Proletin und Prophetin. Christiane Florins Dankrede zum Walter-Dirks-Preis, verliehen am 6. Mai 2023
Das ist mein dritter Preis, komischerweise habe ich bisher ausschließlich Auszeichnungen gewonnen, die nach Personen benannt sind. 2001 Ernst Robert Curtius, 2019 Maria Grönefeld, nun Walter Dirks. Ein Essayist, eine Feministin, ein Sozialist. Ein Mann, eine Frau, ein Mann …
Marion Gräfin Dönhoff, Grande Dame der Wochenzeitung „Die ZEIT“, hat vor Lob gewarnt. Ein Journalist sei nicht dazu da, „ein Rad zu schlagen wie ein Pfau und zu rufen: ,Seht her, habe ich das nicht schön gemacht?‘“ Ob Pfauenweibchen mitgemeint sind, lässt die Gräfin offen. Die prächtigen Federn zum Rad schlagen, haben jedenfalls nur Männchen.
Um als Pfauenfrau nicht in die katholische Bescheidenheitsfalle zu tappen: Ich könnte mich an Lobreden gewöhnen und erst recht an solche Lobrednerinnen wie Julia Knop! Lob kann süchtig machen, abhängig. Ich bin so frei zu sagen: Trotz des Dirks-Preises wird aus mir keine christliche Sozialistin oder sozialistische Christin. Journalistin muss reichen.
Gräfin Dönhoff soll auch gesagt haben, in ihrer Zeitung wolle sie keinen Artikel über Frisuren lesen, guter Journalismus befasse sich nicht mit Haaren. Zum Curtius-Preis habe ich über das Thema „Haare lügen nicht“ gesprochen. 2001 war die Zeit, als beim damaligen Bayer Leverkusen-Trainer Christoph Daum Kokainspuren im Haar festgestellt worden waren und als die Haarfarbe des Bundeskanzlers Gegenstand zunächst von Berichten und dann von höchstrichterlichen Entscheidungen war.
Jetzt, 20 Jahre seriöser, lasse ich die Haare weg und rede gleich übers Lügen. Und das hat mit Walter Dirks zu tun.
Eines der wenigen wissenschaftlichen Bücher über Walter Dirks heißt „Sagen, was ist“. Dieser Satz wird meistens dem „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein zugeschrieben, im Spiegel-Verlagshaus in Hamburg ist er verewigt. Der Satz gehört aber auch Walter Dirks. Es ist die knappste, treffendste, schönste Beschreibung von Journalismus. Sich beobachtend, recherchierend, fragend, hörend, schreibend, sprechend, der Wirklichkeit annähern. Der Wirklichkeit gerecht werden. Und den Menschen gerecht werden, die diese Wirklichkeit ausmachen.
Sagen, was ist. Bewusst vermeide ich „Wahrheit“. Das große Wort ist entwertet durch kirchliche Vertuscher, zu deren Ehren allen Ernstes Festschriften mit dem Titel: „Die Wahrheit wird euch freimachen“ herausgegeben wurde. Entwertet durch höchstrangige Ich-War’s-Nicht-und-ich-wusste-nichts-Sager, die sich laut Bischofswappen als „Mitarbeiter der Wahrheit“ sehen. Dann bin ich lieber Arbeiterin, ach was: Proletin der Wirklichkeit.
Wo Sie gerade sagen: Sozialismus.
Ich entstamme dem rheinischen Arbeiteradel in 50. Generation. Bin die erste in der Familie, die Abitur gemacht, studiert und promoviert hat. Je älter ich werde, desto mehr glaube ich, dass die soziale Herkunft prägt. Aus einem, wie Annie Ernaux es nennt, beherrschten Milieu zu kommen, macht sensibel für Machtverhältnisse, weltlich wie kirchlich.
Die Mutter meiner Mutter war Mädchen für alles, in einem Kloster-Internat für höhere Töchter. Sie musste für die weiblichen Herrschaften den Boden fegen, Betten machen, Nachttöpfe auskippen. Als gute Katholikin sollte sie ihren niederen Dienst demütig lächelnd tun, das war der Platz für ein einfaches Mädchen vom Land Anfang des 20. Jahrhunderts. Höre ich heute von Kirchenmännern: „Alle Macht ist Dienst“, glaube ich ihnen schon deshalb nicht, weil man hochwürdigste Herren so selten bodenfegend und nachttopf-leerend sieht.
Das Klassenklischee will es, dass das Proletariat keine Zeit hat für wolkige Worte. Wer die Hände an der Kittelschürze abwischt, redet real und reell, offen und ehrlich. Sagt, was ist.
