Jan-Hendrik Herbst kritisiert Internet aus theologischer Perspektive.
Was soll die staubigste Wissenschaft zum Internet zu sagen haben, der digitalen Revolution der Menschheit? Theologie und Kirche nutzen das Internet als Medium – wie alle anderen. Als Gegenstand theologischer Reflexion spielt es dagegen selten eine Rolle: Wieso auch? Und von kirchlicher Seite hört man allenfalls belächelte Aussagen à la „Jesus wäre heute auf Facebook und auf Twitter“ (R. Zollitsch). Dabei gibt es gute Gründe in der befreiungstheologischen Tradition der Götzenkritik das Internet als locus theologicus zu begreifen.
Das Internet als locus theologicus
Theologie ist zuvorderst die Rede von Gott. Die Befreiungstheologie hat die monotheistische Tradition der Götzenkritik revitalisiert und als zentrale Aufgabe der Theologie herausgestellt. Exemplarisch kann diese an einer scharfsinnigen Erzählung aus dem Buch Daniel veranschaulicht werden. Der Prophet Daniel weigert sich eine Statue des Gottes Bel anzubeten, weil dies seinem Glauben widerspricht: „Ich verehre keine Standbilder, die von Menschen gemacht worden sind, sondern nur den lebendigen Gott, der den Himmel und die Erde erschaffen hat und die Herrschaft besitzt über alles, was lebt“ (Dan 14,5). Das erzürnt den König, der Bel für lebendig hält. Die zwölf Scheffel Feinmehl, vierzig Schafe und sechs Krüge Wein, die dem Gott täglich geopfert werden, sind am nächsten Morgen verschwunden, obwohl der Sakralraum verschlossen ist. Deshalb fordert der König einen Nachweis: Entweder Daniel oder die Priester des Bel müssen sterben, je nachdem, wer seine Position belegen kann. Die Priester kennen einen verborgenen Zugang zum verschlossenen Raum und erlaben sich in der Nacht mit ihren Familien an Speis und Trank. Daniel jedoch entlarvt sie, indem er Asche auf den Boden des Sakralraumes streut und ihre Fußspuren nachweisen kann. Die Priester werden getötet, während Daniel die Statue aus Lehm und Bronze zerstören darf.
Die Befreiungstheologie hat die Götzenkritik revitalisiert.
In dieser Perikope werden einige Elemente der Götzenkritik verdeutlicht. Der Gegenstand der Kritik ist ein Götze, ein von Menschen gemachter Gott, der nicht als solcher erkannt wird. Die Verehrung des Götzen hat reale Auswirkungen auf die sozialen Verhältnisse: Die Priester erlangen einen materiellen Nutzen und können sich persönlich bereichern und die Machtposition des Königs wird gestärkt. Der Götzendienst wahrt einen Schein unter dessen Deckmantel Ausbeutung passieren kann: Die religiöse und politische Herrscherklasse nutzt das Volk zu ihrem eigenen Vorteil aus, indem sie die Früchte ihrer Arbeit bei einem „heiligen Spiel“ umverteilen. Erst Daniels Kritik, eine Entlarvung des falschen Bewusstseins durch erklärende Entmystifizierung, beendet das falsche Spiel. Götzenkritik ist demnach eine Veröffentlichung der heimlichen Spielregeln, eine Entzauberung des Kults.
Götzenkritik als Entzauberung des Kults
Pablo Richard hat der Götzenkritik die bedeutsame Unterscheidung vom „Gott des Lebens“ und den „Götzen des Todes“ vorangestellt. Der Gott des Lebens will ein Leben in Fülle für alle, er steht ein für den Vorrang des Menschen vor den falschen Göttern. Götzendienst tritt dann auf, wenn der Mensch von ihm selbst geschaffene Wirklichkeiten verabsolutiert und damit zu einem Gott macht, z.B. Geld, Markt oder Technik. Götzendienst bedeutet hier: Der biblische Gott wird durch andere Götter ersetzt. Diesen Göttern wird der Mensch untergeordnet, er wird Mittel zum Zweck des Götzendienstes, es passiert eine Prioritätenverschiebung.
Aus der prophetischen Kritik der Bibel speist sich für die Theologie der Befreiung ein Zugang zur marxistischen Ideologiekritik, die mit Begriffen wie Entfremdung und Fetischismus Götzendienst beschreibt. Die Kritik bekommt mit Marx, später auch mit Simmel sowie Benjamin das begriffliche Instrumentarium, um auf den Kapitalismus angewendet zu werden: „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, das heißt der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben“ (W. Benjamin). Der Kapitalismus erfüllt dabei die Funktion einer Religion. Im Blick auf diese Funktion des Kapitalismus hat die Theologie eine ureigene Kompetenz in der Analyse und Beurteilung sozio-ökonomischer Fragen. Kann sie diese auch für das Internet nutzbar machen?
Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken.
Aufgrund der ökonomischen Transformationen von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft bedarf es einer Aktualisierung, einer kritischen Analyse des digitalen Kapitalismus. Die Wirtschaft beruht nicht nur auf digitalen Infrastrukturen, die großen kapitalistisch orientierten Firmen wie Google und Facebook prägen unsere Gesellschaft und – das ist das Entscheidende – haben die Produktionsformen fundamental verändert: Sie produzieren selbst nichts, weder materiell noch immateriell, sie strukturieren und organisieren riesige Mengen an Daten, die breite Bevölkerungsschichten hervorbringen und erwirtschaften damit phänomenale Gewinne. Facebook hat beispielsweise einen Börsenwert von ca. 300 Mrd. Dollar und der durchschnittliche Preis eines Facebook-Accounts beträgt laut dem Forbes Magazin 128 Dollar. Aufgrund ihrer Macht werden die großen Konzerne auch als „Ruling Class of the Digital World“ (Nenad Romic) bezeichnet.
