Matthias Sellmann hat hier auf feinschwarz.net der katholischen Pastoraltheologie die Frage gestellt, wie sehr es ihr fachliches Selbstverständnis betrifft, wenn die verfasste Kirche in Krisen gerät. Das veranlasst Rainer Bucher zu einigen grundsätzlichen Überlegungen zur Aufgabe der Pastoraltheologie in disruptiven Zeiten.
Die Pastoraltheologie war von Anfang an Krisenwissenschaft.1 In den Krisenzeiten der (katholischen) Kirche lief sie denn auch stets zur Hochform auf. Die aktuelle, und zumindest in unseren Breiten vielleicht wirklich existenzbedrohende Krise der Kirche stellt also eine epochale Herausforderung für das Fach dar.2 Schließlich ist diese Kirche – als von Gott berufenes Volk Gottes – sein Forschungsgegenstand. Natürlich ist damit das Selbstverständnis der Pastoraltheologie berührt, wenn die verfasste Kirche in manifeste Krisen gerät. Die Frage ist nur, was das für die Pastoraltheologie bedeutet.
Immer schon Krisenwissenschaft
Eine der Revolutionen des II. Vatikanischen Konzils ist bekanntlich sein neuer Begriff der Pastoral. Diese ist dort nicht mehr nur der priesterliche Heilsdienst an den Laien, sondern der Dienst der Kirche insgesamt an der Welt im Ganzen. Pastoral wird damit zu etwas ziemlich Riskanten. Sie kann Gottes Versprechen und Botschaft in Wort und Tat repräsentieren, aber auch deren schiere Negation, ja Gottes Tod im Handeln seiner Kirche werden. Die Pastoral ist ein Ort der Entäußerung Gottes hinein in die Hände jener, die sich auf ihn beziehen, mithin ein Ort, an dem Gott hilflos seiner Beanspruchung durch sein Volk ausgeliefert ist.
Nachkonziliare Pastoraltheologie ist Praktische Theologie auf der Basis dieses Pastoralbegriffs. Der stellt eine Zumutung dar und besitzt für das Fach provokativen Charakter. Denn die Pastoraltheologie kann sich auf seiner Basis nicht mehr einfach an die Funktionslogiken eines ihrer drei klassischen Bezugssysteme koppeln: der Kirche, der Wissenschaft oder der Gesellschaft, bzw., so zu ihrem Beginn, dem Staat. Dies tat sie in ihrer Geschichte immer wieder, meist um einen festen Grund zur Gestaltung der beiden anderen Relationen zu bekommen oder schlicht, weil sie es nicht anders kannte und konnte.
Normativer Pastoralbegriff
Für die Pastoraltheologie bedeutet der Pastoralbegriff des II. Vatikanums, dass sie sich auf die Referenzgrößen Kirche, Wissenschaft und Kultur zugleich beziehen wie sie überschreiten muss. Vor allem darf sie die von ihnen her angebotenen Identitätsangebote nicht einfach annehmen. Nicht nur, weil die Pastoraltheologie die Balance zu den beiden anderen Polen zu halten hat, sondern wegen der selbstrelativierenden pastoralen Konstitution der Kirche: Denn nicht die Pastoral ist für die Kirche da, sondern die Kirche für die Pastoral.
Die Pastoraltheologie kann sich nicht vor den Zumutungen einer oder zweier dieser Größen in den Schoß der dritten in Sicherheit bringen. Sie würde entweder Religionssoziologie, kirchlich-institutionelle Funktionswissenschaft oder reine Kultur- und Geisteswissenschaft. Sie kann sich aber auch nicht unentschieden in der Mitte ihrer drei Bezugsgrößen halten. Das wäre keine auf Dauer kreative, innovative und produktive Position. Denn die Pastoraltheologie würde sich damit auf keine dieser Größen wirklich einlassen und somit ihrer Aufgabe ausweichen.
Paradoxale Konstitutionsstruktur
Erkennbar wird eine diskursiv paradoxale und institutionell durchaus unbequeme Konstitutionsstruktur des Faches. Sie ist intern paradoxal, weil die Pastoraltheologie etwas stets „ist und doch nicht ist“: Sie ist Wissenschaft, aber darf es nicht in bruchloser Selbstverständlichkeit sein, da sie sonst in ihrer methodischen Panzerung gegenüber den nicht-wissenschaftlichen Diskursen und Praktiken in der Kirche kaum mehr anschlussfähig wäre und, wie in Teilen der Theologie ja zu beobachten, nur noch theologieintern von einer gewissen Relevanz bliebe.
Die Pastoraltheologie ist Teil der Kirche und ist selbst kirchliches Handeln, aber darf es nicht in bruchloser Selbstverständlichkeit sein, da sie sonst nicht jene Selbstbeobachtungskompetenz zweiter und höherer Ordnung und damit nicht jene Irritationsfähigkeit3 der kirchlichen Praxis entwickeln könnte, die sie entwickeln muss, um der Kirche nicht-triviale Selbstbeobachtungsinformationen zu Nähe und Distanz der kirchlichen Praktiken gegenüber dem normativen pastoralen Zweck der Kirche zur Verfügung zu stellen.