Schön wär’s! In der Wohnküche meiner Oma habe ich – wie mir mit dem Abstand vieler Jahre bewusst wird, – einiges über die Eleganz des gut katholischen Lügens gelernt. Eine unschätzbar wertvolle Erfahrung aus der kleinen Welt für die größere Bühne.
Und das kam so: Meine Mutter war berufstätig. Nach der Schule ging ich zu meiner Oma, aß dort zu Mittag und machte meine Hausaufgaben. Nachmittags kamen die Freundinnen meiner Oma und bestaunten, was man auf dem Gymnasium so alles lernt (Englisch, Latein). Die Frauen waren mindestens 70, meistens kamen sie vom Arzt. Im Rheinischen gibt es für diese Tätigkeit ein Verb: „doktern“. (Konjugation: Ich gehe doktern, du gehst doktern, gern im Pluralis Majestatis: Wir gehen doktern).
Die Freundinnen meiner Oma waren fromme Frauen, Marienverehrerinnen. Ein Arztbesuch war auch eine Art Wallfahrt. Eine ging immer nach dem Arztbesuch in die Drogerie oder Apotheke. Was sie genau kaufte, wussten wir nicht. Die Tasche hielt sie festverschlossen, mutmaßlich wollte sie im Wettbewerb der Wundermittel vorn liegen. Bei der Gesundheit hören Freundschaft und Nächstenliebe auf, habe ich damals gelernt.
In der Küche ging ein anderer Wettbewerb los: Die Vitalwerte wurden verglichen. „Ich habe den Zucker auf 200!“ (Es hieß nie: Diabetes, immer Zucker). „Ich auf 220!“. Die dritte schwieg lange, schaute in die Runde und sagte dann: „Drei-Hun-Dert“. Stille. Andacht. Aber nur kurz. Der Blutdruck kam dran. Ein oberer Wert – das Wort Systole war unbekannt – von 160 provozierte nur ein mildes Lächeln, garantiert hatte eine andere 190 zu bieten. Auch dieser Rekord hielt nicht lange: „160, dat ist bei mir der untere Wert!“, sagte die dritte. Ehrfurcht, wieder Stille. Dann eine jute Tasse Kaffee.
Die Frauen sagten, was ist. Könnte man meinen. Aber: Jedem objektiven Messwert ging eine Aufforderung voraus, deren berufsbildende Relevanz sich mir erst später erschlossen hat: „Loss mich net leje“. Hochdeutsch: Lass mich nicht lügen. Dann kam der Messwert.
Der geniale Kabarettist und Psychologe Konrad Beikircher lässt sich diesen Satz auf der Zunge zergehen. Er analysiert: „Eine Redensart, die sogar die Möglichkeit der eigenen Wahrheitsverdrehung prophylaktisch dem anderen aufs Auge drückt. Nach dem Motto: ich hätte ja nicht, aber der da…“
Lass mich nicht lügen! Wenn ich die katholische Kirche als Verantwortungsverdunstungsbetrieb bezeichne, dann wissen Sie, wo das herkommt: aus dem Küchendunst der Kindheit. Schwestern im Dunst. Was bei den Ohnmächtigen damals rheinische Folklore war, ist bei den Mächtigen gefährlich.
Seit 13 Jahren befasse ich mich journalistisch mit Religion. Walter Dirks hat sich als über 80jähriger gefragt: „War ich ein linker Spinner?“
Ich frage mich: War ich naiv, als ich mich für kritisch hielt? Ich habe vor zehn Jahren noch nicht damit gerechnet, in Interviews mit Kirchenmännern angelogen zu werden und es nicht zu merken, weil da kein Zittern in der Stimme ist. Keine verdrehten Hände, wenn die Wahrheit verdreht wird. Bedauerliche Einzelfälle, nichts geahnt, nichts gewusst – nicht befasst. Den Rest regelt der Anwalt. Jesus war Jurist.
„Fehler“ haben einige Bischöfe eingestanden. Aber noch immer drücken sie die Wahrheitsverdrehung prophylaktisch oder hinterher einem anderen aufs Auge. Dem System. Dem Klerikalismus. Den Medien.
Niemand hat gesagt: „Mir waren die Kinder, die Jugendlichen, die Familien nicht so wichtig. Mir war die eigene Karriere wichtiger oder die eines klerikalen Bruders wichtiger als der Schutz der Schwachen. Mir war es zu unbequem, mich mit allen anzulegen.“ Solche Worte wären nah an der Wirklichkeit, das ergeben nicht nur meine investigativen Messungen klerikaler Vitalwerte. Aber sie sind zu schrecklich, um wirklich ausgesprochen zu werden. Dann doch lieber: „Ich wollte den Ruf der Kirche schützen.“ Das klingt wenigstens ein bisschen edelmütig.
