Gedanken zu Krieg und Zerstörung, Wiederaufbau und Hoffnung anlässlich einer Reise auf einem Containerschiff nach Le Havre. Von Astrid Busch.
Die Hafenstadt Le Havre im Norden Frankreichs ist besonders stark von der Zerstörung des Zweiten Weltkriegs geprägt.
Mich haben bei zahlreichen Aufenthalten neben der Nachkriegssarchitektur des Architekten Auguste Perret auch der Hafen und die in hoher Frequenz einfahrenden Containerschiffe interessiert, die diese Stadt neben Gütern auch mit Hoffnung, Träumen und Sehnsucht versorgen. Deshalb beschloss ich, selbst den Seeweg dorthin zu nehmen und mit einem Containerschiff in diesen Hafen einzufahren.
Architektonische und atmosphärische Eigenschaften einer Stadt
Architektonische und atmosphärische Eigenschaften der Stadt waren in der Vergangenheit bereits Gegenstand meiner Untersuchungen und Basis für neue Werke. In meiner künstlerischen Arbeit beschäftige ich mich mit Orten und deren Erleben. Meine Bilder entstehen durch die ästhetischen Erfahrungen, die durch das Zusammenspiel aller Sinne generiert werden. Ich überschreibe historische Bilder und Fundstücke, die ich vor Ort sammle, mit eigenen fotografischen Arbeiten. Das Material verdichte ich zu räumlichen Bildarrangements, aus denen Fotografien entstehen, die auf verschiedenen Bildträgern in den Raum übersetzt werden und in assoziativer Weise Geschichten rund um die Architektur oder Atmosphäre eines Ortes erzählen.
Anfang September 1944 wurde der größte Teil der Stadt Le Havre durch massive Bombardements der britischen Luftwaffe, die die Stadt von den deutschen Besatzern befreien wollte, zerstört. Es blieben nur Asche und Staub. Vom Bahnhof aus, der rund 2,5 Kilometer vom Meer entfernt ist, konnte man das Meer sehen. Le Havre musste zwölf Tage unter einem Bombenhagel aushalten, ehe die Engländer die Stadt befreiten. Nur wenige historische Gebäude blieben erhalten. 12.500 Wohnhäuser wurden zerstört, rund 80.000 Einwohner wurden obdachlos.
Die Stadt wurde nach diesen schweren Zerstörungen nach Plänen des französischen Architekten Auguste Perret mit einem Team von 60 Architekten von 1945 bis 1954 wieder aufgebaut. Perret ließ für den Bau den Schutt der zerstörten Stadt zermahlen und nach Farbe und Struktur trennen. Unter Beimischung weiterer Materialien wie Glas und Kies konnte er verschiedene Oberflächen und Farbtöne kreieren, die Helligkeit und Wärme ausstrahlen. Le Havre wurde durch die damals neue Betonarchitektur möglich, planbar und verwirklicht.
Schwere Zerstörungen, radikale Maßnahmen
Der Philosoph Stephan Erdmann schreibt hierzu treffend: «Wenn die Geschichte (…) der Städte, erzählt wird, wird es eine Geschichte radikaler Maßnahmen sein. Dass die (technischen) Möglichkeiten die Wirklichkeit bestimmen, dafür steht exemplarisch die Auswirkung des Schießpulvers auf Kultur und Architektur, wobei man Letzteres getrost wörtlich nehmen darf. (…) Eine kleine Ironie besteht am Ende auch darin, dass ohne Sprengstoff Beton deutlich weniger attraktiv wäre. Man will ihn ja irgendwie auch wieder loswerden, wenn er seine Schuldigkeit getan hat.»[1]
Die Nähe zum Meer und die bewegte Geschichte Le Havres ist überall in der Stadt spürbar und bestimmt heute noch die Atmosphäre dieses Ortes. Drei Hauptboulevards verbinden die wichtigen charakteristischen Pole der Stadt: Das Zentrum, das Meer und den Hafen. Der Kriegsschutt, der damals ins Meer gekippt wurde und die durch die Meeresströmung rund geschliffenen Steine und Fliesen der zerstörten Häuser, die noch heute an den Strand gespült werden, erinnern uns an die verheerende Zerstörung. Die Vergangenheit dieser Stadt ist durch die Gezeiten noch immer präsent.
Der Krieg in der Normandie ist unweigerlich mit der Invasion der Allierten ab dem 6. Juni 1944 und deren Weg über das Meer verbunden. Heutzutage sind es die Erinnerungen daran, die an den schönen und vermeintlich unschuldigen Landungsstränden hervorgerufen werden.
Das Schiff – ein Heterotopos
Ich habe meine Reise von Hamburg über Antwerpen nach Le Havre auf einem Containerschiff angetreten. Auch ich reise nun vom Meer aus an, um mein Bild von Le Havre zu vervollständigen und die Einheit der Stadt mit ihrem Hafen und dem Containerverkehr zu untersuchen. Die Geschichte und Gegenwart des Hafens, sowie das Schiff als eigenständiger, autarker, in sich geschlossener Raum, sind die inhaltliche Grundlage meines aktuellen Projekts.
Hierzu prägte der Philosoph Michel Foucault den Begriff der Heterotopie. «Und bedenkt man, dass Schiffe (…) ein Stück schwimmender Raum sind, Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem endlosen Meer ausgeliefert, die von Hafen zu Hafen (…) fahren, dann wird deutlich, warum das Schiff für unsere Zivilisation zumindest seit dem 16. Jahrhundert nicht nur das größte Instrument zur wirtschaftlichen Entwicklung gewesen ist, sondern auch das größte Reservoir für die Fantasie. Das Schiff ist die Heterotopie par excellence.» [2]
Die Meere verknüpfen schon immer die Weltreligionen, indem auf ihnen Schiffe, Güter und Menschen in die entlegendsten Gebiete bringen. So haben sie vielfältige Funktionen, als Transport- und Kommunikationsraum, sowie als Sehnsuchts- und Erinnerungsort. Doch was bedeutet ein Hafen für eine Stadt, wie ist die Entwicklung verlaufen und welche Bedeutung wird er in Zukunft haben?
