Anne-Kathrin Ostrop hat lange Jahre das Vermittlungskonzept der Szenischen Interpretation von Musik- und Theater an der Komischen Oper Berlin geprägt und sich damit für kulturelle Teilhabe als Element gesellschaftlichen Zusammenhalts eingesetzt. Eine Reflexion in 3 Akten.
Ouvertüre
Die Komische Oper Berlin ist mit ihren 1190 Sitzplätzen das kleinste der drei Berliner Opernhäuser und steht in unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor am Prachtboulevard Unter den Linden.1 Sie wurde nach Kriegsende und nach schnellem Wiederaufbau des stark beschädigten Metropoltheaters dort am 23. Dezember 1947 von dem österreichischen Regisseur Walter Felsenstein2 gegründet. Dieser stellte sich mit durchaus sozialistischem Anspruch ein Opernhaus für alle Menschen vor.
Auf der Suche nach einem Namen wurde er in der Musikgeschichte fündig, in der in Frankreich nach der Französischen Revolution sich auch die Kunstform Oper änderte. Sie wurde nicht mehr nur von Adel und Bourgeoisie konsumiert – und als Distinktionsmittel genutzt –, sondern die Kunstform änderte sich grundlegend: alle Texte wurden in der Sprache des Volkes gesungen und Sprechtexte zwischen einzelne Musikstücke integriert. Auch die szenische Darstellung wurde volksnäher. Diese Form der Oper nannte sich „Opéra Comique“. Walter Felsenstein übersetzte diesen Begriff mit „Komische Oper“ und verstand sie als ein Opernhaus für alle Menschen. Auch hier wurden alle Werke in deutscher Sprache gesungen und die szenische Darstellung bekam eine zentrale Bedeutung. „Musik und Szene bedingen einander“, ist eine der wichtigsten Ideen Walter Felsensteins, der somit als der Begründer des modernen Musik-Theaters gilt.
Akt 1-3: Kunst – das Leben – und das Dazwischen
Warum denn dann noch Musiktheatervermittlung3 an gerade diesem Opernhaus? Gehen wir die Fragestellung von den drei Protagonisten an: die Kunst – das Leben – und das Dazwischen.
Kunstform: Oper
Starten wir mit der Kunst, in unserem Falle der Oper. Sie ist eine komplexe, ursprünglich abendländische Kunstform, in der verschiedene Ausdrucksmittel – unter anderem Musik und Szene – Geschichten erzählen, in denen die Kernfragen des Menschseins emotional wie intellektuell kunstvoll verdichtet sowie symbolhaft verhandelt werden. Das Opernhaus als Institution hat die primäre Aufgabe, diese Kunstform auf höchstmöglichem professionellem Niveau für das Publikum auf der Bühne sichtbar und hörbar werden zu lassen. Dabei greift sie im Inszenierungsprozess auf wissenschaftliche Erkenntnisse aller Art zurück: Musik- wie Theaterwissenschaft, Kultur- und Religionsgeschichte, Philosophie und Psychoanalyse etc. Soweit – so verkürzt – so simpel.
Selbstverständlich hat sich die Kunstform über die Jahrhunderte gewandelt, sie wurde performativer, das Material wird postmodern zunehmend wie ein Steinbruch genutzt, es gibt Mischformen von Stilen, Ausdrucksmitteln und Deutungen, es wird gestrichen, fusioniert und komprimiert – auf der Bühne wie auch in der Institution. Abgesehen von dieser Betrachtung hat die Oper stets eine starke gesellschaftliche Funktion. Die längste Zeit ihrer Existenz war sie eine exklusive – und damit exkludierende – Veranstaltung, die dazu diente, das exklusive Selbstverständnis einer sozialen Schicht durch den Ausschluss anderer, bildungsfernerer – und jüngerer – Schichten zu manifestieren.4
Leben
Schaut man sich nun aber das Leben der Menschen – und damit den zweiten oben erwähnten Protagonisten – in den Städten und Gemeinden an und nimmt dazu die Erkenntnisse der Soziolog:innen und Demograph:innen zu Hilfe, dann zeichnen sich in Deutschland starke gesellschaftliche Veränderungen ab, die aktuell von Beharrungskräften in allen Bereichen versucht werden, gegen alle vernünftigen, wissenschaftsbasierten und menschenfreundlichen Erkenntnissen umzukehren.5 Deutschland wird bunter. Immer mehr Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen leben und arbeiten in Deutschland. Feststehende Gruppenzugehörigkeiten mit ihren tradierten Kenntnissen, Haltungen und Lebensgestaltungen lösen sich auf, der Gedanke von Transkulturalität setzt sich durch.
