Es gibt Bücher, denen man mit einmaliger Lektüre von Anfang bis Schluss nicht gerecht werden und die man auch nicht zusammenfassen kann. Um ein solches geht es hier. Daniel Kosch stellt es vor.
Autor des Buches ist der bekannte Berner Theologe, Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti (1921-2017). Sein Thema ist Jesus, den er einmal prägnant als seinen «Herausforderer» (56) bezeichnet. So, wie Kurt Marti mit Jesus niemals fertig geworden ist, halte ich es für unmöglich, mit diesem Buch «fertig» zu werden. Das liegt nicht am Umfang von knapp 250 Seiten, sondern an der thematischen Vielfalt, dem theologischen Reichtum, der sprachlichen Dichte und dem existenziellen Anspruch vieler der Texte, die Bigna Hauser und Andreas Mauz zusammengestellt haben[1].
Der Titel
Beim Titel «Ihm glaube ich Gott» handelt es sich um ein gut gewähltes Zitat von Kurt Marti, und auch der Untertitel «Über Jesus» ist treffend, ist es doch für dessen Christologie charakteristisch, dass auch der Auferweckte und in den Himmel aufgenommene für uns bis heute als der «leibhaftige» Jesus relevant bleibt und gerade in seiner Menschlichkeit Gott repräsentiert. Pointiert heisst es:
Ich kenne den Gott, der in Jesus Mensch geworden ist …, nur so weit, als er in Jesus Mensch geworden ist. Ich weiss nicht, wie er «an und für sich» und abgesehen von Jesus ist. Ich kann mich von anderen Gottesvorstellungen faszinieren lassen, bleibe aber geimpft durch die prophetische Kritik an den Götzen und an den Vergötzungen auch Gottes. Darum bin auch ich … gegen einen Jesus-Kult, also gegen eine Vergötzung und kultische Fetischisierung Jesu. Die gab’s und gibt’s allerdings. Sie läuft meistens auf eine stabilisierende Verklärung herrschender Verhältnisse hinaus: Der kultische ‘Herr’ versteht sich oft recht gut mit den politischen ‚Herren‘. Jesus selbst aber wollte nicht Kult, sondern Nachfolge! Und gerade darin erweist er sich als das Mensch gewordene Wort Gottes – des Gottes, der Liebe ist (79).
Doppelter Einstieg
An den Anfang des Buches stellen die Herausgebenden ein spielerisch-leichtes Gedicht und dichte Thesen, also zwei Texte, die gegensätzlicher kaum sein könnten: Zum einen das Gedicht «hotel jesus» (7). Dessen letzte Strophe lautet
das hotel jesus
hat zimmer für viele
petrus der concierge
verteilt die schlüssel.
Und der knapp zwei Seiten umfassenden Text geht mit zwölf Antworten auf die Frage ein «Wer ist Jesus Christus für Sie», darunter:
Derjenige, dem ich Gott glaube. Für mich deshalb Gottes Wortführer. Gottes Wort.
Ein Verworfener.
Ein Gespräch, meist sprunghaft, oft unterbrochen, in das ich stets von Neuem verwickelt werde.
Derjenige der neu anfing.
Bei diesem und anderen theopoetischen Texten länger zu verweilen, lohnt sich mehr als ein kursorischer Durchgang durch das ganze Buch.
Gedichte – Miniaturen – Essays – Prosa – Predigten
Umso dankbarer bin ich für das instruktive Nachwort (221ff.). Es begründet die Präsentation des Stoffes in fünf Hauptkapiteln, die sich an der literarischen Form der Texte orientiert. Und es macht auf fünf durchgängige Leitmotive der in einem Zeitraum von über fünfzig Jahren entstandenen Texte aufmerksam:
(1) Jesus der Repräsentant Gottes,
(2) der vere homo,
(3) der Auferstandene,
(4) der bleibend Andere,
(5) der Jesus der Anderen.
Zudem stellt das Nachwort klar, dass es sich bei den vielen ausgewählten Texten nur um eine Auswahl handelt, die versucht, die Vielfalt der Zugänge und Publikationsanlässe zu spiegeln: Von sorgfältig komponierten und prominent platzierten kleinen christlogischen Ensembles bis hin zu Beiträgen in der «flüchtigen Tagespresse» (224).
Vermisst habe ich ein detailliertes Inhalts- oder Stichwortverzeichnis, anhand dessen es möglich wäre, wichtigen Themen auch gattungsübergreifend nachzugehen, was gerade zu Themen wie Weihnachten/Geburt oder Passion / Kreuz sehr ergiebig ist.
