Zum 80. Todestag von Janus Korczak geht Barbara Staudigl dem beeindruckenden Arzt, Schriftsteller und Pädagogen aus dem Warschauer Ghetto nach und fragt nach seiner Bedeutung für die Gegenwart.
Janusz Korczak wurde am 7. August 1942 von den Nationalsozialisten ermordet. Am Morgen des 5. August waren SS-Männer mit Hunden vor dem Waisenhaus im Warschauer Ghetto aufmarschiert und hatten die Räumung befohlen. Korczak bat darum, die Hunde abzuziehen, weil sie den Kindern Angst machten. Dann zogen sie los, 200 Kinder aller Altersgruppen, ruhig, gefasst, Korczak folgend. Am Umschlagplatz des Danziger Bahnhofs stiegen sie in die Züge nach Treblinka. Sein Wirken wird beeindruckend in dem polnischen Film „Korczak“ von Andrzey Wajda dargestellt.
„Sie würden zusammen bleiben
bis zum Schluss.
Seit 1940 hatte Korczak versucht, seinen jüdischen Kindern des Waisenhauses Dom Sierot, das er seit 1912 mit Stefania Wilczinska geleitet hatte, im Ghetto einen normalen Alltag zu ermöglichen. Alle Angebote, die den berühmten Dr. Korczak ins Ausland bringen sollten, hatte er abgelehnt. Alle Angebote, einige Kinder aus dem Ghetto zu schmuggeln, hatte er abgelehnt. Er würde keine Selektion vornehmen. Sie würden zusammen bleiben bis zum Schluss. Was in Treblinka mit den Kindern geschah, ob sie zusammen bleiben durften oder getrennt wurden, ob ihnen ein schneller Tod oder grausame Experimente durch die NS-Schergen zugedacht war, weiß man nicht. Auch nicht, wann genau Korczak und Wilczinska ermordet wurden. Als amtlicher Todestag von Janusz Korczak gilt der 7. August 1942, von Stefania Wilczinksa der 6. August 1942.
„Einer der berühmtesten Kinderbuchautor*innen Polens
Lasst uns Achtung haben vor der Unwissenheit des Kindes. (…)
Lasst uns Achtung haben vor der Erkenntnisarbeit des Kindes.
Lasst uns Achtung haben vor den Misserfolgen und Tränen. (…)
Trotzige und launische Tränen – das sind die Tränen der Schwäche und der Rebellion, der verzweifelte Versuch des Protests, ein Hilferuf, eine Klage über die Vernachlässigung,
ein Zeugnis dafür, dass man die Kinder einengt und zwingt,
Zeichen eines schlechten Befindens und immer ein Leid.
Lasst uns Achtung haben vor dem Eigentum des Kindes und vor seinem Budget.
Das Kind teilt schmerzlich die materiellen Sorgen der Familie, empfindet den Mangel, vergleicht die eigene Armut mit dem Wohlstand des Kameraden.
Lasst uns Achtung haben vor den Geheimnissen und den Schwankungen der schweren Arbeit des Wachsens. (…)
Lasst uns Achtung haben vor der gegenwärtigen Stunde, dem heutigen Tag.
Wie soll es morgen leben können, wenn wir ihm heute kein bewusstes, verantwortungsvolles Leben ermöglichen?
Lasst uns Achtung haben vor jedem einzelnen Augenblick, denn er verlöscht und wird sich nie mehr wiederholen, man muss ihn immer ernst nehmen;
wird er verwundet, so blutet er, wird er getötet, so wird er mit dem Gespenst böser Erinnerungen schrecken.
Wir wollen ihm doch gern erlauben, voller Vertrauen die Freude des Morgens zu trinken.“[1]
(Korczak)
Und auch wenn sich 100 Jahre später die Lebensumstände von Kindern grundlegend verändert haben, wenn Möglichkeiten der Geburtenkontrolle die Zahl der Kinder drastisch reduziert haben – noch immer und erst recht inmitten der Corona-Krise, des Ukraine-Konflikts, einer Leistungsgesellschaft und der Klimakrise verdienen und brauchen sie unsere Achtung und unsere Aufmerksamkeit.
