Eingesperrt zu sein in den eigenen vier Wänden – für viele Menschen war das eine neue Erfahrung. Was macht sie mit uns? Und wie kann man mit ihr umgehen? Rudolf B. Hein geht erste Schritte auf dem Weg einer „Oikonomik des Hauses“.
Okay, Sie haben es satt, noch irgendetwas über DAS Thema mit dem „C“ zu hören oder zu lesen, gerade jetzt, wo doch die ersten zaghaften Lockerungen kommen. Herzlich gerne. Nur zu, klicken Sie ruhig weiter zu Ihrem Lieblings-Katzenvideo, wühlen Sie sich erneut (zum wievielten Male eigentlich?) durch das Angebot Ihres professionellen oder hausgemachten Streamingdienstes und versuchen Sie, die Situation so gut es geht zu überspielen.
Doch ganz gleich, was Sie unternommen haben, ganz gleich, welche persönlichen Strategien Sie verfolgen, diese angespannte Zeit auszublenden, durchzustehen, zu bewältigen, einer Konstante konnten Sie in den zurückliegenden Wochen und Monaten nicht wirklich entrinnen: dem Haus – den eigenen vier Wänden, dem Dach überm Kopf.
Quelle: https:///wiki/File:Katskhi_Pillar2.jpg
„Keine Sekunde in Sicherheit wiegen“
Wir wurden in diesen wenigen Wochen mit staatlicher Gewalt auf ein basales Sicherungs- und Organisationssystem zurückgeworfen, das sich in einer akuten globalen Krise nahezu universal als stabiler Rettungsanker erwiesen hat, das soziale System der Wohngemeinschaft, des Haushaltes oder auch kurz: des Hauses. Die Grenze zwischen dem Innen der Wohnräume und dem Außen des öffentlichen Raumes markierte hierbei die Bruchkante zwischen Leben und Tod, zwischen Sicherheit und Gefährdung, zwischen Afternoon Tea und Pandemie. Damit ich nicht falsch verstanden werde: nein, die zur Eigengestaltung aufgegebenen, gemieteten, gekauften, noch nicht abbezahlten vier Wände sind weder eschatologischer Sehnsuchtsort noch „Platz des himmlischen Friedens“.
Vielleicht sind sie genau deshalb gerade jetzt eines näheren Blickes würdig.
Das Haus ist so vieles zugleich: Projektionsfläche für Identität, Sehnsuchtsort, Arena für Kampf und Gewalt
Lassen Sie mich dies mit einigen wenigen verbalen Pinselstrichen rund um das Haus untermalen. Unsere Wohnung ist zugleich: Bühne der Identitätsfindung, atmosphärisch prägender Sehnsuchtsort für das, was als Heimat erfahren wird („Zuhause“), kuscheliger Rückzugsort in rauen Zeiten („Hygge“), aber auch Gewalt- und Kampfarena, von allen Seiten bedrängtes Homeoffice, Kinder-Garten, Kristallisationspunkt von Geschichte und Geschichten und nun: Sicherheitszone des Überlebens, Hort des Toilettenpapiers.
Wer nun die Klorollen-Krise der zurückliegenden Wochen aus diesem hausethischen Erfahrungshorizont heraus betrachtet, wundert sich eben nicht mehr über das merkwürdige Herden- und Hordenverhalten im Drogeriemarkt. Denn letztlich steht hier die Eigenabsicherung DES zentralen, wirklich intimen Rückzugsortes auf dem Spiel, jenes Raumes, den „selbst der Kaiser zu Fuß betritt“. Der Gedanke, gerade hier nicht genügend Vorsorge getroffen zu haben, gerade hier die Kontrolle verlieren zu können, dürfte Ur-Ängste auslösen, die sich Tag für Tag auf’s Neue in den Sanitärregalen der Supermärkte austoben: Die Toilettenrolle, pars pro toto für die Integrität des gesamten Hauses, für jenen beschützenden und beschützten-Raum.
„Der Friede sei mit dir“ = „bleib gesund“
Höchste Zeit also, uns endlich Gedanken einmal über das zu machen, was wir bislang ins Wahrnehmungs-Nirwana verbannt hatten, weil es uns so banal und alltäglich erschien. Wohnen ist wert-voll, gerade jetzt – das zeigt und nicht nur der Mietspiegel. So betrachtet ist das Haus nicht irgendeine Schachtel, in die wir von einer überbesorgten Regierung hineingesperrt wurden, sondern ein von uns selbst immer schon sorgsam behüteter Bereich, der uns nun die Hoffnung auf das Gesundbleiben absichert. Es tönt ein neuer Gruß durch die Wohnungen und Häuser hindurch zu den anderen Quarantäne-Leidensgenoss*innen: „Bleib gesund“. Der alttestamentliche Friedensgruß shalom, der immer auch in die Häuser hineingetragen wurde und den Wunsch nach umfassendem Glück repräsentierte, er wird nun neu interpretiert auf eines der größten menschlichen Güter hin, die Gesundheit.