Nicht die Exklusion ist gefragt, sondern die Inklusion und die Anerkennung der Verschiedenheit der Menschen und ihrer Lebensentwürfe. Der Konstruktivismus als Erkenntnistheorie besagt, dass jeder Mensch aufgrund seiner Lebenserfahrung seine eigene Realität kreiert. Gleichzeitig wird die Vermittlung künstlerischer Fächer im schulischen Unterricht immer geringer. Nur noch 20% der Berliner Grundschüler:innen haben Musikunterricht bei einer/einem ausgebildeten Musiklehrer:in (und da Oper wegen ihrer Komplexität nicht leicht zu vermitteln ist, fällt diese meist als erstes aus dem Curriculum heraus). Die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft, die Kinder, bekommen also nicht mehr flächendeckend Kontakt mit dieser Kunstform. Die negativen Folgen für die Gesellschaft, in denen die Kulturvermittlung aus dem Bildungskanon quasi gestrichen wurde, werden wir in den Opernhäusern in ca. 15 Jahren zu spüren bekommen.6 Dabei wäre der Kulturort Schule7 der prädestinierte Ort, um das respektvolle Verständnis der Menschen, die heute miteinander leben, ihren Vorfahren und Nachkommen gegenüber, zu entwickeln.
Dazwischen
Kommen wir zum dritten Protagonisten – dem „Dazwischen“. Genau an dieser Stelle betritt die Musiktheatervermittlung an Opernhäusern die Bühne. Denn die Musiktheatervermittlung, wie ich sie verstehe nach dem Methodenkonzept der Szenischen Interpretation von Musik und Theater [ISIM], versucht in Workshops einen Erfahrungsraum für Menschen jeden Alters, jeder Herkunft und jeden Geschlechts, jeder Vorkenntnis und Erfahrung mit der Kunstform Oper zu schaffen, indem sie auf der Basis ihrer eigenen Lebenserfahrung eine Oper, eine Musik, einen Text, eine Szene szenisch interpretieren und ihre Erfahrungen danach ins Wort heben. Bei dieser Methode geht es also NICHT um die Vermittlung einer Inszenierung oder gar um die Vermittlung der Institution Opernhaus und auch nicht darum, herauszufinden, „was der Meister (also Komponist:in, Librettist:in oder Regisseur:in) uns sagen will“ und erst recht nicht um die Schaffung eines schnellen, coolen Erlebnisses.
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Anne-Katrin Ostrop war als Gründerin und Leiterin der Musiktheaterpädagogik über 20 Jahre an der Komischen Oper Berlin und hat in dieser Zeit das Methodenkonzept der Szenischen Interpretation von Musik und Theater auf die Arbeit im Opernhaus übertragen. 2004 war sie Mitgründerin des Instituts für Szenische Interpretation von Musik und Theater (ISIM), das sich mit der Erforschung, Fortbildung und Weiterverbreitung der Szenischen Interpretation in Opernhaus, Schule und Universität beschäftigt. Sie gründete den Universitätslehrgang Musiktheatervermittlung am Mozarteum in Salzburg und hat das Kinder- und Jugendprogramm im Jubiläumsjahr 100 Jahre Salzburger Festspiele kuratiert.
Bild: Aurelio Schrey
- Seit der Spielzeit 2023/24 befindet sich die Komische Oper Berlin sanierungsbedingt für mehrere Jahre im Schillertheater in Berlin-Charlottenburg. ↩
- Hintze, Werner / Risi, Clemens / Sollich, Robert: Realistisches Musiktheater. Walter Felsenstein: Geschichte, Erbe, Gegenpositionen. Verlag Theater der Zeit, Leipzig 2008. ↩
- Petri-Preis, Axel / Voit, Johannes (Hg.): Handbuch Musikvermittlung. Studium, Lehre, Berufspraxis. transcript Verlag, Bielefeld 2023. ↩
- Ostrop, Anne-Kathrin: Musiktheatervermittlung in der europäischen Geschichte und Gegenwart. In: Christiane Plank-Baldauf (Hg.): Praxishandbuch Musiktheater für junges Publikum. Metzler Bärenreiter, Kassel 2019. ↩
- Brosda, Carsten: Die Kunst der Demokratie. Die Bedeutung der Kultur für eine offene Gesellschaft. Hoffmann und Campe, Hamburg 2020. ↩
- Heiner Gembris „Entwicklungsperspektiven zwischen Publikumsschwund und Publikumsentwicklung“, in: Martin Tröndle (Hg.): Das Konzert, transcript Verlag, Bielefeld 2009. ↩
- Rat für Kulturelle Bildung: Auf den Punkt I/III Kulturort Schule. Bildungspolitische Handreichung. Eigenverlag, Essen 2020. ↩