Einer positiv verstandenen Neugier geht Angela Reinders nach und macht sie in der Suche nach Kriterien für eine neugierige Künstliche Intelligenz aus.
Die Neugier ist biblisch zumindest anrüchig. In der Erzählung vom Sündenfall (Gen 3) überschreitet der Mensch in seiner Neugier, animiert von der Schlange als Gegenpol zu Gott, die von Gott gewiesenen Grenzen. Neugier steht biblisch in Verbindung zu Untätigkeit, entweder bringt sie sie hervor oder sie folgt daraus (ein Beispiel dafür liefert 1 Tim 5,13f.).
Neugier als Gegenteil von Weisheit
Bei der Frage der in pharisäischer Glaubenstradition geschulten Menschen im Lukasevangelium (17,20-25), wann denn das Reich Gottes beginnt, bewertet Papst Franziskus den Geist der Neugier als dem Geist der Weisheit „diametral entgegengesetzt […]. Das geschieht, wenn wir uns der Pläne Gottes bemächtigen wollen, der Zukunft, der Dinge, wenn wir alles wissen wollen, alles selbst in die Hand nehmen wollen“.[1]
Geistesgeschichtlich hat zu dieser negativen Begriffskarriere in der Theologie der Kirchenlehrer Augustinus beigetragen und die Neugierde als Haltung ablehnend beschrieben: Neugier sucht sich als Wissensdurst zu tarnen, während du, Gott, alles am besten weißt (Confessiones 2.6.13)[2]. Was genau Augustinus hier bei der Neugierde ablehnt, hat der amerikanische Theologe Paul J. Griffiths herausgearbeitet. 1955 in England geboren und anglikanisch getauft, begann er 1983 seine akademische theologische Laufbahn in Amerika, wo er 1996 zur katholischen Kirche konviertierte, zuletzt (2007 bis zu seiner Emeritierung 2018) war er am Lehrstuhl für katholische Theologie der Duke Divinity School in Durham, Northcarolina, tätig.[3] Er stellt die Neugier, wie Augustinus sie zurückweist, in einen Zusammenhang mit Konzepten des Eigentums: Neugier als weltlicher „Appetit“ sucht Wissen, um es anschließend zu besitzen. Ihr geht es immer um den Neuigkeitswert. Hat die Neugier herausgefunden, was sie gesucht hat, erlischt sie. Es kann ihr nicht mehr um das Neue gehen. Der neugierig forschende Mensch hat vielmehr Interesse daran, das Unbekannte zu erforschen und das Neue zu entdecken, um dann als wissend bekannt zu werden und Besitzanspruch auf die neue Entdeckung zu erheben. Nur in dieser Logik funktionieren genau abgesteckte „Fachgebiete“, ein Raum, in dem es Fachfrauen und -männer gibt, aber eben auch auf diesen Raum bezogene Wissenshoheit.
Neugier als Lerneifer
Dem Konzept der Neugier (curiosity) stellt Griffiths, Augustinus folgend, den Lerneifer (studiousness) gegenüber. Dem Lerneifer geht es nicht darum, Wissen besitzen zu wollen.
Es gibt einen ontologischen Unterschied zwischen beiden Zugängen. Die Neugier sucht sich ihr Forschungsobjekt aus und betrachtet es, als läge es sozusagen „nackt“ vor dem Auge der Forschung, um begutachtet, erforscht und dann als Wissen zu Eigen gemacht zu werden. Neugier, die ausschließlich auf ihr Objekt und seine Sinnesdaten zielt, wird im theologischen und philosophischen Sinn seinen vollkommenen Wert nie ganz erfassen (vgl. Griffiths, S. 36f.). Der Lerneifer im hier beschriebenen Sinn sucht unter der Prämisse, dass die Welt eine Gabe ist, sei es im philosophischen Sinn, als „absolute Gegebenheit“, wie z.B. von Husserl beschrieben, sei es im theologischen, als vom Schöpfergott gegeben.
Positive Neugier als ikonische Haltung.
Griffiths unterscheidet zwischen dem „Idol“ und der „Ikone“ (Griffiths, S. 75f.). Ein Idol ist ein Abbild dessen, was ich bewundere. Die Neugier, die ihr Wissen schließlich zu besitzen sucht, „idolisiert“ das Objekt des Wissens. Eine Ikone, so beschreibt es die Religionswissenschaft, verweist über sich hinaus auf etwas Größeres, das es durchscheinen lässt. Ikonischer Lerneifer sucht die Teilhabe an der Präsenz dieses Größeren im Gegenüber. So wird Neugier eine kontemplative Kraft, vor allem, wenn ich in dieser „ikonischen“ Haltung frage und forsche.
So verstandene und gelebte Neugier trägt dazu bei, eine vertiefte Begegnung zwischen mir und anderen Menschen zu ermöglichen. Es ist die Haltung, mit der Jesus dem Zachäus begegnet (Lk 19,1-10). In der Haltung der positiven Neugier, die nicht besitzen will, sehe ich von mir ab. Ich setze nicht bei mir an, sondern bei den anderen, mit dem Interesse daran: Wie ist der andere Mensch wirklich? So betrachtet, kann Neugier eine Haltung sein, aus der heraus ein Weg zur Versöhnung und Heilung führt, eine schöpferische Kraft im Sinne des Evangeliums.
