Niemand bleibt schuldlos in der Pandemie. Der Kunst des Verzeihens kommt deshalb neue Bedeutung zu, meint Ana Honnacker.
Als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im April verlautbarte, dass wir uns „in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen“, klang das in den Ohren der meisten vermutlich zunächst fremd, wie im falschen Register. Verzeihen ist keine klassische Vokabel des Politischen. Eher fällt sie in den Bereich des Persönlichen. Wenn sich Menschen gegenseitig verletzen, wenn sie aneinander versagen, dann ist das um Verzeihung Bitten – und sie zu gewähren – ein Teil des Heilungsprozesses, der über eine bloße Wiedergutmachung hinausgeht. Verzeihen kann nicht verordnet oder erzwungen werden. Es kann scheitern. Nicht nur am mangelnden Willen zu verzeihen, sondern auch an der mangelnden Fähigkeit dazu.
Verzeihen kann nicht verordnet oder erzwungen werden. Es kann scheitern.
Nun ist Spahn bislang nicht als besonders philosophisch gestimmter Mensch in Erscheinung getreten. Womöglich meinte er nur dies: dass unter den Ausnahmebedingungen einer Pandemie, auf die niemand vorbereitet war, unweigerlich Fehler gemacht werden. Dass falsche Entscheidungen getroffen werden. Und, wenn wir besonders viel strategisches Kalkül unterstellen, dass die Verantwortlichen bitte nicht zur Verantwortung gezogen werden sollen, wenn politisch Bilanz gezogen wird. Dann „muss“ nämlich verziehen werden – immerhin hat man jetzt schon implizit um Verzeihung gebeten, sich schuldig bekannt und damit den (moralischen) Ball der Gegenseite zugespielt.
In diesem Fall wäre die Aufforderung zu verzeihen eine besonders perfide Taktik, vom eigenen fehlerhaften Tun abzulenken. Nicht nur kommt man der Bezichtigung durch andere zuvor und kann sich so als moralisch reflektiert, wenn nicht überlegen darstellen. Zu dieser potentiellen Aggressivität von Schuldbekenntnissen, zumal öffentlichen, muss zudem hinzugenommen werden, dass mit diesem Vorauseilen gewissermaßen die Geschädigten in die Pflicht genommen werden – eben weil es nun an ihnen ist, zu verzeihen, und zwar ungeachtet des tatsächlichen Standes des Heilungsprozesses. Der Forderung, zu verzeihen, gar verzeihen zu müssen, haftete dann durchaus etwas Gewaltsames an.
Wir müssen verzeihen, um miteinander weiterleben zu können, ohne Ressentiments auszubilden.
Ungeachtet dessen, worauf Spahn nun abzielte, spricht jedoch vieles dafür, die Fähigkeit zu verzeihen gerade in Corona-Zeiten zu kultivieren. Und zwar nicht nur als unerlässliche Kompetenz des Zwischenmenschlichen, sondern durchaus auch als politische Tugend. Wir müssen verzeihen, um miteinander weiterleben zu können, ohne Ressentiments auszubilden. Man denke an die vielen kleinen und gar nicht so kleinen Verletzungen, die in Auseinandersetzungen im persönlichen Nahbereich, aber auch im größeren gesellschaftspolitischen Bezugsrahmen entstanden sind.
Wohl kaum jemand, der sich seit Beginn der Pandemie nicht über Verhaltensweisen und Einstellungen anderer mokiert hätte, hinter vorgehaltener Hand oder in offener Auseinandersetzung, in Familien, Freundeskreisen, am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft. „Nur eine Grippe“ oder gefährliches Virus? Social Distancing oder Coronaparty? Angemessene politische Maßnahmen – oder zu spät, zu lasch oder aber zu strikt und auf dem Wege in den totalitären Staat? Gerade in den ersten Wochen war die Unsicherheit das bestimmende Gefühl der Krise, nicht zuletzt gespeist aus einer realen Unwissenheit über das neuartige Coronavirus. Auf dünner Faktenlage streitet es sich nicht gut – aber eben besonders heftig. Das gilt umso mehr in einer Situation, die es niemanden erlaubt hat, indifferent zu bleiben.
Alltägliche Verrichtungen werden zum Gegenstand moralischer Überlegungen.
Es ging, und geht, um so viel: Gesundheit, den eigenen Arbeitsplatz, individuelle Freiheiten, Grundrechte, die Wirtschaft… Der Erhalt all dieser Güter hängt wesentlich davon ab, das aus der jeweiligen Perspektive Richtige zu glauben und zu tun. Die Bestimmung des „Richtigen“ aber klafft erheblich auseinander. Sie sprengt geradezu den eingespielten – vielleicht auch eingeschlafenen – gesellschaftspolitischen Diskurs der „Vor-Corona-Zeit“. Die „Anti-Corona-Proteste“ sind dabei das wohl augenfälligste Symptom des erodierenden Common Sense über das, was geraten ist, und auf wen dabei zu hören sei.
