Daniel Bogner denkt im Anschluss an eine Podiumsdebatte in Fribourg über die Nützlichkeit der Religion nach.
Den Generaldirektor des Schweizer Fernsehens und ehemaligen Chefredakteur der ZEIT, Roger de Weck, einen alten Linken zu nennen, hat etwas Verdrehtes. Das, was wir landläufig die Revolution von „68“ nennen, hat in der Schweiz kaum, jedenfalls nicht so stattgefunden wie in Deutschland oder Frankreich. Wenn dort der konservative Teil der Bevölkerung einen Riss im ideologischen Gefüge erleiden musste, der bis heute mitbestimmt, was als „bürgerlich“ gilt, so gelten südlich des Bodensees andere politisch-kulturelle Koordinaten. Bürgerlich sind hier irgendwie alle, auch die Linken.
Dieser jedenfalls linksliberal profilierte Roger de Weck jedenfalls bezeichnete sich bei einer Podiumsdebatte in Fribourg unlängst als einen „Kulturkatholiken“: Religion, so de Weck, brauche es heute mehr denn je, da sie die Logik der Zweckfreiheit repräsentiere, gegenüber dem Beschleunigungsparadigma der modernen Ökonomie. Als eine semantische Ressource ermögliche sie es, Sinn zu suchen und zu finden. Ziel sei die „Wiederherstellung zweckfreier Werte“.
Religion, so de Weck, brauche es heute mehr denn je, da sie die Logik der Zweckfreiheit repräsentiere, gegenüber dem Beschleunigungsparadigma der modernen Ökonomie.
So weit, so gut. Aber geht das eigentlich – Inseln der Zweckfreiheit in einer ansonsten von Zwecksetzungen durchrationalisierten Welt? Karen Horn, Publizistin und ordoliberale Ökonomin setzte einen anderen Akzent, vielleicht realistischer: Ausgangspunkt bei allem Nachdenken über die Rolle von Religion ist für die Ökonomie die alte Frage von Adam Smith nach dem Grund für den Wohlstand der Nationen. Kann die Religion dazu etwas beitragen? Das lässt sich kaum eindeutig beantworten. Es kommt eben auf den Kontext an – auszuschließen ist es nicht. Eine solche Logik offenbart das Dilemma: Religion will keinen Zweck erfüllen, der anderswo gesetzt ist. Sie ist die Nullstelle im Reich der Zwecke, sinnträchtig, aber zweckfrei, mit einer Abscheu dagegen, ein Rädchen zu sein in einer mechanischen Welt des Funktionalen. Aber von außen, aus wirtschaftlicher Sicht, kann man gar nicht anders als danach zu fragen, was zweckdienlich ist für das Ziel des Wirtschaftens.
Religion will keinen Zweck erfüllen, der anderswo gesetzt ist.
Wie realistisch ist das also – aus kulturellem Interesse an der Religion festhalten, weil es Quellen des Sinns braucht? Der semantische Kurzschluss wird spürbar, wenn man sich die Begriffe vergegenwärtigt, die zur Beschreibung des Zirkels benutzt werden: Religion sei „Ressource“, Werte könnten „wiederhergestellt“ werden, Zwecklosigkeit wird selbst zum Wert erhoben, den wir „brauchen“. Es sind Metaphern der Machbarkeit, aus dem Themenkreis zweckhaften Handelns. Der kultur-katholische Blick ist sympathisch, keine Frage, aber das „um-zu“, die Konditionalität haftet ihm an wie schlechtes Parfüm.
Zwecklosigkeit wird selbst zum Wert erhoben, den wir „brauchen“.
Zum Ende des Abends bot Roger de Weck eine Deutung an, vielleicht unfreiwillig. In unserer politischen Welt drohe in Zeiten von SVP, FPÖ, AfD und anderen „Jusqu’au-boutistes“, den Radikalinskis des politischen Diskurses, eine Ära zu Ende zu gehen – diejenige nach 1945, in der Politiker angesichts der moralischen tabula rasa auf Kooperation und Ausgleich setzten, auf Kompromiss und Balancierung ihrer Interessen.
Politik mit dem Kopf durch die Wand ist offenbar angesagt – ohne Blick für das längerfristige Gesamtinteresse, das auch aus zweckfreien Werten wie Frieden und Solidarität besteht. Könnte es nicht sein, dass der Auftrieb all dieser Kräfte gerade als Produkt und Effekt einer vollständig nach Zwecken durchkomponierten Weltsicht zu verstehen ist? Wo die Zwecksetzung totalitär wird, gibt es einige, die zu extremen Formeln greifen, um diesen Stoff zu zerreißen. Diesen Schluss hat der Kulturkatholik nicht zu denken gewagt, weil Kulturkatholizismus selbst längst Teil einer solchen Welt geworden ist.
Aber welche Alternativen gäbe es, dem Dilemma der zweckrational gehegten Zweckfreiheit zu entkommen? Ein Gedicht lesen, ein Erbe nicht antreten, ein Gebet sprechen, etwas Gutes tun – und nicht darüber reden. Vielleicht.
(Bild: Freiburg Schweiz by Tarina / pixelio.de)