Kompromisse und die Bereitschaft, Kompromisse zu suchen, gehört seit den Anfängen zur Jesusbewegung. Markus Lau über eine aufschlussreiche theologische Lehrerfahrung.
„Papa, wir machen einen Kompromiss“, formuliert meine vierjährige Tochter zuweilen, wenn sie bereits darum weiß, dass sie mit einem Wunsch an mich gelangt, dessen Erfüllung von meiner Seite aus eher unwahrscheinlich ist. Sie formuliert dann meist in Form einer Wenn-Dann-Struktur ein zeitlich gefasstes Bedingungsgefüge: „Erst darf ich noch … und dann mache ich auch …“. Der Kompromiss ist für sie eine Art argumentative Strategie, um im Rahmen eines Aushandlungsprozesses ihre Ziele zu erreichen – auch unter Inkaufnahme von subjektiv erlebten „Kosten“. Gelernt hat sie das Konzept in Krippe, Freundeskreis und Familie. Und auch wenn sie fraglos dabei zuweilen wenig kompromissfähig erscheint (jedenfalls aus der Sicht ihrer Eltern), so kennt sie doch zumindest rudimentär das Konzept und kann sich auf die Logik des Kompromisses einlassen. Sie hat ihn in sozialen Interaktionszusammenhängen gelernt und übt seine Anwendung.
Der Kompromiss als Lerngegenstand
Kompromissfähigkeit ist tatsächlich ein Lerngegenstand. Der Soziologe Georg Simmel bezeichnet im berühmten Kapitel „Der Streit“ – Teil seines Werkes „Soziologie“ – den Kompromiss entsprechend als „eine der größten Erfindungen der Menschheit“.[1] Dieses Diktum Simmels ruft in Erinnerung, dass Kompromisse nicht einfach vom Himmel fallen, sondern von Menschen er- und gefunden, ja geschmiedet werden müssen und Kompromissfähigkeit als eine Art mit unterschiedlichen, ja widerstreitenden Interessen produktiv umzugehen, gelernt werden muss. Denn Kompromisse zu finden ist anstrengend – genauso wie kompromisslose Menschen in aller Regel mühsame Zeitgenossen sind. Kompromisse individuell wie sozial, d. h. in kleinen oder größeren sozialen Verbänden wie Familie, Nachbarschaft, Stadt und Staat, Kirche, Universität oder Fakultät, zu schließen, gehört dabei zu den unabdingbaren Notwendigkeiten, um gelingendes Leben in unterschiedlichen Sozialformen zu ermöglichen. Ohne Kompromisse funktioniert das Zusammenleben von Menschen schlechterdings nicht.
Der Kompromiss als Forschungsgegenstand
Wie Kompromisse in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen gefunden, begründet, durchgesetzt und dauerhaft stabilisiert werden, wie Kompromissfähigkeit gelernt und zugleich auch mit Wahrheitsansprüchen (etwa religiöser Natur) vermittelt werden kann, aber auch welche Grenzen die Kompromissfindung als Element einer Kultur des Entscheidens hat und wann ein Kompromiss „faul“ zu werden beginnt, ist Gegenstand der Debatte und aktueller Forschung.[2] Mir scheint, dass auch die Theologie mit ihren unterschiedlichen Fächern zu diesen Fragen einen Beitrag leisten kann. Und ebenso kann z. B. das Wissen um die Bedingungen und Charakteristika des Kompromisses auch für die Analyse biblischer Texte Relevanz haben. Denn von Entscheidungsfindung in Konfliktsituationen durch die Suche nach einem Kompromiss ist in einigen zentralen neutestamentlichen Texten die Rede. Solche Texte im Licht der Frage nach den Charakteristika einer urchristlichen Kultur des Kompromisses zu lesen und zu interpretieren, ist reizvoll.
Im Wintersemester 2022/23 habe ich mich im Rahmen eines Seminars mit einer Gruppe von Studierenden[3] auf Spurensuche nach Merkmalen einer Kultur des Kompromisses in neutestamentlichen Texten begeben. Dass die Studierenden dabei in unterschiedlichen Lehramtsstudiengängen beheimatet waren und insofern aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und Fachkulturen das Thema und die neutestamentlichen Texte wahrgenommen haben, war für das Seminargeschehen ausgesprochen produktiv. Studierende der Wirtschaftspädagogik etwa haben im Seminargeschehen über Kompromisse mit einer ganz anderen Semantik gesprochen als etwa Studierende aus den Gesundheits- und Pflegewissenschaften. Wurde für die einen ein Kompromiss z. B. sprichwörtlich „faul“, wenn die Kosten für eine Partei zu hoch waren und damit die „Win-Win-Situation“ für die am Kompromiss Beteiligten nicht mehr in der richtigen Balance war, so assoziierten andere mit einem faulen Kompromiss viel stärker das semantische Feld der Krankheit: „Faule Kompromisse“ seien ungesund, sie stören, ja vergiften Beziehungen. In Anlehnung an Mt 26,73 könnte man fast sagen: „Deine Sprache verrät dich“, was für uns im Seminar Anlass war, genauer auf Wortfelder und semantische Oppositionen zu achten, die in neutestamentlichen Texten verwendet werden, die von Konflikten und ihrer Lösung durch Kompromisse erzählen.