Gerade unter den Vorzeichen der Pandemie treten diese Risse deutlich zu Tage, verschärft dadurch, dass es tatsächlich auf viele Fragen keine Antworten gibt und keine Norm zur Hand ist, die das Handeln klarerweise anleiten könnte. Alltägliche Verrichtungen werden zum Gegenstand moralischer Überlegungen. Das Selbstverständliche versteht sich nicht mehr von selbst, sondern muss immer wieder, nämlich im Lichte des je aktuellen Kenntnisstandes, neu bewertet werden: Einkaufen, Freund*innen Treffen, zur Arbeit Gehen, Reisen.
Wir haben es nicht notwendig mit einer Tragik der medizinischen Allmende zu tun.
Auch die rechtlich vorgegebenen Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens bis hin zum „Lockdown“ lassen einen moralischen Raum individueller Verantwortung offen, gleichwohl sie zum Teil empfindliche Einschränkungen gewohnter Freizügigkeiten darstellen. Nicht alles, was erlaubt ist, ist jedoch zugleich geboten. Das bedeutet, potentiell an dieser Verantwortung versagen zu können, also Schuld auf sich zu laden und mit ihr leben lernen zu müssen.[1]
Wird die freiwillige Einhaltung der (Selbst-)Beschränkungen und Vorsichtmaßnahmen unter den spieltheoretischen Vorzeichen des klassischen Problems kollektiven Handelns gefasst, ergibt sich eine eher ernüchternde Einschätzung mit Blick auf die Nicht-Ausschöpfung des rechtlichen Rahmens zugunsten solidarischen Verhaltens: Das Individuum müsste deutliche Nachteile bzw. Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, um ein Gemeingut (die Gesundheit aller, das Gesundheitssystem) zu schützen. Da es, statistisch gesehen, vermutlich eher nicht direkt betroffen sein wird, ist der Anreiz, sich selbst über die gesetzlichen Maßnahmen hinaus stark zu reglementieren (etwa: nicht in den Urlaub zu fahren, nicht an privaten Feiern teilzunehmen usw.), recht niedrig. Erschwerend kommt hinzu, dass, ähnlich wie beim Paradox des Wählens, der eigene Beitrag zum Gesamtgeschehen gering erscheint und somit eine Kosten-Nutzen-Analyse eher für das Ausschöpfen der eigenen Handlungsfreiräume spricht. Jedoch spricht einiges dafür, dass wir es dennoch nicht notwendig mit einer Tragik der medizinischen Allmende zu tun haben. Ein Großteil der Bürger*innen stimmt nicht nur den Maßnahmen der Regierung zu, sondern verhält sich auch solidarisch.
Verantwortung übernehmen: Gemeinsame Herausforderung von Umwelt- und Coronakrise.
Die Abwägungen der eigenen Handlungs(frei)räume und Interessen gegen die Dritter, die im Rahmen der Pandemie getroffen werden müssen, weisen dabei strukturelle Ähnlichkeiten zu jenen auf, die uns, freilich in viel größerem Umfang, die Klimakrise abverlangt. Damit stellt die Pandemie gewissermaßen einen Testlauf für das Vermögen von Gesellschaften dar, solidarisch zu handeln und unseren moralischen Blick auszuweiten. Umwelt- und Coronakrise haben nicht nur einen kausalen Nexus,[2] sie stellen uns auch für ähnliche Herausforderungen: In beiden Fällen gilt es, sich als Teil eines moralischen Geschehens zu begreifen und damit Verantwortung zu übernehmen.
Dabei besteht die Schwierigkeit nicht zuletzt darin, das eigene Tun an Parametern auszurichten, die ganz anders skaliert sind als die, an denen sich unsere Alltagsmoralität ausrichtet. [3] Die Effekte des eigenen Tuns machen sich nicht unmittelbar, sondern räumlich wie zeitlich fragmentiert bemerkbar. Im Falle des Klimas gar in anderen Weltregionen, für zukünftige Generationen. Auch hier gilt: Uns wird viel verziehen werden müssen, womöglich mehr, als verziehen werden kann.[4]
Eine beinahe tragische Qualität: Wir können uns nicht nicht schädigend verhalten.
