Hadwig Müller liest die Bibel mit den Augen des französischen Soziologen und Wissenschaftstheoretikers Bruno Latour – und diesen mit den Augen einer interkulturell bewanderten Theologin: ein Geflecht von Brüchen und Einsichten entwickelt sich…
Im Oktober 2015 lud das Ökumenische Netzwerk Citykirchenprojekte in der Lutherstadt Wittenberg dazu ein, „nach der aktuellen Bedeutung eines reformatorischen Grundgedankens zu fragen: Das Volk soll einen unmittelbaren Zugang zum Evangelium erhalten, nicht vermittelt durch Theologen und Priester. Was aber, wenn das Volk gar kein Interesse am Evangelium hat? Egal ob Luthertext oder Gute Nachricht: Für Menschen, die dezidiert ohne religiösen Bezug leben, ist das Evangelium ein zutiefst fremder Text.“ (Flyer der ersten Akademietagung „Das Evangelium für das Volk? Evangelium leben und verkünden in der säkularen Gesellschaft“)
Das Fehlen religiöser Bezüge, das Fehlen von Glauben und Kirchlichkeit ist ohne Zweifel ein Grund für die Schwierigkeit der Verkündigung. Zugleich gilt aber nicht unbedingt, dass Menschen in volkskirchlich geprägten Gegenden mehr Interesse am Evangelium hätten. Auch und vielleicht gerade die Bekanntheit der Texte kann sie uninteressant machen. Fehlendes Interesse am Evangelium hat mehr mit der religiösen Kommunikation als solcher zu tun, und weniger mit Glauben oder Nichtglauben der Menschen.
Bruno Latour, ein international bekannter Wissenschaftstheoretiker, Soziologe, nicht Theologe, verteidigt diese These: Religiöses Sprechen selber ist nicht mehr möglich. Die informierende Sprechweise der Wissenschaften hat eine Sprechweise verdrängt, die „transformiert“: die Menschen einander annähert. Eine Sprechweise, der es um die Herstellung von Nähe geht, ähnlich wie beim Gespräch zwischen Liebenden. Latour erkennt und beschreibt die Krise religiöser Kommunikation weit radikaler als wir es gewohnt sind. Zugleich gibt er konkrete Hinweise, wie die religiöse Sprechweise erneuert werden kann.
Was macht religiöses Sprechen aus?
In seinem Buch „Jubiler – ou les tourments de la parole religieuse“ (Paris 2002), übersetzt von Achim Russer: „Jubilieren – Über religiöse Rede“ (Berlin 2011), charakterisiert Bruno Latour religiöses Sprechen durch Akzente, die ungewohnt sind – die aber ganz ähnlich für die Evangelien gelten. Besonders wo sie von Begegnungen erzählen, in denen das Leben der Menschen gut wird, mit denen Jesus von Nazareth spricht. Religiöses Sprechen ist für Latour von drei Prioritäten bestimmt: Es geht zuerst um Personen, um ihre Gegenwart und um ihre Veränderung.
Durch diese Qualitäten unterscheidet sich religiöses Sprechen von dem Sprechen, mit dem sich Latour als Wissenschaftler auskennt. Das ist die Information, die über eine Kette von Transformationen, aber unter Beibehaltung der Relationen, Kenntnisse von räumlich oder zeitlich fernen Gegenständen und Inhalten vermittelt. Einsichtiges Beispiel für dieses „Referenzsprechen“ ist die Landkarte, die keine Ähnlichkeit mit dem Territorium hat, aber unter einem bestimmten Gesichtspunkt seine Relationen bewahrt und auf diese Weise Kenntnisse über das Territorium vermittelt.
Es geht zuerst um Personen.
Beim religiösen Sprechen geht es wesentlich nicht darum, durch die Suche nach Konstanten Inhalte zu erschließen, die in fernen Räumen oder früheren Zeiten liegen. Und der Grund dafür liegt nicht etwa darin, dass religiöse Dinge der Ratio nicht zugänglich wären. Entweder geht es um den Inhalt Information, und dann ist die Ratio in ihrer wissenschaftlichen Form unbegrenzt gefordert; oder es handelt sich darum (…), Personen zum Vorschein zu bringen, und auch dazu brauchen wir unsere ganze Ratio, unsere ganze Intelligenz, die ganze Subtilität unseres Denkens – und auch da unbegrenzt. (Jubilieren, 99; die folgenden Seitenangaben beziehen sich durchwegs auf dieses Buch.)