Konflikte und Kompromisse in neutestamentlichen Texten
Ein Paradebeispiel für eine Konfliktlösung in Form eines Kompromisses ist Apg 15. Bei der Lösung der in Jerusalem verhandelten Streitfragen nach der Notwendigkeit der Beschneidung für die Mitgliedschaft in der Jesusbewegung und der Heilsbedeutung des mosaischen Gesetzes müssen sich alle beteiligten Parteien am Ende auf einen Kompromiss einlassen. Zwar setzt sich die Forderung der gläubig gewordenen Pharisäer nicht durch, dass ohne Beschneidung eine Mitgliedschaft in der Jesusbewegung unmöglich ist und das mosaische Gesetz auch von Nichtjuden einzuhalten ist, die sich zu Jesus als Messias bekennen, aber auch Petrus, Paulus und Barnabas setzen sich mit ihrer Option nicht einfach durch. Am Ende gilt: Keine Beschneidung, keine Einhaltung des Gesamts des mosaischen Gesetzes, aber doch Einhaltung bestimmter Speisegebote. Dieser in Jerusalem gefundene Kompromiss wird in religiös-theologische Sprache gekleidet, die punktuell auch juristisch angehaucht ist; für den Kompromiss wird mit theologischen, schriftgelehrten und erfahrungsbasierten Argumenten geworben, er wird nicht nur von Einzelnen, sondern von der Gesamtgemeinde und damit auch von den anwesenden Konfliktparteien getragen und wird durch Rückgriff auf die Instanz des heiligen Geistes, der in der Wahrnehmung der Jerusalemer an der Kompromissfindung beteiligt war, der Kritik prospektiv entzogen. Mit dieser Kompromissfindung ist eine wesentliche Weichenstellung in der Geschichte des Urchristentums vollzogen, die bis in die Gegenwart Auswirkungen hat.[4]
Neben diesem lukanischen Spitzentext in Sachen Kompromissfindung lässt sich etwa auch in Apg 6 miterleben, wie durch Kompromissfindung der Streit um die Witwenversorgung in der Jerusalemer Gemeinde im Zusammenspiel von Gemeinde und Aposteln so gelöst wird, dass die Apostel weiterhin ihre aus lukanischer Sicht vornehmliche Aufgabe erfüllen können, aber zugleich der aufgebrochene soziale und gruppenspezifische Konflikt gelöst werden kann – indem die Apostel nämlich einen kompromisshaften Verfahrensvorschlag machen, der Gemeinde zur Abstimmung unterbreiten, die Auswahl von Amtsträgern durch die Gemeinde akzeptieren und letztlich auf Macht verzichten.
In den Blick kam im Seminar auch, wie die Norm eines augenscheinlich absoluten Ehescheidungsverbotes in neutestamentlichen Texten (Mk 10,2–12; Mt 5,31f.; 19,3–12; Lk 16,18; 1 Kor 7,10–16) punktuell Entschärfungen erfährt, die sich als kompromisshafte Anpassung an Lebenswirklichkeiten verstehen lassen. Konflikte um das Bezahlen von Steuern (Mk 12,13–17; Mt 17,24–27), den (potenziellen) Verzehr von Götzenopferfleisch (1 Kor 8; 10) und den Umgang mit hartnäckigen Sünder:innen in urchristlichen Gemeinden (1 Kor 5,1–5; Mt 13,24–30; Mt 18) zeigten gerade auch im Vergleich die Vielfalt kompromisshafter und latent kompromissloser Stimmen in neutestamentlichen Texten, wobei in den Evangelientexten die Bereitschaft zum Kompromiss in konfliktiven Situationen auch als eine Folge der zentralen Gebote von Nächsten- und Feindesliebe erscheint und sich auch aus dem Bewusstsein der eigenen Kontingenz speist. An Paulus, dem man angesichts seiner Briefe eine allzu ausgeprägte Kompromissbereitschaft wohl nicht wird nachsagen können,[5] lässt sich zudem lernen, dass auch dann, wenn man sich einem sich aufdrängenden Kompromiss im Letzten verweigert, die eigene Option nicht einfach autoritativ dekretiert werden kann, sondern in der Sache argumentiert werden muss. Und diese Argumentation besteht nicht aus variierender Wiederholung des bereits Gesagten, sondern aus Präzisierung, punktueller Korrektur und tatsächlicher Neuformulierung (in diesem Sinne lohnt ein Vergleich zwischen der Argumentation des Paulus in 1 Kor 10 und 1 Kor 8 in Sachen Götzenopferfleisch).
