Persönliche Erinnerungen an den Menschen Kurt Marti und an dessen Gedichte. Das wünschte ich mir zum 100. Geburtstag des Dichterpfarrers. So entstand das Interview mit dem Theologen Markus Friedli. Er leitete die ökumenisch ausgerichtete Fachstelle „Kirche im Dialog“ in Bern, als Kurt Marti dort Pfarrer an der Nydeggkirche war, und ist überdies mit dessen Werken sehr vertraut. Die Fragen stellte Franziska Loretan-Saladin.
Lieber Markus, Du hast drei Jahrzehnte die Fachstelle KIRCHE IM DIALOG der Katholischen Kirche Region Bern geleitet, längere Zeit im Team. In diesem Zusammenhang bist Du immer wieder dem Pfarrer der Nydeggkirche Kurt Marti begegnet. Erinnerst Du Dich an die erste Begegnung?
Die erste Begegnung liegt weiter zurück, nämlich in meiner Studienzeit in Luzern. Der damalige Regens, Otto Moosbrugger, hat Kurt Marti zu einer Lesung in das Seminar St Beat eingeladen. In meinem Bändchen ‘Rosa Loui’ steht das Autogramm zu lesen ‘Kurt Marti, 19.11.1972’. Es gibt eine noch frühere – meinetwegen virtuelle – Begegnung kurz vor meiner Matura (Abitur). Ein Kapuziner, Theologieprofessor, spielte mir die Abschrift einiger Gedichte aus ‘Rosa Loui, vierzg gedicht ir bärner umgangssprach’ zu. Er hatte sie aus dem Feuilleton der NZZ auf eine Schnapsmatrize getippt, vervielfältigt, und an Freunde und Bekannte verschickt. Zwei Freundschaften sind dadurch entstanden, jene zu Kurt Martis Texten und jene zum Kapuzinerpater.
Kurt Marti hatte bereits vor ‘Rosa Loui’ – also da gehört es nun hin, nämlich:
rosa loui
so rosa
wie du rosa
bisch
so rosa
isch kei loui süsch
o rosa loui
rosa lou
i wett
so rosa
wär ig ou
Loui = Lawine; Rosa Loui = Gletscher südlich von Meringen
Zurück zum begonnenen Satz. Kurt Marti hatte bereits vor dem Mundartbestseller ‘Rosa Loui’ eine stattliche Anzahl von Büchern, Büchlein veröffentlicht. Aber ‘Rosa Loui’ stand mit am Beginn einer Mundart-Renaissance. Literarisch und musikalisch wurde das ‘Bluemete Trögli’ hinter sich gelassen, und eine neue Entwicklung der Mundarten nahm ihren Lauf.
‘Rosa Loui’ stand mit am Beginn einer Mundart-Renaissance
Interessanterweise hat sich bei dem Sprachprozess die Berner Mundart an die Spitze dieser Renaissance gesetzt. Ich glaube, Bernerinnen und Berner finden nichts Besonderes daran, sondern finden es selbstverständlich.
Ich will hier beifügen: grosses Gewicht hatten für mich die befreiungstheologischen Texte von Kurt Marti, seine Theopoesie, die feministischen Anklänge in der Schöpfungstheologie und in seinen trinitarischen Texten, seine Predigten und zeitaktuellen Kolumnen.
Kurz und mutz, ich bin da sprachlich und gedanklich in etwas hineingeraten, das mich bis heute nicht mehr loslässt.
Gibt es Texte oder Gedichte, die Dir auf Anhieb lieb waren und es vielleicht immer noch sind?
Die ersten Gedichte, die ich kennenlernte, waren – wie oben erwähnt – jene ‘ir bärner Umgangssprach’. Das war Liebe auf den ersten Blick. Einige Kurzgedicht kamen des Öfteren zum Einsatz. Etwa:
kontiniuität
syt geschter
isch hütt
vo hütt a
isch morn
und öppis
isch gäng
oder
wo chiemte mer hi?
wo chiemte mer hi
wenn alli seite
wo chiemte mer hi
und niemer giengti
für einisch z’luege
wohi dass me chiem
we me gieng
und besonders aktuell
lippeschitft-notiz
zärtlechkeit
schneit
und schneit
uralt
i ne wält
wo fallt
und vergeit
Diese Gedichte gefallen mir in ihrer Knappheit und Treffsicherheit. Unter der Oberfläche, die einen vielleicht schmunzeln macht, leben Erfahrung und Reflexion und steckt ein philosophischer, theologischer Kern. Ja, sie haben mich stets begleitet, und ich konnte einige Gedichte jederzeit abrufen. Sie waren lebendig: par coeur.
Vielleicht habe ich das auch bei Kurt Marti gelernt: möglichst kurz und treffend zu sein. Das allerdings ist nicht ganz leicht.