„Zunahme von psychischen und sozialen Auffälligkeiten bei Kindern.
Lasst uns Achtung haben vor Kindern, die während der Corona-Krise ihrer Sozialkontakte und ihrer natürlichen Lernumgebung beraubt wurden.
Während der Corona-Pandemie wurden die Bewegungs- und Sozialräume von Kindern massiv beschnitten: kein Kindergarten, keine Schule, keine Sport- und Musikvereine. Erst spät kamen kritische Stimmen auf, ob man Kindern all dies zumuten dürfte. Und alle Bildungs- und Betreuungseinrichtungen berichten von einer enormen Zunahme psychischer und sozialer Auffälligkeiten bei Kindern, die während des Lock-downs reduziert waren auf die familiäre Situation, wie auch immer diese aussah, wie groß die Platznot oder der finanzielle Mangel, wie überfordert die Eltern auch waren, die Home-Office, Home-Schooling, zeitliche und räumliche Engpässe und die Alltagsrhythmen und Bedürfnisse aller Familienangehörigen managen mussten: Lasst uns Achtung haben vor den Kindern, die diese Situation aushalten mussten – und lasst uns Achtung haben vor ihrem schweren Weg zurück in ein „normales“ Leben, das nicht allen gleich gut gelingt. Auch wenn sie auffallen, Aufmerksamkeit auf sich ziehen, es ihnen schwer fällt, Regeln einzuhalten: Lasst uns nicht vergessen zu fragen, was ihnen fehlte in den Zeiten der Corona-Krise und was ihnen aktuell fehlt.
„Leben und Alltag aus dem Blick der geflüchteten Kinder betrachten.
Lasst uns Achtung haben vor Kindern, die auf Grund des Ukraine-Kriegs aus ihrer natürlichen Umgebung herausgerissen wurden
Natürlich ist unser Vorschul- und Schulsystem überfordert. Die ukrainischen Kinder kommen zu uns in einer Situation, in der das Bildungssystem nach der Flüchtlingskrise von 2015, nach der Corona-Krise 2020 und 2021 und auf Grund eines massiven Lehrer*innenmangels schwer belastet ist. Aber lasst uns nicht vergessen, das Leben und den Alltag aus dem Blick der geflüchteten Kinder zu betrachten, die ohne Sprachkenntnisse in Kindertagesstätten und Schulen landen, die kein richtiges Zuhause haben, die den Vater, die Großeltern, die Heimat vermissen und existenzielle Angst kennen gelernt haben. Lasst uns ihre Seele nicht vergessen inmitten der Systemzwänge von Aufsichtspflicht und Notendruck. Lasst uns nicht vergessen zu fragen, was sie brauchen in der gegenwärtigen Stunde.
„frühe und unmenschliche Selektion in einem dreigliedrigen Schulsystem
Lasst uns Achtung haben vor Kindern, die Normen ausgesetzt sind und erleben, dass sie diesen nicht genügen.
Ich habe 18 Jahre lang an Realschulen in Bayern unterrichtet. Keinen Termin hasste ich mehr als den Probeunterricht, der an den aufnehmenden Realschulen oder Gymnasien drei Tage lang Grundschulkinder testete, die nicht den erforderlichen Schnitt für den Übertritt mitbrachten. Drei Tage mit Prüfungen, an deren Ende ein „bestanden“ oder „nicht bestanden“ steht. Es ist eine frühe und meines Erachtens unmenschliche Selektion in einem dreigliedrigen Schulsystem, das einem zehnjährigen Kind bei Nicht-Bestehen eine unglaubliche Frustrationstoleranz abverlangt.
Was geht in einem Kind vor, wenn der ersehnte Brief eintrifft und es zappelig vor den Eltern sitzt, die ihn öffnen? Wie viele Tränen fließen, wenn man nicht bestanden hat? Wie verarbeiten Kinder die Enttäuschung, die sie selbst empfinden, mehr noch aber die, die sie vermeintlich den Eltern zugefügt haben? Woher nehmen sie nun einen Selbstwert, der ihnen gerade genommen wurde?