«Die zerzählte Botschaft»
Erhellend ist der Hinweis des Nachwortes auf eine Äusserung des späten Kurt Marti, keine Weihnachtsgeschichten mehr schreiben zu wollen. Unter dem Titel «die zerzählte Botschaft» veröffentlichte er dazu 10 Thesen, deren letzte darauf hinweist, dass Oster- und Pfingsterzählungen «ungleich wichtiger wären», es müsste jedoch erst «etwas passiert oder von mir erlebt worden sein», bevor er eine Geschichte «erfinden» könnte, was mit «Martis leidenschaftlicher Hinwendung zu seiner Gegenwart» zusammenhänge (233f.).
Vielfalt literarischer Formen
Die Vielfalt der literarischen Formen und die Multiperspektivität der Texte ist jener des Neuen Testaments vergleichbar. Dieses nähert sich Jesus sowohl erzählend als auch bekennend, in Form von Hymnen und Gebeten, Briefen und Traktaten, Gleichnissen und Legenden, aber auch mit Hilfe theologischer Diskurse und Meditationen, zugespitzter Thesen und Entfaltungen der ethischen Implikationen seiner Botschaft und Praxis. Ähnlich Marti: Er dichtet, provoziert, ringt, bekennt, zweifelt, erzählt, predigt, argumentiert, arbeitet Aktualitätsbezüge ebenso heraus wie die Fremdheit Jesu, findet Grund zur Zuversicht, weist aber auch auf Abgründe hin, welche eine bruchlose Anknüpfung an die österliche Hoffnungsbotschaft verunmöglichen.
Ehrlichkeit und Kirchenkritik
Eine weitere Qualität der Texte ist ihre Ehrlichkeit. Wer könnte sich im «ich» dieses Gedichtes nicht wiederfinden:
Auch heute wieder
frage ich mich,
wer Du warst oder bist, was du willst.
Viele
wissen das besser,
einige
folgen Dir nach.
Wie aber kamst Du
auch noch auf mich?
Bin doch nicht der, den Du brauchst!
Dennoch,
dennoch
komm ich nicht los
von Dir (37).
Mit dieser Ehrlichkeit geht einher, dass Jesus für Kurt Marti «noch immer … derjenige ist, der aus dem Status quo souverän aufbricht, … solidarisch mit allen Opfern der bestehenden Ordnung, … erhöhter Zeuge und Ankläger gegen die bestehende Ordnung» (107). Seine Kritik trifft sowohl die Gesellschaft als auch die Kirche(n), folgen doch beide oft genug einer Logik, die weder mit der «Weltleidenschaft Gottes» noch mit der Parteilichkeit Jesu vereinbar ist.
Der Erde treu geblieben
Dieser Logik tritt Marti nicht etwa mit dem Verweis auf einen fernen «historischen Jesus» entgegen, sondern betont im Gegenteil dessen Gegenwärtigkeit. Jesu Auferweckung und Himmelfahrt bedeuten nicht, dass der Mensch Jesus die Welt verlassen hat und nun nur noch im Geist erfahrbar ist.
In den auf Himmelfahrt folgenden Pfingstgeschehnissen und nachher in der Zeit neuer Gemeindegründungen (Apostelgeschichte) wird Christus durchaus nicht als der Gegangene, sondern als der Kommende, nicht als der Abwesende, sondern als der Gegenwärtige erfahren. Er hat die Erde nicht gegen den Himmel eingetauscht, sondern ist der Erde treu geblieben … Der erhöhte Jesus ist nicht mehr an Raum und Zeit gebunden, vielmehr verfügt er über beide! …. Er lebt 1968 so ungealtert und vital wie im Jahre 68: Für ihn hat die Zeit ihren Zahn verloren! Aber auch der Raum begrenzt und behindert ihn nicht (105f.).
Der Verwandelte, der den Seinen erschien, war der Gekreuzigte (Johannes 20,24-29), kein Triumphator, geschweige denn ein messianischer Imperator. Insofern enthielten die Erscheinungen auch eine Weisung an die Jünger, an ihre Nachfolger, an alle Christen, nämlich: Auch ihr sollt euch niemals in Glaubens-Triumphatoren oder auch nur in kleine Glaubens-Imperatoren verwandeln! Diese Oster-Weisung hat die Christenheit freilich nicht gehört und nicht befolgt – das dürfte ihre grosse Schuld, Mitschuld sein an manchen geschichtlichen Fehlentwicklungen (123).