Kurt Martis Lyrik ist gekennzeichnet durch eine starke Diesseits-Orientierung. Hat dies auch Deine Theologie geprägt? Was ist für Dich besonders bemerkenswert an der Theologie des Dichterpfarrers?
Was Du Diesseits-Orientierung nennst – nicht nur in der Lyrik, auch in der Theologie und beides ist oftmals verschränkt – das kam mir immer mehr entgegen. In meiner Arbeit wurden Themen wie Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung zentral, wurden befreiungstheologische, feministische Theologie, offene Kirche etc. ganz wichtig. Die Texte von Kurt Marti, Lyrik und Prosa, waren mir dabei Wegweiser und Leitplanke. Kurt Marti war nicht mein einziger Kirchenvater, aber ein besonders richtungsgebender. Gewiss, Kirchenmütter gab es auch. Diese heizten mir auf ihre Weise tüchtig ein.
die frohe Botschaft klipp und klar in unsere Zeit
Kurz zusammengefasst: Kurt Marti hatte die ausserordentliche Gabe, die frohe Botschaft klipp und klar in unsere Zeit zu sprechen. Alles Frömmlerische oder Dogmatische, Rigide, Moralinsaure war ihm abhold. Für mein Verständnis hat der Dichterpfarrer in einem unverfälschten Sinn auch fromme oder meinetwegen spirituelle Texte geschrieben. Ich sehe ihn die Augenbrauen hochziehen. Aber:
Dein Reich komme
Dein Reich komme,
weil Reichtum bunt erblühen will
in der Gerechtigkeit für alle,
in herzlicher Schwesterlichkeit, Brüderlichkeit,
in segensvollen Erfindungen,
in unserer Freundschaft mit der Natur
(um uns, in uns),
in Anbetungen jeder Art,
in Entfaltungen des Geistes,
in Erleuchtungen der Sinne
(mystisch, tantrisch, wie auch immer),
in der Allgegenwart und Allmacht der Liebe
– damit Du, unendlich reich schon immer,
schliesslich auch unter uns wirst
alles in allem.
Befreiungstheologie, Schöpfungstheologie, ja, auch feministische Theologie gehören ebenfalls zu Kurt Martis Werk. Habt Ihr zu diesen Themen gemeinsame Veranstaltungen durchgeführt?
Ich finde in den Büchern von Kurt Marti (es stehen deren 50 in meinem Büchergestell) die Spuren aller Themen, die Du erwähnst. Aber die Schöpfungstheologie lag ihm sehr am Herzen. Es gibt z.B. ein schmales Bändchen mit dem Titel ‘Schöpfungsglaube – Die Ökologie Gottes’. Verstreut in vielen Veröffentlichungen tauchen Gedanken zur Schöpfungstheologie auf.
Um des Ganzen Willen
Heilige Geistin!
Wandle unseren Sinn,
damit wir nicht bleiben, was wir waren,
damit wir nicht alles tun, was Menschen möglich wäre,
damit wir anfangen, andere zu werden
Um des Ganzen willen,
das wir aufs Spiel gesetzt haben:
Störe uns auf aus den Fiebertraum eigener Allmacht!
Heile unseren blinden Wahn
durch Deine Weisheit, den schönen Schalom.
Lass uns endlich wieder gesunden
durch die Liebe zu allem, was lebt.
Und: Kurt Marti war ein grosser Spaziergänger. Er hat seine Beobachtungen in der Natur in verschiedenen Büchern festgehalten. Dabei heisst Natur: die Umwelt bestaunen und ihre Verwüstung gleichzeitig feststellen. Unterwegs hat er auch Namen von Menschen festgehalten. Wer weiss schon, welche grossen Denkerinnen und Dichter, Revolutionäre und Künstlerinnen auf den Berner Friedhöfen ruhen?
Wer weiss schon, dass Max Horkheimer und seine Frau Maidon auf dem jüdischen Friedhof in Bern begraben sind? Der Spaziergänger Kurt Marti hat sie aufgesucht.
Der Spaziergänger Kurt Marti
Da Kurt Marti als Pfarrer in der Nydegg kirchlich/ökumenisch eine feste Grösse war, habe ich mit ihm vieles erlebt: Gottesdienste, Podiumsgespräche, Beiträge in der Weiterbildung von Frauen und Männern, die in der Erwachsenenbildung der Pfarreien und Kirchgemeinden tätig waren. Er war dabei bei den drei grossen Friedensnächten auf dem Gurten (Berner Hausberg), in der ersten Hälfte der achtziger Jahre. Ihn anzufragen und um Hilfe zu bitten, das war ein anderes Thema.