Diese Firmen repräsentieren den Glauben, den es aus theologischer Perspektive zu kritisieren gilt. Sie stehen für das Silicon Valley und den neuen religiösen Kult einer digitalen Gottheit: Der technische Fortschritt könne alle Menschheitsprobleme in naher Zukunft lösen. Dieser Glaube kulminiert im Transhumanismus, der Vorstellung, dass der Mensch durch Technologie und eine Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz nicht nur verbessert, sondern überwunden werden kann. Einer der Vordenker*innen des Transhumanismus ist der Google-Manager Ray Kurzweil. Er spricht von „Singularität“, einem einmaligen Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung: Ab diesem Zeitpunkt sollen Maschinen sich selbst optimieren können – ohne menschliche Eingriffe. Kurzweil prophezeit, dass die Menschheit damit Unsterblichkeit erlangen könne. Auch wenn diese Ideen nach Science-Fiction klingen, hängen ihnen viele finanzstarke digital player an. Es ist offensichtlich, dass hier der absolute Vorrang des Menschen in Frage gestellt wird.
Facebook und Google repräsentieren den Glauben, den es aus theologischer Perspektive zu kritisieren gilt.
Diesen Glauben haben Richard Barbrook und Andy Cameron in ihrem bahnbrechenden Aufsatz „Die kalifornische Ideologie“ beschrieben. Er bestehe aus einem Amalgam von emanzipativen Werten wie Demokratie, Toleranz, Selbsterfüllung, sozialer Gerechtigkeit und neoliberalen Methoden. Die Kapitalisierung von Emanzipationsidealen führt zu einer neuen Form der Ausbeutung, die nicht mehr nur die Arbeitskraft, sondern den ganzen Menschen betrifft. Ausbeutung im digitalen Kapitalismus beruht auf der Selbstoptimierung der Subjekte und ihrer sozialen Beziehungen. Die Nutzung der digitalen Medien wird normalerweise als Service und Konsum angesehen, nicht aber als Produktion. Wenn Daten wirklich der Rohstoff des 21. Jahrhunderts sind, gilt es jedoch diese zweite Perspektive zu schärfen. Es bräuchte eine Mehrwerttheorie des 21. Jahrhunderts, mit der die Ausbeutung quantifiziert und erklärt werden könnte.
Dabei scheinen Selbstvermarktung und Identitätsdesign im Interesse der Einzelnen zu stehen. Erst eine Analyse der „geheimen Spielregeln des Kults“ offenbart, dass es sich dabei um die Internalisierung eines sozialen Mechanismus handelt, den Michel Foucault in seinem Werk Überwachen und Strafen beschreibt. Dabei bezieht er sich auf das Panopticon, ein ursprünglich von Jeremy Bentham entworfenes Gefängnis, das einen humaneren und effizienteren Strafvollzug durch optimale Überwachung zum Ziel hatte. In der Mitte des Gefängnisses steht ein großer Turm, um diesen sind die isolierten Zellen kreisförmig angelegt. Vom Turm aus kann jede Zelle eingesehen werden, während der Blick in den Turm nicht möglich ist. Alle Häftlinge stehen also unter potenzieller Beobachtung, wodurch mit unglaublich geringem Aufwand sehr viele Gefangene kontrolliert werden können. Foucault bezieht dieses Modell auf Disziplinarinstitutionen wie eine Fabrik, ein Krankenhaus oder eine Schule und vermeint damit den Machtmechanismus moderner Gesellschaften beschreiben zu können. Die potenzielle Beobachtung führt zu einer Steigerung der individuellen Konformität und der kollektiven Nützlichkeit. Es findet eine Internalisierung statt, sodass die Einzelnen ihr Handeln als intentional begreifen, während der Mechanismus unbewusst wirkt. Heute bedarf es jener Institutionen nicht mehr: Das Internet erweist sich als digitales Panopticon (Byung-Chul Han), wobei die „Beobachteten“ an dessen selbst Bau mitwirken, weil sie auch „Beobachtende“ sind – wenn auch ohne Deutungshoheit. So werden die persönlichen Daten dem digitalen Bel zum Opfer dargebracht, während die Priester im Silicon Valley sich an diesen bereichern und gleichzeitig eine bequeme Gegenwart und eine verheißungsvolle Zukunft versprechen. Die Verteilung der Rollen im „heiligen Spiel“ scheint klar zu sein, doch wer ist der König?
Die persönlichen Daten werden so dem digitalen Bel zum Opfer dargebracht, während die Priester im Silicon Valley sich an diesen bereichern und gleichzeitig eine bequeme Gegenwart und eine verheißungsvolle Zukunft versprechen.
In einer Demokratie ist jede*r Bürger*in auch König*in, wenn auch vielleicht nur in einer konstitutionellen Monarchie (Slavoj Zizek). Die Rollen von Volk und König scheinen heute tatsächlich zusammenzufallen, denn alle halten den panoptischen Mechanismus aufrecht und könnten ihn dadurch auch beenden. Jedoch führt eine Veröffentlichung der Spielregeln noch nicht – wie bei Daniel – zu der Auflösung des Spiels. Vielmehr muss jede*r zu Daniels Imperativ „Lass dich nicht täuschen, König!“ Position beziehen. Dabei gibt es letztendlich zwei idealtypische Reaktionen: Der radikale Schutz der Privatsphäre zum Beispiel durch individuelle Verschlüsselung, staatliche Reglementierungen und eine Verringerung der Mediennutzung oder neuerdings auch die vollkommene Veröffentlichung aller Daten, was die asymmetrischen Zugangsmöglichkeiten zu ihnen unterwandern würde (Post Privacy). Make your choice!
(Bild: hauku/pixelio.de)