Gesundheit und Frieden : ein quid-pro-quo?
Es fällt nicht schwer, hier eine Verbindungslinie zu ziehen: Wer sich Gesundheit in den Häusern wünscht, muss (und wird!) sich auch um den Frieden sorgen. Beide Güter sind uns als Aufgabe zur Verwirklichung gestellt, um beides hat man sich aktiv zu mühen. Schnell kann das eine wie das andere verloren gehen, durch Unachtsamkeit gefährdet oder gar mutwillig zerstört werden.
Das stellt besonders diejenigen vor ungeahnte Herausforderungen, die in diesen Tagen eine erstaunliche Entdeckung gemacht haben: Ich wohne hier nicht alleine. Da gibt es Mitmenschen oder Mitwesen, denen ich vielleicht selbst auch Zumutung und Herausforderung bin.
Habitus und habitare
Das Wohnen, nach Auffassung der Phänomenologie die Erscheinungsform des menschlichen In-der-Welt-Seins, ist also gerade jetzt nicht ohne seine Tücken und Fragestellungen. Im Lateinischen steht hierfür die Vokabel habitare, die uns sehr schnell hinführt zum Habitus, zu einer Haltung, das in einem Verhalten resultiert, einer Gewohn-heit, die ich mir dort erworben habe, wo ich wohne und die wiederum mein Wohnen betrifft. Sie ist die Basis für das, was wir Tugend nennen und zwar immer dann, wenn wir unsere Gewohnheiten aktiv gestalten auf ein gemeinsames Gutes Leben hin. Auch das erfordert Aufwand, Training, Trial-and-Error. Von hier aus betrachtet ist das Haus ein wesentlicher Bewährungsraum für die Tugenden, jene guten Gewohnheiten, die wir kultivieren können, die uns als Kulturwesen charakterisieren. Vielleicht ist es gerade hier und jetzt an der Zeit, dazu eine Versuchsreihe am eigenen Selbst zu starten und beispielsweise die Fürsorge, eine der wichtigsten Tugenden im Haus, neu zu entdecken. Um die Vorsorge hatten wir uns ja bereits letztens beim Trockenhefekauf gekümmert – vom Toilettenpapier ganz zu schweigen.
Masken nähen, Telefonate führen, Alltagshelden beklatschen, Kinder bespaßen, Einkäufe für andere mit erledigen – es gibt unzählige Ausdrucksformen dieser Tugendhaltung der Fürsorglichkeit (oder auch Mitmenschlichkeit), die wir nicht nur in den (sozialen) Medien, sondern auch in unserem eigenen Umfeld dokumentiert finden, ja vielleicht auch selbst kultivieren und ausgestalten.
Sie finden: Das ist zu blauäugig? An der rauen Quarantäne-Wirklichkeit im und um das Haus gnadenlos vorbeigeschrammt?
Dann haben Sie sicherlich einen guten Punkt getroffen.
Der Feind in meinem Haus
Denn gerade jetzt mag die Wohnung zwar Bewährungsraum für Tugenden sein, aber sie ist alles andere als eine emotionale Wellnessoase gegenseitiger Achtsamkeit und Nächstenliebe. Der heilige Augustinus hebt dies in seinem Gottesstaat sehr gut ins Wort, indem er die Hausgemeinschaft skizziert als eine, die von Kränkungen, Verdacht und Feindseligkeiten nie gefeit sein kann. Dabei macht er sich ernsthaft Sorgen um den Frieden im Haus und zitiert Cicero:
‚Denn dem offenen Feind kann man mit einiger Vorsicht leicht ausweichen; dagegen jenes geheime, im Innern und im eigenen Hause schleichende Übel ist nicht nur tatsächlich vorhanden, sondern überfällt einen auch noch, ehe man sich dessen versieht und es auskundschaften kann.‘ Darum vernimmt man auch mit großer Betrübnis des Herzens jenen göttlichen Ausspruch: ‚Und des Menschen Feinde sind seine Hausgenossen‘; (Augustinus, De Civit Dei XIX,5)
Merkwürdig ernüchternde Worte aus dem Mund des großen theologischen Lehrers. Doch trotz der kalten Dusche bleibt er dabei: Das Glück kann nur in Gemeinschaft gelingen, es strahlt in die konzentrischen Kreise unserer Lebensumfelder hinein, vom Haus auf die Stadt, von der Stadt auf das Land, von dort auf den gesamten Erdkreis. Friede, Glück, Gemeinschaft und Wohlergehen sind ohne ihren Ausgangspunkt, das Selbst und das Haus (als soziale Einheit) nicht zu denken und auch nicht zu verwirklichen.