Und jene Kinder, die im Laufe ihrer Schulkindheit auf Legasthenie, Lese-Rechtschreib-Schwäche, ADS und ASHS getestet werden: Wie fühlen sie sich, wenn sie erleben, dass sie nicht der Norm entsprechen, die gesellschaftliche Kräfte definieren? Lasst uns Achtung haben vor Kindern, denen wir diese Frustrationstoleranz abverlangen. Und lasst uns nicht vergessen, sie zu fragen, was sie brauchen, um weiterzumachen.
„Achtung vor Kindern und Jugendlichen, die sich für den Erhalt der Welt einsetzen.
Lasst uns Achtung haben vor Kindern, denen die vorherigen Generationen schlechte Umweltbedingen und Klimakatastrophen zumuten.
Wir wissen doch nicht erst seit „Fridays for future“, dass wir den nachfolgenden Generationen unfassbare und mit großer Wahrscheinlichkeit unlösbare Probleme aufbürden, weil wir unseren Lebensstil nicht nachhaltig reflektieren und v.a. nicht ändern wollen. Seit Jahrzehnten verschieben wir den Earth Overshoot Day nach vorn – im Jahr 2001 war er am 21. September, 2021 am 29. Juli, 2022 war er am 4. Mai –, dafür das Erreichen der Klimaziele nach hinten.
Ich habe großen Respekt vor den jungen Menschen, die nicht müde werden, um ihre Zukunft zu kämpfen, die wir mit unserem kapitalistischen Lebensstil bedrohen. Ich habe Achtung vor den jungen Menschen, die sich Anfeindungen aussetzen oder der überheblichen Besserwisser-Attitüde vermeintlich arrivierter Schichten. Ich habe Achtung davor, dass viele von ihnen ihren Lebensstil aktiv verändern und Freizeit und Kraft investieren für die Zukunft unseres Planeten und der nachfolgenden Generationen. Aber Achtung allein ist zu wenig. Lasst sie uns aktiv unterstützen in einem Kampf, den wir ihnen zugemutet haben.
„Aufschwingen zu den Gefühlen der Kinder.
Aufschwingen, emporrecken, auf die Zehenspitzen stellen, heranreichen. Um sie nicht zu verletzen.
In seinem Buch „Wenn ich wieder klein bin“ schreibt Korczak im Vorwort:
„An den erwachsenen Leser: Ihr pflegt zu sagen: „Der Umgang mit Kindern ist anstrengend.“ Ihr habt Recht. Ihr sagt: „Weil wir uns zu Begriffen herablassen müssen. Herablassen, hinunterbeugen, uns kümmern, klein machen. Ihr irrt. Nicht das ist es, was uns anstrengt. Sondern dass wir uns aufschwingen müssen zu ihren Gefühlen. Aufschwingen, emporrecken, auf die Zehenspitzen stellen, heranreichen. Um sie nicht zu verletzen.“[2]
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Autorin: Prof. Dr. Barbara Staudigl, Stiftungsdirektorin der Trägerstiftung der Katholischen Stiftungshochschule (KSH), einer Fachakademie und Fachoberschule in München. Sie arbeitete insgesamt 19 Jahre lang im Schuldienst, bis 2018 als Schulleiterin.
Foto 1: Artem Kniaz / unsplash.com
Foto 2: Barbara Staudigl
Literatur:
Korczak, Janusz: Das Recht des Kindes auf Achtung (1929), Gütersloh 2002
Ders: Der kleine König Macius (1923), Freiburg u.a. 1994
Ders.: Wenn ich wieder klein bin (1925), Göttingen 1973
Staudigl Barbara: Achtung vor dem Kind. Wie Lehrer ethisch handeln können. Göttingen 2009
Wajda, Andrzey: Korczak (Film) 1990
[1] Korczak, Janusz: Das Recht des Kindes auf Achtung (1929), Gütersloh 2002. 27ff.
[2] Ders.: Wenn ich wieder klein bin, Vorwort