Die Containerrevolution in den späten 1960er Jahren mit ihren spezialisierten Terminals veränderte nicht nur die Seefracht, sondern auch die Häfen, denn bislang waren diese nahe an die Stadt angebunden. In der Folge können die Seeleute aufgrund der verkürzten Liegezeiten kaum mehr die Schiffe verlassen und so findet der von Foucault geprägte Begriff der Heterotopie eine erneute Bestätigung.
Es gibt kaum einen anderen Ort als ein Schiff, an dem Aberglaube, Seemansgarn und Romantik so hart auf den realen Arbeitsalltag prallen. Vom Meer umgeben, verliert sich schnell das Gefühl für Zeit, Proportionen, Geschwindigkeit und Entfernungen. Der Übergang von Realität zu Fiktion innerhalb der Welt auf See ist fließend. Nicht nur metaphorisch ist das Schiff, das auf See einen in sich abgeschlossenen Raum bildet, über die Erzählungen und das Frachtgut mit allen Häfen und Zeiten verbunden.
Ein russischer Kapitän, ukrainische und filipinische Crew
Der Kapitän «meines» Schiffes stammt aus Russland, die Crew sind Ukrainer und Filipinos. Politische Konflikte, wie wir sie momentan weltweit erleben, spielen an Bord keine Rolle. Filipinos sind gut ausgebildet und zudem christlichen Glaubens. Es wird sehr darauf geachtet, dass diese abgeschlossene Welt nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Glaubenszughörigkeit spielt deshalb eine wichtige Rolle. In die geschlossene Gemeinschaft kommen nur die wechselnden Lotsen, die für die Einfahrt in die Häfen zuständig sind, für einen kurzen Zeitraum hinzu. Pilotschiffe legen an und übergeben die Verantwortlichen für kurze Zeit.
Gegensätze kennzeichnen das Leben auf dem Wasser, zum einen sind Hierarchie und Machtverhältnisse spürbar und zum anderen ist die Seefahrt mit grenzenloser Freiheit assoziiert. Die Aufgaben und Bedeutungen der Schiffe waren schon immer vielfältig: Gefängnisse und Fluchtschiffe, Hoffnungsträger für Flüchtende und Reisende, die von der großen Freiheit träumen. Mit Schiffen wurden ganze Kontinente kolonisiert und Menschen versklavt, doch ebenso wurde die russische Revolution durch meuternde Seeleute auf einem Schiff ausgelöst. Die Sklavenschiffe sind heute den Flüchtlingsschiffen gewichen und trotz des Flugverkehrs werden internationale Warenflüsse immer noch zu einem großen Teil auf Schiffen transportiert. Gefahren entstehen nicht nur durch Krieg, Gewalt und Vertreibung, auch die weltweite Schifffahrt belastet die Meere und die Ökosysteme.
Die geladenen Container lassen nicht mehr erkennen, was transportiert wird – abstrahierte Ware in Boxen der gleichen Größe und Form. Container dienen auch als Unterkünfte für Bauarbeiter oder als Studentenwohnheime. Sind es ebenfalls Heterotopien?
Flut und Strand
In Le Havre angekommen, stehe ich wieder am Strand, der hier eine große historische Rolle einnahm und von dem aus ich die großen Containerschiffe weiter ein- und ausfahren sehe. Aktuelle Assoziationsbilder von Stränden werden dabei hervorgerufen: Bilder von der zunehmenden Flut von Strandgut, dem Abfall der Zivilisation und dem bevorstehenden Anstieg des Meeresspiegels durch die Erderwärmung. Die Folgen sind bekannt, Überschwemmungen, Sturmfluten und das Versinken vieler Inselstaaten. Das Versprechen der Bibel, dass es nie wieder eine Sintflut geben werde, wirkt aus der Zeit gefallen. Auch der Regenbogen als Symbol der Rettung scheint der Vergangenheit anzugehören. Als Regulator des Weltklimas nimmt das Meer eine entscheidende Rolle ein.
Auf die Frage, wie die Geschichte der Sintflut Menschen heute und angesichts zunehmender Naturkatastrophen geistig wappnen könnte, sagte der evangelische Theologe Thomas Naumann: „Der christliche Glaube hält mit der Sintflut-Erzählung an der Hoffnung fest, dass Gott seiner Schöpfung treu bleibt und sie nicht preisgibt, weil er sie geschaffen hat.“[3]
Foucault beendete seine Ordnung der Dinge ebenfalls an einem Strand mit der Betrachtung des Sandes. Was sah er dort? Das Gesicht „des Menschen“, dessen Spuren sich vor der steigenden Flut abzeichneten: „[…] dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“[4]
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Astrid Busch, bildende Künstlerin, lebt in Berlin und Düsseldorf. www.astridbusch.com
Abbildungen: Astrid Busch
[1] Stephan Erdmann, Astrid Busch, Le Havre. Brasilia. Mezamor. Wolfsburg, Berlin 2021, S.130-131.
[2] Michel Foucault, Die Heterotopyen. Der utopische Körper, Frankfurt /M. 5.Aufl.2021, S.21.
[3] Deutschlandradio Kultur: Thomas Naumann im Gespräch mit Andreas Main, 23.07.2021.
[4] Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1974, S. 461.