Religiöse Rede ist also durchaus rational zugänglich, aber nicht so wie die Information. Die Information nutzt nicht dieselben Vehikel, dieselben Prozeduren wie jene Worte, die verändern, verwandeln, erschüttern. Das religiöse Wort kann nichts übermitteln, ohne es von Grund auf zu verwandeln. (36) Der erste Schritt, um das religiöse Sprechen wiederzufinden, besteht für Bruno Latour darin, diesen Unterschied herauszuarbeiten zwischen dem, was den Zugang zu Fernem erschließt – der Referenz – und dem, was das Transformieren einer fernstehenden in eine nahestehende Person erlaubt – der Konversion. (54)
Dieser Unterschied wurde dadurch verwischt, dass mit dem Computer eine dritte Kommunikation beherrschend geworden ist, in der die mühevollen und riskanten Transformationsprozesse wissenschaftlicher Referenz ersetzt wurden durch den „Doppelklick“, die Illusion kontextfreien, beliebig wiederholbaren Wissens, als gäbe es Information ohne Transformation. Zudem legen biblische Texte die Annahme nahe, dass über eine Vergangenheit informiert werden muss. Sie nehmen ja Bezug auf eine Geschichte, die von ihren Anfängen in grauer Vorzeit bis hin zu den jüngsten, noch immer fast 2000 Jahre alten Dokumenten in der Vergangenheit liegt.
Es geht zuerst um die Gegenwart.
Bezeichnend für die religiöse Rede, so wie sie ihren Niederschlag in biblischen Texten findet, ist, dass sie immer wieder neu die Menschen in einer jeweiligen Gegenwart anspricht. Um die Gegenwart geht es – und nicht um eine ferne Vergangenheit, zu der Gelehrte durch historisches, archäologisches Wissen erst einen Zugang erschließen müssen. [E]s geht nicht darum, den Blick in die Ferne zu richten; es geht auch nicht darum, (…) sich der versteckten Wahrheit zu bemächtigen, sondern darum, den Blick wieder dem Nahen zuzuwenden, ja dem Nächsten, der Gegenwart, die immer noch darauf wartet, wieder aufgegriffen zu werden. (145)
Stets zu sprechen, als sei es das erste Mal: Das ist die Grundschwierigkeit religiösen Sprechens. Das Original steckt nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart, immer in der Gegenwart, dem einzigen Gut, das wir haben. (139) Am Ende seines Buchs kommt Bruno Latour auf diese Qualität religiösen Sprechens zurück: Warum verstehen wir uns nicht mehr auf die religiöse Rede? Weil wir die Religion für gewunden, für verschlungen halten, ganz als müsse sie uns über einen schmalen fallengespickten Pfad zu dunklen und fernen Geheimnissen führen. Zwar bringt sie uns oft zum Stolpern, aber ihre Prüfungen haben einen anderen Grund: Es ist nämlich schwierig, die passenden, genauen, präzisen Worte zu finden, um die Rede heilbringend zu machen, um gut über die Gegenwart zu reden. (246. Hervorhebung im Original))
Es geht zuerst um die Veränderung.
Personen zum Vorschein bringen, gut, heilbringend über die Gegenwart reden – von diesen beiden Merkmalen religiösen Sprechens ist das dritte Merkmal nicht zu trennen, das die religiöse Rede vielleicht am deutlichsten von der Information unterscheidet und wahrscheinlich am meisten Anstoß erweckt: Der religiösen Rede geht es nicht zuerst um Inhalte, sondern darum, eine Veränderung zu bewirken. Es geht ihr zuerst um die Veränderung der beteiligten Personen, nicht um unveränderliche Sachverhalte, die es zu vermitteln und zu glauben, zu wissen und zu verstehen gilt.