Hat jemand gestanden: „Ich habe gelogen“? Ich wüsste nicht. Statt dessen: „Der Zeitgeist war ein anderer, wir wussten nicht, wie schlimm Missbrauch ist.“ Als wäre Wahrheitsverdrehung bloß ein Kommunikationsfehler. Das Wort Kommunikationsfehler selbst ist oft eine Lüge.
2018 habe ich auf der Pressekonferenz zur MHG-Studie gefragt, ob von den über 60 vollversammelten Bischöfen einer oder zwei von sich sagen würden, er habe so viel persönliche Schuld auf sich geladen, dass er das Amt nicht mehr tragen kann, antwortete der damalige Bischofskonferenz-Vorsitzende Reinhard Marx einsilbig: Nein. Danach gab’s viel Post. Kritik kam – für mich nicht überraschend – aus dem sogenannten Reformlager, dessen Darling Marx war. Es braucht nicht viel, um Kardinal auf liberal zu reimen. Die Frage sei übergriffig, simste mir ein Funktionär. Nach dem Motto: Nun lassen Sie den Kardinal doch nicht lügen! Lügen und lügen lassen – der Co-Klerikalismus ist recht vital.
Anders als das Sprichwort behauptet, haben Lügen keine kurzen Beine. Man kommt immer noch weit damit. Wäre es anders, würde es sich nicht lohnen, mit dem „nichts gewusst“, „nichts geahnt“ weiterzumachen, mit juristischen Haarspaltereien von „befasst sein“ und „befasst werden“, von „sehen, aber nicht lesen“, „unterschreiben, aber nicht zur Kenntnis nehmen“. Der Priester habe sich vor dem Kind nur entblößt, es aber nicht berührt, meinte Joseph Ratzinger differenzieren zu müssen.
Wir reden hier nicht über Haarfärbemittel, nicht über journalistische Pfauenfedern nach dem Motto: Wie können Sie es wagen, eine öffentlich-rechtliche Redakteurin zu belügen?!
Wir wüssten nichts, wenn nicht Betroffene sexualisierter und spiritueller Gewalt sich mutig an Medien gewandt hätten. Kein Kirchenmann, kein Bischof hat von sich aus gesagt, was ist. Erst haben sie bestritten, jetzt beschäftigten sie Gutachter, um zu erfahren, was sie selbst doch am besten wissen müssten. Aber Wissen ist nicht strafbar und für Moral gibt’s kein gutachterliches Messgerät. Mir geht der Blutdruck auf 180 unterer Wert! – wenn sich amtierende Bischöfe von ihren Vorgängern distanzieren, als seien sie klerikale Quereinsteiger.
Wirklichkeit ist konkret. Nicht zu sagen, was ist, fügt Menschen konkretes Leid zu. Julia Sander vom Betroffenenbeirat Freiburg hat in einem Interview erklärt: „Ich weiß, was es bedeutet, zu wissen, wie etwas war. Das macht es nicht besser oder schlechter, aber dann kann ich es verarbeiten. Wenn eine Frage nicht aufgeklärt wird, dann kann ich es nicht verarbeiten.“
–
Bischöfliche Imagefilme säuseln: „Wir stehen an der Seite der Betroffenen“. Ich stehe da nicht. Ich glaube nicht der Erzählung dahinter, dem Narrativ: Wir sind auf einem guten Weg, jetzt sind die anderen dran, die Sportvereine, der Staat. Es gibt keinen Kulturwandel in der Kirche ohne Systemwandel, keine Gerechtigkeit ohne ein Durchbrechen der Machtachsen, wie es die Theologin Doris Reisinger genannt hat. Und die Machtachsen stehen unverändert.
Als Journalistin bin ich nicht Anwältin der Opfer, Anwältin der Wirklichkeit. Öffentlich das Unrecht Unrecht nennen und die Lüge Lüge – das ist lebenswichtig für die Opfer von Unrecht und Diskriminierung. Das habe ich gelernt von den vielen, die keine Narrative haben, sondern eine Lebens- und Leidensgeschichte, die sie mir anvertraut haben. Die offen zu mir sprechen, ohne dass ich etwas versprechen kann. Ihnen gilt mein erster und größter Dank! Journalist*innen haben die Wahl, ob und wie intensiv sie sich mit dem Thema Missbrauch beschäftigen. Betroffene haben diese Wahl nicht.
–
Noch kurz vor Schluss ein Wort zum anderen schreienden Unrecht, dem, was ich das Frauendings nenne. Auch da wünsche ich mir, dass jene, die Nicht-Männern die Gleichberechtigung verweigern, das Lügen sein lassen. Sie sollen nicht immer Jesus, den Mann, vorschieben und seine männlichen Apostel, wenn sie eigentlich sagen wollen: „Mich stören die Weiber“.