Künstliche Intelligenz lernt von menschlicher Neugier
„Die Neugier ist die mächtigste Antriebskraft im Universum, weil sie die beiden größten Bremskräfte im Universum überwinden kann: die Vernunft und die Angst“, lautet ein Zitat von Walter Moers aus „The City of Dreaming Books“.
In der digitalen Forschung scheinen solch kreative Grenzüberschreitungen schon angekommen. Dort schlagen Forscher*innen im Umfeld von Jürgen Schmidhuber im Rahmen der Anwendung künstlicher Intelligenz das Konzept der „artificial curiosity“ vor.[4]
Dazu bleiben sie nicht dabei stehen, dass Sensoren und Aktoren die Umgebung wahrnehmen und in einem gewissen Maß beeinflussen können. Die große und offene Herausforderung in dem Zusammenhang ist, diese Prozesse durch einen Algorithmus so in ein Zusammenspiel zu bringen, dass künstlich intelligente Systeme selbst entscheiden können, wonach sie suchen und was sie als nächstes ausprobieren. Menschen, so das Forschungsteam, können das relativ leicht. Sie werden intrinsisch von ihrer Neugier angetrieben. „Die Idee hinter künstlicher Neugier ist der Transfer dieses inneren menschlichen Antriebs in vertieftes Lernen, um autonome Forschung praktisch zu ermöglichen“ (eigene Übersetzung).
Lernen mit ethischen Implikationen
Doch „was hält die KI davon ab, sich den Menschen als Forschungsobjekt vorzunehmen? Ob und was erforscht wird, bedarf im Allgemeinen und insbesondere auch bei der Erforschung des Menschen immer eines sozialen Konsenses […].“ Daran erinnert die Informatikerin Katharina Zweig, die an der TU Kaiserslautern den deutschlandweit einmaligen Studiengang „Sozioinformatik“ begründet hat. Sie plädiert dafür, dass „[…] eine menschenzentrierte Neugierfunktion der KI auch gesellschaftliche Ziele wie die Einhaltung der ‚Menschenwürde‘, größtmögliche ‚Nachhaltigkeit‘ und ‚gesellschaftliche Teilhabe‘ beinhalten – diese Konzepte also operationalisieren und damit messbar machen“[5] soll.
Ob ein Roboter das kann, davon hängt ab, welche ethischen Implikationen in die Schaffung eines rechtlichen Rahmens für künstliche Intelligenz einfließt. „Die starke künstliche Intelligenz muss noch nicht einmal denknotwendig imstande sein, ihresgleichen als ebenbürtig zu erfassen. Menschen könnten ihr gar als inferiore Lebensform erscheinen, die für sie keine moralischen Grenzen auslöst.“[6]
Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, den rechtlichen Rahmen für künstliche Intelligenz zu schaffen. Dabei auch zu berücksichtigen, in welcher Haltung Prozesse künstlicher Neugier programmiert sind: Sucht sie Ergebnisse, um darin die Welt als Ikone zu betrachten und die größeren Zusammenhänge zu erfassen, um damit weiterzuarbeiten, sie zur Verfügung anderer zu teilen, oder um sie für sich sichern zu wollen und ihnen deshalb wie einem Idol nachzujagen?
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Angela Reinders, geb. 1965 in Aachen, Studium der katholischen Theologie in Bonn und Münster, dort 2006 Promotion mit dem Dissertationsthema „Zugänge und Analysen der religiösen Dimension des Cyberspace“. Ausbildung zur Journalistin und Pastoralreferentin. Seit 1. November 2022 Direktorin der Bischöflichen Akademie im Bistum Aachen, Sprecherin der Fokusgruppe Ethik im digitalHUB Aachen e.V.
Titelbild: Kevin Ku / unsplash.com
Porträtbild Angela Reinders: Anna Wawra, Aachen
[1] Papst Franziskus, Der Geist der Weisheit siegt über die weltliche Neugier, Frühmesse im vatikanischen Gästehaus „Domus Sanctae Martae“, Donnerstag, 14. November 2013, zitiert nach: L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 47, 22. November 2013.
[2] „curiositas affectare videtur studium scientiae, cum tu omnia summe noveris“ im Original ((Confessiones 2.6.13).
[3] Griffiths, Paul J., The Vice of Curiosity. An Essay on intellectual Appetite, Eugene/Oregon 2006, 1-21, vgl. zu seiner Person: https://web.archive.org/web/20190527005754/https://pauljgriffiths.net/ <Zugriff 28.12.2022>.
[4] Graziano, Vincent/Glasmachers, Tobias/Schaul, Tom/Pape, Leo/Cuccu, Giuseppe/Leitner, Jürgen/Schmidhuber, Jürgen, Artificial Curiosity for Autonomous Space Exploration, in: Acta Futura 4 (2011), 41-51, DOI 10.2420/AF04.2011.41, https://www.esa.int/gsp/ACT/doc/ACTAFUTURA/AF04/ACT-BOK-AF04.pdf <Zugriff 28.12.2022>.
[5] Zweig, Katharina, Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl. Wo künstliche Intelligenz sich irrt, warum uns das betrifft und was wir dagegen tun können, München 2019, 198.
[6] Gaede, Karsten, Künstliche Intelligenz – Rechte und Strafen für Roboter? Plädoyer für eine Regulierung künstlicher Intelligenz jenseits ihrer reinen Anwendung [= Hilgendorf, Eric/Beck, Susanne (Hg.), Robotik und Recht, 18), Baden-Baden 2019, 44.