Die Pastoraltheologie ist Teil ihrer Gesellschaft und ihrer Kultur, darf aber auch das nicht in bruchloser Selbstverständlichkeit sein, da sie sonst, wie in der Wissenschaftsgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur zu gut zu beobachten, zum Legitimationsdiskurs des und der gerade Herrschenden verkommt. Dabei weiß sie gleichzeitig – um die Paradoxie und Ungemütlichkeit auf die Spitze zu treiben – dass sie den hier lauernden Gefahren natürlich nie wirklich ganz entkommen kann.
Universität, Staat/Gesellschaft/Kultur und Kirche sind notwendige Versuchungen der Praktischen Theologie: Sie kann der Auseinandersetzung mit diesen Mächten nicht entgehen. Aber sie darf ihnen auch nicht verfallen. Sie findet ihren Ort jenseits der ihr von jenen Mächten angebotenen Sicherheiten. Dann erst ist die Pastoraltheologie im Übrigen dort, wo das Volk Gottes schon ist – und das Christentum vielleicht in seinem religiösen Inneren immer schon war.
Disruptive Zeiten
Nun leben wir in neuen, „disruptiven“ Zeiten. Sie sind so neu, dass wir sie noch lange nicht verstanden haben und einiges spricht dafür, dass die von uns hinter unserem Rücken in Gang gesetzten kulturellen, technologischen, medialen und politischen Entwicklungen derart unvorhergesehen und unplanbar interagieren, dass sie ständig vor uns unvorhersehbare Ereignisse produzieren, die tatsächlich praktisch alles verändern: die mediale und ökonomische Globalisierung etwa oder die Digitalisierung oder die Entbettung des Religiösen aus seiner kulturellen Selbstverständlichkeit.
Kulturwissenschaft des Volkes Gottes
In solchen Konstellationen steigt der gesellschaftliche und auch der innerkirchliche Problemdruck enorm. Man muss dann ruhig bleiben und die eigene Aufgabe erfüllen. Das kann in verschiedensten Formen geschehen. Es gibt schließlich auch angewandte Politikberatung, empirische Politikwissenschaft und sehr philosophisch-grundsätzliche politologische Reflexion. Niemand käme auf die Idee, das gegeneinander auszuspielen. Wir sollten es in der (Pastoral-)Theologie auch nicht tun. Die Kirche retten, das konnte die Theologie übrigens noch nie. Dazu ist der wissenschaftliche Diskurs im Geflecht gesellschaftlicher Praktiken – etwa kirchenamtlicher Identitätspolitiken – schlicht zu schwach. Unsere moraltheologischen Kolleginnen und Kollegen können davon ein Lied singen.
Vielleicht könnte sich die Pastoraltheologie als „Kulturwissenschaft des Volkes“ Gottes begreifen. „Kulturwissenschaft“ würde dann den Beobachtungs- und Vorschlagscharakter der Pastoraltheologie benennen, „des Volkes Gottes“ aber in seiner Doppelung als genitivus subjectivus und objectivus ihren Charakter als solidarische Praxis dieses Volkes Gottes selbst, das sich in dieser Wissenschaft hinsichtlich ihrer Aufgabenerfüllung einerseits selbst beobachtet, andererseits aber auch die Innovationsgeschichte der Entdeckung der Botschaft Jesu von seinem Gott aktiv mit fortschreiben will.
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Rainer Bucher ist Professor für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Graz und Mitglied der feinschwarz-Redaktion.
Nach Volk und Straße riechen: Der Ort von Theologie und Lehramt
- Vgl. Rainer Bucher, Wer braucht Pastoraltheologie wozu? Zu den aktuellen Konstitutionsbedingungen eines Krisenfaches, in: Ders. (Hrsg.): Theologie in den Kontrasten der Zukunft, Graz 2001, 181-197. ↩
- Vgl. Rainer Bucher (Hrsg.), Die Provokation der Krise, 2. Auflage Würzburg 2005. ↩
- Viel mehr wird gerade aus der Perspektive der Systemtheorie nicht möglich sein. Die „Unwahrscheinlichkeit gelingender Intervention“ betont etwa Helmut Wilke, Systemtheorie II: Interventionstheorie, Stuttgart 21996, 4, und Peter Fuchs vermutet gar, „dass Beratung eigentlich in der Kunst besteht, geschickt aus laufenden Veränderungen der Referenzsysteme solche auszuwählen und auszuzeichnen, die sich als Beratungserfolg … verkaufen lassen“ (Peter Fuchs, Hofnarren und Organisationsberater. Zur Funktion der Narretei, des Hofnarrentums und der Organisationsberatung, in: Organisationsentwicklung 21 (2002) H. 3, 4-15, 14). ↩