Zu dem allem:
körperkirche
die kirche
des geistes
sind unsere körper
(schrieb der epileptiker
einst nach korinth)
darum dann:
umarmungen, küsse
und heilige mähler
erst später:
kirchen aus stein
Gibt es eine besondere Begebenheit, die Du mit Kurt Marti erlebt hast, und den Leser:innen von feinschwarz.net gerne erzählen möchtest?
Spontan fallen mir zwei Begebenheiten ein.
Wie bereits angetönt, war es nicht einfach, Kurt Marti anzurufen, auch wenn man ihn recht gut kannte. Am besten atmete man, bevor man zum Hörer griff, gut durch. Dann wählen. Dann eine tiefe, knurrige Stimme sehr knapp: Marti. Einmal fragte ich nach dem Gruss höflich: Störe ich dich? Antwort: Du störst immer! Ja keine Aufregung, sondern hart dranbleiben und das Anliegen vortragen. Zuerst erfolgte die Abwehr: Das haben doch andere schon längst und besser gesagt etc. etc. Zum Ziel bin ich fast immer gekommen.
eine tiefe, knurrige Stimme
Die zweite Erinnerung. Ich wusste, dass Kurt eine italienische Spezialität sehr gerne hatte, nämlich Lamorresi – Pralinen mit alkoholischen Füllungen. Ich habe in ihren letzten Lebensjahren regelmässig Kurts Frau Hanni besucht. Hanni hat mir geflüstert, dass Kurt diese Lamorresi sehr gerne koste. Sie wurden zum jeweiligen Mitbringsel. Nach Hannis Tod zog Kurt ins Altersheim. Bei einem Besuch dort brachte ich wiederum die Lamorresi mit. Er bedankte sich freundlich und sprach die bedeutungsschweren Worte: Ja, Hanni hat diese Pralinen sehr geliebt.
Er hat Hanni so sehr vermisst. In seinem späten Büchlein ‘Heilige Vergänglichkeit – Spätsätze’ drückt er seinen Schmerz über den Verlust aus:
Die Geliebte verbürgte Wirklichkeit.
Jetzt bleiben bloss noch Schatten,
Wirklichkeitsschatten.
Hoffentlich weiss sie nicht, wie
unglücklich ich ohne sie bin.
Gibt es taugliche Witwer?
Ich jedenfalls bin keiner.
Gott ist nie Ersatz, erst recht nicht
für die lebenslang Geliebte.
Am Ende nochmals kurz und mutz: Kurt Marti war ein eindrücklicher und bewegender – im Wortsinn – Theologe, Pfarrer, Dichter und ein grosser Zeitgenosse.
geleitspruch
mit uns
die weltleidenschaft
des vaters
für uns
die feindesliebe
des sohnes
vor uns
die weibheiligkeit
ihres geistes:
um uns
die dreilebendigkeit
gottes
Herzlichen Dank, liebe Franziska, für die Einladung zu diesem Interview.
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Markus Friedli, Theologe und Erwachsenenbildner, erster Leiter der Fachstelle KIRCHE IM DIALOG der Katholischen Kirche Region Bern, nach einigen Jahren Co-Leiter mit dem Psychologen Urs Wettstein. Die Arbeit war von Anfang an ökumenisch, später auch interreligiös, ausgerichtet. Ein Schwerpunkt war die Verbindung von Kunst und Religion. In seine Dienstzeit fielen die Gründung der Offenen Kirche Heiliggeist, des Runden Tischs der Religionen und des Hauses der Religionen.
Bild: Nydeggkirche, Bern; Foto: Christoph Radtke auf Wikimedia Commons.
Bücher von Kurt Marti, aus denen zitiert wurde oder die im Text vorkommen:
- Abendland, Gedichte von Kurt Marti, Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1980
- Heilige Vergänglichkeit, Spätsätze, Radius, Stuttgart 2010
- Högerland, ein Fussgängerbuch, Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt a. M. 1990
- O Gott!, Essays und Meditationen, Radius, Stuttgart 1986
- Rosa Loui, Vierzg Gedicht ir bärner Umgangssprach, Luchterhand, Neuwied und Berlin 1967
- Schöpfungsglaube, Die Ökologie Gottes, Radius, Stuttgart 1983
- Tagebuch mit Bäumen, Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1985
- Wo chiemte mer hi? Gedicht und Schtückli ir bärner Umgangssprach, Fischer, Münsingen 1984
Zur Zeit erscheinen eine Reihe von Büchern mit nachgelassenen Texten von Kurt Marti oder über Kurt Marti.
Zum Tod von Kurt Marti am 11. Februar 2017 schrieb Erich Garhammer für feinschwarz.net den folgenden Nachruf:
https://www.feinschwarz.net/pfarrer-und-poet-zum-tod-von-kurt-marti/