Glücksboten?
Damit ist auch die Bewegung der Jünger nachgezeichnet, die Jesus voraus in die Häuser sendet, um genau in diesen Nukleus hinein den Frieden zu bringen (Lk 10,5). Doch sind sie keine Lieferando-Glücksboten. Sie liefern keine göttliche Zauberformel, die aus den Minenfeldern häuslicher Gewalt wieder eine flauschig-wohlige Happiness-Zone werden lässt. Weit gefehlt. Die Jünger tragen mit dem alttestamtlichen shalom einen Auftrag in die Häuser, immer auch selbst aktiv zu werden, sich den Spaltungen zu widersetzen (Lk 12,49-53) und am Ende – wie Paulus es formuliert – die erstrebte Friedfertigkeit im Sinne von innerer Freude und Gerechtigkeit (Tugendwort!) auszubuchstabieren (Röm 14,17).
Ein solcher Friede bleibt also Kulturleistung, die persönlichen Einsatz erfordert, welcher sich von der eigenen Haltung, vom habitus her, speist.
Augustinus selbst spricht in diesem Zusammenhang von einer ordinata concordia und spielt damit auf einen Reflex an, den die meisten von uns in diesen „kasernierten Zeiten“ verspürt haben: Den Blick auf die häusliche Ordnung, den wir im Sortieren und Wegräumen ausagitieren. Ihm muss ein zweiter Blick nach innen folgen. Wer mit sich selbst in Unfrieden lebt, dem wird auch in seinem unmittelbaren Lebensumfeld das einträchtige Miteinander schwerfallen. Erst dann ist der Boden bereitet für den liebevollen Blick auf den Nächsten, der sich im fürsorgenden Miteinander äußert.
Zugegeben, das klingt weltfremd, abstrakt und vielleicht auch ein wenig arrogant – so, als ob man mit ein bisschen mehr Feingefühl und frommer Beherztheit die Sache mit dem Frieden im Haus schnell hinbekommen könnte.
© Foto: Susanne Schlesinger | Outback Africa Erlebnisreisen
Streitkultur zur Friedenssicherung
Solch eine äußere wie innere Ordnung braucht Raum, benötigt Kulturtechniken, die die Ethik vom Haus (Oikonomik) beschrieben und reflektiert hat.
Als erstes wäre die Gesprächskultur zu nennen, die mehr meint als eine Kultur des Erzählens (jenseits eines bloßen Medienkonsums), sondern immer auch eine Diskussions-und Streitkultur für essentiell erachtet.
Wer streiten kann, der benötigt auch Rückzugsräume, die Grenzüberschreitungen verhindern helfen. Dieser Raumkultur (welcher Raum steht welchen Bewohner*innen für welche Zwecke offen?) entspricht eine Kultur der Gefühle, die nicht nur ihre Zeit, sondern auch ihren Ort brauchen. Weiterhin dürfte die Etablierung einer reflektierten digitalen Kultur einen Beitrag zur geordneten Eintracht leisten, die in Zeiten der Abschottung immer auch ein wichtiges Fenster nach außen hin eröffnen kann, aber auch die Gefahr des Abgleitens in Parallelwelten in sich birgt.
zu Hause sein und bleiben – damit das gelingt, braucht es eine Ethik des Hauses
Machen wir uns nichts vor: In diesen verunsichernden Zeiten wird die Angst auch in den „eigenen vier Wänden“ unsere treue Begleiterin sein. Unser Glaube gibt uns auf all unsere bangen Fragen keine schnelle Patentantwort, doch will er uns die Angst nehmen im Wissen um einen liebenden Gott, der sich in Jesus Christus verwundbar gemacht hat und gerade deshalb all unsere Wege in Freiheit mitgeht.
Ob wir wollten oder nicht, die Herausforderung, diese Freiheit innerhalb des Hauses zu gestalten, hat in der zurückliegenden Zeit unser Leben bestimmt.
Aus solchen Herausforderungen heraus hat sich im Laufe der Jahrhunderte eine christliche Ethik des Hauses entwickelt, von der ich hier nur einige wenige Eckpunkte skizzieren konnte. Vielleicht haben Sie selbst genügend Erfahrung gesammelt, dieser Ethik eine normative Gestalt und ein eigenes, kreatives Gesicht zu geben. Erst dann können Sie beruhigt weiterscrollen …
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Rudolf B. Hein O.Praem ist Professor für Moraltheologie an der PTh Münster. Zuletzt erschien von ihm auf feinschwarz.net:
Ästhetik der Macht: Zur textilen Hermeneutik der “Generation Benedikt”
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