Immer wieder weist Bruno Latour darauf hin, dass eine Grundenttäuschung zur religiösen Rede gehört: Das ist das Fehlen jeglicher Information. (Vgl. Jubilieren, 33. 43. 49. 50/51) Als nur ein Beispiel führt er die Engel an, die keine Botschaften im Sinn von Informationen überbringen, sondern das Leben derer verändern, an die sie sich wenden. „Bekehrt euch!“ „Haltet euch bereit“, „Fürchtet euch nicht“, „Sei gegrüßt“, „Er ist nicht mehr hier“ – das alles sind Sätze, deren Ziel es nicht ist, Inhalte auszusagen, sondern Nähe herzustellen, Personen zu verändern. (Vgl. Jubilieren, 49)
Religiöse Botschaften wie die der Bibel zielen immer wieder neu auf ihre jeweiligen Adressaten und deren aktuelle Situation und bringen ihre Aussagen ein ums andere Mal aktualisiert vor, um die Menschen in ihrer Gegenwart zu erreichen. Daher die Wiederholungen, Reprisen, die Abbrüche und Neuanfänge religiöser Texte. Diese Ungereimtheiten wirken zugleich wie Hindernisse, damit die Hörer bzw. Leser sich nicht von einer Logik der Information in die Ferne führen, sondern von einer Logik der Transformation ergreifen lassen. Wenn Sie sich (…) daran machen, diese Berichte stärker zu glätten, um sie kohärenter, verdaulicher, weniger widerspruchsvoll, weniger bizarr erscheinen zu lassen, werden Sie sie statt verständlicher nur ungeeigneter machen für die Aufforderung, deren Träger sie sind. (143)
Die religiöse Rede, deren Sinn nicht in einem Inhalt liegt, über den sie informieren würde, sondern in den Personen, deren Annäherung sie bewirken will, ist kein Sonderfall. Tagtäglich werden Sätze ausgesprochen, deren Hauptzweck nicht darin besteht, Referenzen nachzuzeichnen, sondern etwas ganz anderes hervorzubringen: Nahes oder Fernes, Nähe oder Distanz. (41) Vor allem das Gespräch zwischen Liebenden ist es, das Bruno Latour immer wieder als Beispiel für die Besonderheit der religiösen Sprechweise heranzieht. Was Liebende ihre Liebe nennen, (…) steigt für sie stets aus der Fragilität eines riskanten Sprechakts auf, der sie verpflichtet, den Einsatz stets erneut zu wagen. Je nach der Art und Weise, in der sie miteinander sprechen, stehen sie sich fern wie Fremde oder näher, als sie einander jemals waren. (76)
Gibt Latour nun Hinweise, wie eine Verkündigung damit ernst macht, dass das Evangelium in den Adressaten schon am Werk ist? Gibt es Hinweise, wie ein religiöses Sprechen es vermeidet, sich der Vergangenheit zuzuwenden, ferne Inhalte zu erschließen und dabei wirkungslos an seinen Hörern vorbeizugehen?
Wie geht religiöses Sprechen, das gut über die Gegenwart spricht, das Personen zum Vorschein bringt und ihre Veränderung bewirkt?
Hinweise, um die religiöse Sprechweise zu erneuern, findet Bruno Latour in den biblischen Texten. Und zwar in mehrfacher Weise. Einmal lässt sich an nicht wenigen Beispielen zeigen, dass biblische Texte selber weniger Interesse am Inhalt ihrer Botschaft haben als daran, welche Veränderungen sie bewirkt, wie sie aufgenommen wurde bzw. wie sie aufzunehmen ist. Ob es das „Wort“ aus dem Beginn des Johannesevangeliums ist oder das „Evangelium“ zu Beginn des Markusevangeliums, ob es viele Gleichnisse sind oder die sogenannte Antrittspredigt Jesu in Nazareth (Lk 4,21), die Redezusammenhänge lassen keinen Inhalt erkennen, sondern sagen, was mit dieser Rede geschieht und wie sie wirkt.