Sie sollen nicht weichgespült-verständnisvoll daherreden, als gehe es um Ungerechtigkeitsempfindensminderung. Die lange Geschichte der kirchlichen Frauenverachtung, der Frauenfeindlichkeit, der Gewalt in Worten und Werken ist eine Tatsache, kein subjektives Gefühl.
–
Die alten Frauen in der Küche meiner Oma waren zutiefst eingeschüchtert von der katholischen Moral. Zornige alte Männer gab es damals schon, eine zornige alte Frau zu sein, galt als Sünde. Jene, die sie gefragt haben, wo nach Kind Nummer 6 Kind Nummer 7 bleibt, die sich als Lebensschützer gerieren, haben sich, wie wir jetzt wissen, für die Verbrechen an schon geborenen Kindern keinen Deut interessiert. Und geweihte Männer befinden bis heute, wie eine gute katholische Frau zu sein hat und welchen Platz sie einzunehmen hat, die Küche sieht bloß anders aus als damals.
Liebe Entscheider – das Wort muss ich nicht gendern: Lasst euch nicht lumpen: Wenn ihr damit aufhören wollt, dann hört damit auf! Wäre doch schön, wenn der Global Player römisch-katholische Kirche nicht auf der Seite der Global-Patriarchen und Diskriminierern stünde. Vom Evangelium her, wie ich es verstehe, spricht nichts dagegen. Nihil obstat.
Wo Sie gerade sagen verstehen:
Vor drei Jahren hat Christ&Welt in der ZEIT einen Auszug aus meinem Buch „Trotzdem“ gedruckt. Was vom Glauben übrig blieb, hieß das letzte Kapitel. Bei Wettbewerben um die spirituellste Strahlung und das brennendste Bekennen muss ich passen. Christentum ist für mich seit der Teestube der katholischen Landjugendbewegung Niederkassel-Mondorf essentiell mit dem Streben nach Gerechtigkeit, genauer: nach gerechten Verhältnissen verbunden. Und zwar hier auf Erden, nicht im Jenseits. Im Buch steht, dass Macht Kontrolle braucht, zeitliche Begrenzung und Legitimation von unten, nicht von oben. Wer oben ist, sollte Rechenschaft nach unten ablegen.
Ein Bischof ließ mich daraufhin wissen, dass er mir beinahe in einer Abwehrreaktion unterstellt hätte, vom Evangelium fast nichts verstanden zu haben.
Meine Reaktion: Ein Bischof, der darüber befindet, wer etwas vom Evangelium verstanden hat und wer nicht? Das wüsste ich aber!
Mit 22 hätte ich mich das nicht getraut, mit 32 auch nicht, mit 52 schon. Ob Jesus ein Sozialist war? Ein Feminist? Ob er sich beim Weiberaufstand unterhaken würde? Ich bleibe skeptisch allen gegenüber, die behaupten, genau zu wissen, was dieser Jesus gewollt und gestiftet hat. An dieser Stelle ein besonderer Gruß an das von Jesus, ach was, von Gott höchstselbst gestiftete Erzbistum Köln. Die Post kam übrigens nicht von dort.
Und Sie machen mich nun durch diesen Preis von der Arbeiterin der Wirklichkeit, von der Proletin zur kleinen Prophetin. Über Walter Dirks hieß es in einer Deutschlandfunk-Sendung zum 100. Geburtstag, also 2001, nahezu jede seiner Prognosen zur Zukunft der jungen Bundesrepublik habe sich als falsch erwiesen.
Sollten Sie meine Dienste als Prophetin in Anspruch nehmen wollen, erkläre ich prophylaktisch: Lassen Sie mich nicht lügen! Wenn ich daneben liege, werde ich mich nicht daran erinnern, jemals etwas gesagt zu haben. Wenn ich recht behalte, dürfen Sie mich große Prophetin nennen.
Dank…
Ich danke Ihnen, dass Sie sich mitfreuen über Lob&Preis.
Allen, die sich nicht mit mir freuen, denen kann ich tröstend mitteilen, was ich im eingangs zitierten Buch über Walter Dirks gelesen habe. Da stand, Zitat: „Mit zunehmendem Alter verblasste umgekehrt proportional zu der steigenden Zahl der Ehrungen die Aufmerksamkeit für seine politischen Anstöße.“ Zitat Ende.
Liebe Rechtsgläubige: Noch drei Preise mehr und mir hört keiner mehr zu!
—
Beitragsbild: Christiane Florin
Laudatio von Julia Knop anlässlich der Preisverleihung: