe mich in den Diskurs mit säkularen Denkern, männlichen und weiblichen. Wenn ich zu einer Einsicht komme, die ich für belangvoll halte, fühle ich mich bemüßigt, diese in einem Artikel oder Buch auszuarbeiten; dabei schweben mir als Adressaten nicht theologische Spezialisten vor, sondern ein weiterer Kreis von gebildeten Katholiken und ihrer protestantischen und säkularen Freunde. Ich halte mich für einen theologischen Essayisten, der beunruhigt ist über das, was in der Welt falsch läuft, und von der transformatorischen Kraft des Evangeliums überzeugt ist. Ich bin zutiefst bedrückt über die absichtlichen Ungerechtigkeiten, wie sie zum Bestandteil der herrschenden Institutionen geworden sind, und dem Leiden, das von ihnen Männern und Frauen in der ganzen Welt zugefügt wird, aber der Glaube an Gottes Verheißungen hält mich davon ab zu verzweifeln.“
Ich halte mich für einen theologischen Essayisten, der beunruhigt ist über das, was in der Welt falsch läuft, und von der transformatorischen Kraft des Evangeliums überzeugt ist.
Am 1. Dezember des vergangenen Jahres ist G. Baum – nach Ehrendoktoraten von sieben nordamerikanischen Universitäten – die theologische Ehrendoktorwürde von einer deutschen Katholisch-theologischen Fakultät verliehen worden, derjenigen der Universität in Tübingen.
Das folgende Interview, das von mir mit Gregory Baum im letzten Dezember geführt worden ist, gibt einen kleinen Einblick in seinen Lebensweg und sein theologisches Denken.
Lieber Gregory, schon in jungen Jahren musstest Du Dein geliebtes Berlin verlassen und Dich ins Exil begeben. Was hat diese tief greifende Zäsur für Dein weiteres Leben mit sich gebracht? Wie ist Dein Verhältnis zu Deutschland?
Rückblickend auf mein Leben staune ich über die unerwartete gütige Fügung, die mich damals allein in einer fremden Welt auf vielen Umwegen nach Kanada gebracht und es mir erlaubt hat, dort zu studieren, ein nachdenklicher Mensch zu werden und mich nach Gott und seinem Reich zu sehnen. Einschneidend in meinem Leben waren die Bekenntnisse des heiligen Augustinus. Obwohl ich später Kanadier wurde und mich linkspolitisch in Kanada und Quebec engagierte, bin ich weiterhin deutsch geblieben und pflegte meine Muttersprache, lernte viel von deutschen Theolog*innen und habe auf meinen Antrag hin neben meiner kanadischen Staatsbürgerschaft einen deutschen Reisepass besessen. Ich bin ein Brückenmensch: Doppelte Sympathie drängt nach Versöhnung. Ich bin im weiten Sinn ökumenisch gesinnt.
Ich bin ein Brückenmensch: Doppelte Sympathie drängt nach Versöhnung.
Als eine der prägendsten Erfahrungen in Deinem Leben bezeichnest Du die Möglichkeit zur aktiven Teilnahme am Zweiten Vatikanischen Konzil. Welche Bedeutung für Kirche und Welt misst Du diesem Konzil bei – über 50 Jahre nach seinem Abschluss?
Vor dem Konzil lehrte die katholische Kirche »extra ecclesiam nulla salus«: Häretiker, Juden und Heiden kämen mit wenigen Ausnahmen in die Hölle. Inspiriert von einer neuen Theologie lehrte das Konzil, dass Gott in Jesus die ganze Menschheit umarmt und dass sein Wort jedem Menschen Erlösung anbietet. Das Konzil spürt den Heiligen Geist in der ökumenischen Bewegung, in den christlichen Kirchen, im Judentum und sogar in den Weltreligionen und den weltlichen Weisheitstraditionen. Es war, so meine ich, ein Wendepunkt im Selbstverständnis der katholischen Kirche, der von keinem konservativen Papst zurückgedreht werden kann.
Du schreibst, dass Dein Soziologiestudium am Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts erhebliche Rückwirkungen auf Dein theologisches Denken gezeitigt hat. Inwiefern?
Da die Soziologie die Wirkung der Religion auf die Gesellschaft und auf das konkrete Leben der Menschen erforscht, erkennt sie die Doppeldeutigkeit der Religionen inkl. des Katholizismus. Innerhalb der Kirche gibt es gegensätzliche Strömungen, fortschrittliche und reaktionäre, sozialorientierte und individualistische, befreiende und angstmachende u.a.m. – Strömungen, die von der klassischen Theologie übersehen und daher nicht eingestanden werden und unreflektiert bleiben. Die klassische Theologie studiert, wie die Kirche sein soll, die Soziologie, wie sie ist.
Die klassische Theologie studiert, wie die Kirche sein soll, die Soziologie, wie sie ist.
1976 bist Du aus dem Orden ausgetreten und hast Dein Priesteramt niedergelegt. Soweit ich feststellen kann, ist dadurch Deine Beziehung zur Theologie und zur Kirche nicht grundsätzlich getrübt worden. Ist das richtig?
Ja, Du hast Recht. Ich bin ein leidenschaftlicher praktischer Theologe geblieben, überzeugt von der umformenden Kraft des Evangeliums. Die praktische Theologie sucht Antworten auf die existentiellen Ängste der Gläubigen, macht Vorschläge zur Erneuerung der Kirchen und Gemeinden und wendet sich mit Kritik und Hoffnung der Gesellschaft mit ihren Ungerechtigkeitsstrukturen zu. Trotz meiner damaligen öffentlichen Erklärung, mit der päpstlichen Sexualethik nicht einverstanden zu sein, haben die kanadischen Bischöfe nicht versucht, mich an den Rand der Kirche zu drängen. Ich bin weiterhin in der katholischen Kirche aktiv geblieben.
Einen nochmaligen Einschnitt in Deinem Leben und dem Deiner Frau bedeutete der Umzug vom englischsprachigen ins französischsprachige Kanada, von Toronto nach Montreal 1986. Wie hat sich das auf Dein Theologie-Treiben ausgewirkt?
Quebec ist wie Katalonien und Schottland ein kleines Volk mit seiner eigenen Geschichte, Sprache und Kultur. Es ist so fest politisch in einem großen Staat integriert, dass es sich nicht frei entwickeln kann und daher fürchtet, es könne eines Tages verschwinden. In einer kulturellen Revolution der 1960er Jahre hat sich das katholische Quebec neu definiert, größere Unabhängigkeit verlangt und sich langsam von der Kirche entfernt. Doch die gläubigen Katholiken, heute eine Minorität, zeigen sich in der Theologie und in pastoralen Experimenten kühn und erfinderisch. Nach unserem Umzug nach Montreal wurde ich von der französischsprechenden Kirche und Gesellschaft adoptiert, was für mich mit einem intellektuellen Abenteuer verbunden war. Dies versuche ich in meinen Schriften den englischsprechenden Kanadiern und US-Amerikanern mitzuteilen.
Ich wurde von der französischsprechenden Kirche und Gesellschaft adoptiert, was für mich mit einem intellektuellen Abenteuer verbunden war.
Du bist, wie erwähnt, stark von den Schriften des heiligen Augustinus geprägt worden, auch von seinem „Gottesstaat“. Wie schätzt Du die derzeitige Weltlage ein?
Ich sehe eine gewisse Parallele zwischen der Idee des Augustinus, dass die beiden Staaten, der stolze und der demütige, nebeneinander und sogar ineinander bestehen, und der Unterscheidung von Max Weber zwischen den herrschenden Strukturen der Gesellschaft und den charismatisch geführten Oppositionsbewegungen. In der dunklen Welt, in der wir heute leben, begrenzt der unregulierte Weltmarkt die staatliche Souveränität, unterminiert so den Sozialstaat und verhindert, dass demokratische Regierungen Gesetze zum Schutz der Natur erlassen. In dieser dunklen Welt leisten politisch handelnde Bürger, die Gottes Erde verehren und die weite Menschheit lieben, in vielerlei Bewegungen Widerstand. Diese Alternativbewegungen, so habe ich einmal vorgeschlagen, sind heute Vertreter der Civitas Dei.
Spätestens wenn jemand, so denke ich, wie Du über neunzig Jahre alt und durch Krankheit in seiner Mobilität eingeschränkt ist, steht doch wohl auch der eigene Tod vor Augen. Wie bewegt Dich das?
An die Auferstehung Jesu klammere ich mich, wenn ich an Auschwitz denke.
Ich überlasse meine Zukunft dem gnädigen Gott. Mit Blick auf die Reichen sagte Jesus mehrmals: „Sie haben ihren Lohn schon empfangen.“ Vielleicht gehöre ich zu den Reichen. Mein Leben war ja voll von Freude – mit Schmerzen, die mich seelisch bereichert haben. Ich habe mich seit Jahrzehnten von Gott verwöhnt gefühlt, wie die Witwe von Sarepta. Trotz meines Gebrechens als ganz alter Mann kann ich noch gedanklich arbeiten und mich weiterhin des Lebens freuen. An die Auferstehung Jesu klammere ich mich, wenn ich an Auschwitz denke und an die Hunderte von Millionen von Brüdern und Schwestern, die wir quälen, verhungern lassen, in Lagern umbringen, in Kriegen töten und mit Bombenangriffen aus der Welt schaffen. Der Auferstandene wird sie zu sich nehmen. Es scheint mir, dass im hohen Alter gut versorgt in seinem Bett zu sterben ein Privileg ist.
[1] Eine Auswahl der Monographien:
Religion and Alienation, Ottawa: Novalis 22007 (1975).
Compassion and Solidarity, Toronto: Anansi Press 1988.
The Church for Others: Protestant Theology in Communist East Germany, Grand Rapids: Eerdsman 1996.
Amazing Church, Toronto: Novalis 2005.
Signs of the Times, Toronto: Novalis 2006.
The Theology of Tariq Ramadan: A Catholic Perspective. Toronto: Novalis 2009.
Fernand Dumont: A Sociologist Turns th Theology, Montreal and Kongston: McGill-Queen´s University Press 2015.
Sekundärliteratur:
Monika Rack, Gregory Baum: Kritisch. Parteilich. Kontextuell. Ein theologischer Lebensweg, Münster: LIT 2000.
[2] Montreal and Kingston: McGill-Queen´s University Press 2017.
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Norbert Mette ist Professor i. R. für Religionspädagogik und Praktische Theologie der TU Dortmund.
Bild: Ausschnitt Buchcover