Darin erkennt Bruno Latour die Besonderheit der religiösen Rede, die darin besteht, ganz und gar reflexiv zu sein, (…) zu sagen, wie man zu reden hat, ohne uns jemals zu sagen, was – ein für alle Mal – zu verstehen sei. Unter wissenschaftlichem Aspekt handelt es sich um eine eklatante Schwäche. Unter religiösem Aspekt um eine wesentliche Qualität. Hat man das Ausmaß, die Tiefe dieser Enttäuschung jemals ermessen? Alles redet vom Wort, aber dieses Wort sagt nichts. (…) es begnügt sich unermüdlich damit, von der Art und Weise zu reden, wie recht zu reden sei (…). (174)
Biblische Texte sind also voll davon, die angestrebten oder tatsächlich eingetretenen Wirkungen einer Rede zu beschreiben. Damit religiöses Sprechen nun wirkt, Nähe oder auch Distanz bewirkt, darf es zu keinem Zeitpunkt einen Kompromiss mit informativen Aussagen suchen, etwa Brücken bauen, die ermöglichen, sich gedanklich mit den fernen Zeiträumen und fremden Völkern in Verbindung zu setzen. (Vgl. Jubilieren, 80 und 83)
Positiv kann es sich an den Reden Jesu, so wie sie überliefert sind, ein Beispiel nehmen. Er spricht die Menschen in ihrer aktuellen Situation an, so dass sie ihn verstehen und hinter ihm hergehen, um mehr von ihm zu hören. Er bringt die Personen zum Vorschein – schönstes Beispiel sind die Seligpreisungen. Und seine Rede bewirkt Veränderung – Belebung, und zugleich Bestürzung, Schrecken, Fragen etc.
Die vielen in die Evangelientexte eingestreuten Hinweise zu den Wirkungen Jesu von Nazareth belegen für Bruno Latour die Idee, dass zwei Geschichten in einer erzählt werden: Eine Geschichte – er nennt sie longitudinal – wird als kontinuierlich von der Vergangenheit zur Gegenwart führende Verkettung von Ereignissen erzählt. Die andere – er nennt sie transversal – wird gewissermaßen quer dazu von der Gegenwart ausgehend erzählt, um von einem jeweiligen Jetzt aus die Vergangenheit immer wieder neu zu verändern, zu vertiefen und ihr Zukunft zu eröffnen.
Konkret zeigt er das Ineinander der beiden Geschichten am Markusevangelium. Achten wir, während der longitudinale Bericht Ereignisse von der Predigt Johannes des Täufers bis zur Himmelfahrt aneinanderreiht und unseren Blick in die Ferne, nach Palästina, ins Römische Reich lenkt, erneut auf die im Text verstreuten Gebrauchsanweisungen dafür, wie er recht aufzufassen, recht zu lesen, recht zu verstehen sei. (161) Für diesen dem longitudinalen Textfluss gewissermaßen transversal eingeschriebenen Sinn verweist Bruno Latour auf die berichteten Wendungen und Brüche in Lebensläufen, die Reaktionen auf diese Brüche, das Unverständnis, die Missgriffe und Ausgrenzungen, die Mahnungen und Weisungen, die Erkenntnisse, das daraufhin befohlene Schweigen, die Entsendungen.
… für kurze Augenblicke versteht man endlich, worum es geht.
Was sagt dieser Text? In seiner kontinuierlichen Lesart bietet er eine Menge Anekdoten, Dinge, die geglaubt, erläutert, bestaunt werden können, in seiner diskontinuierlichen, transversalen Lesart nichts Besonderes, vor allem nichts Besonderes. Eine fundamentale, konstitutive Enttäuschung: Man ist schockiert, überrascht, man versteht nicht, man wird ermahnt, erneut achtzugeben; für kurze Augenblicke versteht man endlich, worum es geht, ist plötzlich befriedigt, alsbald verliert man wieder den Faden, man versucht es anderswo, und alles fängt von vorn an. (164; vgl. Jubilieren, 161-164)
Wer lesend und sprechend diesen Brüchen folgt, ist immer wieder bei der eigenen Gegenwart.
(Hadwig Müller)