Der Kompromiss als Teil der DNA des Christentums
Ein universitäres Seminar zielt auf Lern- und Erkenntnisfortschritt. Ein in diesem Sinne zwar aus exegetischer Sicht eher schlichtes, in der Sache aber vielleicht besonders gewichtiges Ergebnis besteht darin, dass der Kompromiss und die Bereitschaft, auch dann einen Kompromiss zu suchen und zu schließen, wenn etwa Amts- und Wahrheitsfragen betroffen sind, von Anfang an zum Traditionsschatz der Jesusbewegung und des sich bildenden Christentums gehört. Als Lösungsoption im Rahmen unterschiedlicher Mechanismen der Entscheidungsfindung[6] gehört der Kompromiss zur DNA der Jesusbewegung. Das gilt es zu beachten und sollte m. E. in allen z. T. überhitzt wirkenden gegenwärtigen Debatten um den richtigen Kurs in Kirche und Gesellschaft nicht vergessen werden, scheint mir doch Kompromissbereitschaft ein wesentliches Merkmal auch eines synodalen Miteinanders zu sein. Denn unsere (punktuell widerstreitenden) Ideale und Visionen einer Kirche der Zukunft sagen zwar gewiss etwas darüber aus, wie wir sein möchten, aber unsere Kompromisse zeigen bereits jetzt, wer und was wir sind.[7]
[1] G. Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Georg Simmel Gesamtausgabe 11), Frankfurt a. M. 1992, 375.
[2] Vgl. den an den Universitäten Bochum, Duisburg-Essen und Münster aktiven Forschungsverbund „Kulturen des Kompromisses“: https://www.kulturwissenschaften.de/kulturen-des-kompromisses/.
[3] Das Seminar fand an der LMU München statt. Dort hatte ich die Gelegenheit, den Lehrstuhl für Neutestamentliche Exegese und biblische Hermeneutik für ein Semester zu vertreten. Den Studierenden danke ich für ein sehr engagiertes gemeinsames Seminar und dem ganzen Lehrstuhlteam für eine äußerst angenehme gemeinsame Zeit.
[4] Dies gilt namentlich für den Verzicht auf die Beschneidungsforderung. Die in den Jakobusklauseln formulierten Regeln haben indes kaum Spuren in der christlichen Traditionsgeschichte hinterlassen, was wohl auch daran liegt, dass sie in historischer Perspektive nicht ursprünglich Teil der in Jerusalem gefundenen Konfliktlösung waren, sondern von Lukas erst nachträglich mit dem sogenannten Apostelkonzil verbunden worden sind.
[5] Vgl. M. Wolter, Der Kompromiss bei Paulus, in: Ders., Theologie und Ethos im frühen Christentum. Studien zu Jesus, Paulus und Lukas (WUNT 236), Tübingen 2009, 170–180.
[6] Neutestamentliche Texte bieten im Übrigen ein überraschend breites (und in der Sache noch wenig erforschtes) Portfolio an Entscheidungsfindungsmechanismen. Neben Losverfahren, Gottesurteilen oder autoritativen Entscheidungen Einzelner oder kleiner Gruppen, finden sich auch Mehrheitsentscheidungen (so etwa in Apg 27), der Rückgriff auf Expert:innen mit ihren spezifischen Kompetenzen und die Anwendung von in Geltung stehenden Regeln und Ordnungen. Vgl. zur Sache auch die Publikationen in der Reihe „Kulturen des Entscheidens“, die seit 2019 bei Vandenhoeck & Ruprecht erscheint.
[7] Formuliert in Aufnahme von A. Margalit, Über Kompromisse – und faule Kompromisse, Berlin 2011, 14 („Ideale sagen etwas darüber aus, wie wir sein möchten. Kompromisse zeigen, wer wir sind.“).
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Prof. Dr. Markus Lau ist Inhaber des Lehrstuhls für Neutestamentliche Wissenschaften an der Theologischen Hochschule Chur und Mitglied des Zentralvorstandes des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks.
Bild: Wilhelmine Wulff – pixelio.de