Beide Krisen zeigen zudem unsere tiefe Verstrickung in Schuldzusammenhänge auf. Jenseits von persönlich vorwerfbarem Verhalten und damit einer individuellen moralischen Schuld partizipieren wir an Strukturen, die schädliche Folgen haben. Diese Strukturen liegen uns voraus, sind also nicht selbst entworfen und eingerichtet – wohl aber perpetuieren wir sie. Sich ihnen zu entziehen, ist für das vergesellschaftete Individuum so gut wie unmöglich. Jedwedes Handeln besitzt daher schon eine beinahe tragische Qualität: Wir können uns nicht nicht schädigend verhalten. Unter pandemischen Bedingungen ist es unsere Rolle als potentielle Überträger*innen, die sich nicht vermeiden lässt und zu der wir uns verhalten müssen.[5]
Sich trotzdem nicht auf die Rede vom Tragischen zurückzuziehen (und damit auf die Rede von Schuld zu verzichten), verhindert, das Geschehen von vornherein als unabwendbar darzustellen, es gar zu naturalisieren und damit der Sphäre des Politischen zu entziehen. Wenn wir daran festhalten wollen, dass es Handlungs- und Gestaltungsspielräume gibt, dann geht damit die Möglichkeit des Scheiterns und Versagens einher, die auch rückblickend analysiert werden muss: Wir haben es nicht mit einer reinen Natur-, sondern mindestens ebenso sehr mit einer Kulturkatastrophe zu tun.
Die Kunst des Verzeihens stärkt zugleich die demokratische Lebensform.
Um sie zu bewältigen, ist die Kunst des Verzeihens unabdingbar. Sich in sie einzuüben, stärkt zugleich die demokratische Lebensform. Es bleibt jedoch ein riskanter Akt. Sein Gelingen kann nicht garantiert werden. Dass wir als Gesellschaft gerade jetzt darauf angewiesen sind, legt die prekären Bedingungen unseres Zusammenlebens offen und zählt zu den besonderen Herausforderungen, vor die uns die Pandemie stellt.
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Dr. phil. Ana Honnacker forscht und lehrt u.a. an der Universität Hildesheim im Bereich der Religionsphilosophie (Religion und Moderne, Religionskritik), der politischen Philosophie (Demokratie als Lebensform) und der Umweltphilosophie (Klimawandel und gesellschaftliche Transformation).
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Literatur
Horn, Eva / Bergthaller, Hannes: Anthropozän zur Einführung (Hamburg: Junius 2019).
Lucci, Antonio: „Ansteckung. Plädoyer für eine Ethik der Kontingenz“, in: Volkmer, Michael/Werner, Karin (Hg.): Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft (Bielefeld: Transkript 2020), 357-369.
Nikil Mukerji / Adriano Mannino: Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit (Stuttgart: Reclam 2020).
Nowotny, Konstantin: „Falsche Fürsorge“, in: Der Freitag, 10.05.2020, abrufbar unter https://www.freitag.de/autoren/konstantin-nowotny/falsche-fuersorge (zuletzt am 24.08.2020)
Sha, Sonia: „Woher kommt das Coronavirus?“, in : Le Monde diplomatique (12.03.2020), abrufbar unter https://monde-diplomatique.de/artikel/!5668094 (zuletzt am 25.08.2020).
[1] Eine Aufgabe, auf die auch Hannes Leitlein in DIE ZEIT bereits Ende Mai 2020 verwies: https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-05/lockerungen-coronavirus-einschraenkungen-freiheit-verantwortung. Vgl. dazu auch die Überlegungen zum „Leben mit Schuld“ in Dreiwes, Marvin / Honnacker, Ana / Manemann, Jürgen / Rüegger, Julia: Corona. Antworten auf eine kulturelle Herausforderung (2020) 11-13, abrufbar unter https://fiph.de/veroeffentlichungen/buecher/Corona_FIPH.pdf?m=1592484286&
[2] Zum Zusammenhang von ökologischem Raubbau und Zoonosen siehe z.B. Sha 2020, oder, mit Fokus auf die Fleischindustrie, Mukerji/Mannino 2020, 92-99.
[3] Ausführlicher zum Skalenproblem und zum Problem der Fragmentierung vgl. Horn/Bergthaller 2019, 18, 90-92, 176-196.
[4] Der antizipierte Vorwurf des radikalen moralischen Versagens ist ein oft bedientes Motiv nicht nur der climate fiction, sondern auch umweltphilosophischer Reflexionen, vgl. z.B. Tim Mulgan, Ethics for a Broken World. Imagining Philosophy After Catastrophe (Montreal: McGill-Queen’s University Press 2011).
[5] Siehe dazu z.B. Lucci 2020.