«Kein Leben ohne Leiben»
Mit der Herausarbeitung wichtiger, wiederkehrender Motive könnte ich noch lange fortfahren, und die Liste der Zitate, die ich gerne in diese Buchvorstellung eingebaut hätte, ist noch lang. Einzugehen wäre zum Beispiel darauf, dass Kurt Martis Texte ein klar reformatorisch geprägtes theologisches Profil erkennen lassen, aber dem Anspruch auf «exklusive Absolutheit und Überlegenheit» (56) eine klare Absage erteilen. Oder darauf, dass er Jesu «Leiblichkeit» betont und daher ihn – und nicht den Teufel – als «Leibhaftigen» bezeichnet und es für «zulässig» hält, anzunehmen, dass die in den Evangelien mehrfach erwähnte «frauliche Fürsorge für den Leib Jesu auch eine erotische Komponente gehabt hat». Wie wichtig diese Leiblichkeit Jesu über seinen Tod hinaus blieb, zeigt sich zum einen daran, «dass bis heute sein Leib je und je wieder sakramental vergegenwärtigt wird» (45f.). Zum anderen notiert Marti, dass die Berichte von den Erscheinungen des Auferstandenen, «voll von einer geradezu unverschämten Sinnenhaftigkeit» sind (123).
«Heilige Vergänglichkeit»
Das letzte, 2010 veröffentlichte Buch von Kurt Marti trägt den Titel «Heilige Vergänglichkeit»[2]. Es wird in der Sammlung der Jesus-Texte nicht zitiert, was insofern verständlich ist, als seine «Spätsätze», wie der Untertitel sie nennt, in ihrer Kargheit an die Grenze des Verstummens führen und nur spärlich von Jesus sprechen. Einen dieser Sätze greift der Titel des Buches auf: «Ihm, Jesus, glaube ich Gott» (30). An anderer Stelle heisst es:
Die Evangelisten können nicht genug dafür gerühmt werden, dass sie der Versuchung widerstanden haben, denen, die Jesus vom Tod wieder auferweckte, und ihm, dem Auferstandenen selbst, Äusserungen über ein postmortales Jenseits in den Mund zu legen (36).
Nichts an Aktualität verloren?
Angeregt durch das Stichwort «Vergänglichkeit» habe ich mir die Frage gestellt, wie es um die Vergänglichkeit der (Jesus-)Texte von Kurt Marti steht. Stimmt die Aussage des Klappentextes, dass sie «nichts an Aktualität verloren haben»? Trotz grösster Wertschätzung zögere ich, die Frage uneingeschränkt mit Ja zu beantworten. Denn die religiöse Lage hat sich im Vergleich mit der Entstehungszeit vieler Marti-Texte doch sehr verändert:
- Die kritisierte Leibfeindlichkeit, Jenseitsfixierung und ein überhöhtes, dafür blutleeres Jesusbild prägen das Christentum und die Kirchen weniger als früher.
- Gelegentlich steil formulierten Antithesen, wie jene, dass «der Gekreuzigte als erhöhter Zeuge und Ankläger gegen die bestehende Ordnung der Dinge, … uns zum Abbruch der jetzigen Missordnung … ruft» (107), begegne ich mit grösserer Skepsis als früher: Haben nicht auch gewisse Formen der Kreuzestheologie Anteil an dem, was Marti Missordnung nennt?
- Ist deshalb angesichts des Wissens um die Gefährlichkeit religiöser Intoleranz und Radikalisierung in Bezug auf radikale Kritik am Bestehenden nicht grössere Zurückhaltung geboten?
- Passt das dialektische Denken in Gegensätzen noch zu unserer von Unübersichtlichkeit und Ungewissheit geprägten Zeit, oder bedürfte es einer noch stärkeren Ergänzung durch das suchende «weder – noch» und das vorsichtigere «nicht ohne Dich» (Michel de Certeau)?
Einer der Texte die zeigen, dass solche Fragen Kurt Marti nicht fremd waren, trägt den Titel «Jesses!»
Du so.
Du anders.
Du nicht.
Du doch.
Dein Leib.
Deine Worte.
Was weiss ich?
Was soll ich?
Komm glaub
mit mir.
Komm geh
mit uns (16).
[1] Kurt Marti, Ihm glaube ich Gott. Über Jesus. Herausgegeben von Bigna Hauser und Andreas Mauz, Theologischer Verlag Zürich: Zürich 2024.
[2] Kurt Marti, Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze, Stuttgart 2010.
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Daniel Kosch, Dr. theol., leitete von 1992-2001 die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und war von 2001-2022 Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) . Von 2020 bis 2023 nahm er als Beobachter aus der Schweiz am Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland teil. 2023 publizierte er ein Buch zum Thema «Synodal und demokratisch. Katholische Kirchenreform in schweizerischen Kirchenstrukturen» (Edition Exodus).