Das syrische Christentum ist weit mehr, als was durch das Kriegsgeschehen im Land vielen Menschen bewusst ist. Elmar Honemann würdigt die reichhaltigen Schätze dieser wichtigen Ostkirche im Gespräch.
Ich treffe Ephrem Aboud Ishac in Graz, wo er inzwischen mit seiner Familie lebt. Geboren 1981 in Syrien, hat er in Aleppo und USA studiert. Nachdem er als Sekretär des syrisch-orthodoxen Metropoliten von Aleppo bis 2010 arbeitete, begann er sein Aufbaustudium in syrischer Liturgie und promovierte dazu im Libanon. Anschließend forschte und lehrte er in Graz, Salzburg, Bologna, Yale und und Wien. Seine Expertise als Religionswissenschaftler ist die eine Ebene unseres Austauschs; gleichzeitig schildert er seine Einblicke als syrischer Christ in communities im Nahen Osten, den USA und in Mitteleuropa.
Ehrwürdiges Erbe
Die vorrömischen Ursprünge der Grazer Altstadt lassen das Gespräch mit historischen Betrachtungen beginnen: Während in Germanien noch für Jahrhunderte das Heidentum vorherrschen sollte, entwickelte sich bereits im dritten Jahrhundert von Edessa aus ein höchst vitales, später bis nach Indien und China wirkendes Christentum. Mit Schmunzeln weist Ephrem Ishac darauf hin, dass die Rückkehr der (griechischen) Philosophie nach Europa durch arabische Eroberer oftmals auf den noch früheren aramäischen Aristoteles-Übersetzungen basierte.[1] Umso mehr verwundert es, dass viele Handschriften noch nicht einmal erfasst, geschweige denn editiert sind – ein erstes Beispiel für so manche „blinden Flecke“ beim (europäischen) Blick auf das syrische Christentum.
Befeuert von Ephrems Begeisterung für Brückenschläge über Jahrhunderte und Kulturen hinweg, wird schnell deutlich, wie sich die Aha-Effekte beileibe nicht auf beeindrucke Historie beschränken.
Gemeinsamkeit in Verschiedenheit
So aktuell die Bestrebungen um ökumenische Annäherungen sind – so wenig sind sie eine „Erfindung“ des 20. Jahrhunderts: Als Universalgelehrter des 13. Jahrhunderts studierte und verglich Bar-Hebraeus die Dogmen der verschiedensten christlichen Denominationen seiner Zeit – und kam zu dem Schluss, ihre ganzen begrifflichen Unterschiede beiseite zu schieben. Fortan konzentrierte er sich auf das, was er als das Entscheidende und Verbindende in den jeweiligen Glaubensgemeinschaften herausgefunden hatte – Ökumene im 13. Jahrhundert! Ebenfalls zu denken gibt, mit welcher Ernsthaftigkeit sich Theologen wie etwa der Patriarch Timotheos I. (740-832 n.Chr.) um ein angemessenes Verständnis von Wortschatz und Grammatik des Koran bemühten, als Basis für interreligiösen Dialog
Verschiedenheit gab und gibt es in der Kirche des Ostens genug. Ihre komplexen Verbindungen und Unterscheidungen sind ohne intensivere Befassung nur mühsam nachvollziehbar.[2] Die religionswissenschaftliche Perspektive nimmt in den Blick, welche gesellschaftlichen und politischen Faktoren ihre Entwicklung jeweils beeinflussten. Ein gemeinsames Merkmal wird in den engagierten Ausführungen von Ephrem sehr plastisch: Die Kirchen des Ostens waren von Beginn an und durch alle Jahrhunderte hindurch auf gegenseitige Toleranz und gemeinsame Arrangements mit Fremdherrschern angewiesen. Wichtiger als doktrinäre Spitzfindigkeiten war die alltägliche Solidarität.[3]
Auch hier schlagen wir im Gespräch zurück den Bogen in die Gegenwart: Erschütternd zu hören ist, wie ganz aktuell unter den dramatischen Umständen eines von Bürgerkrieg, Naturkatastrophen und ökonomischem Zusammenbruch bestimmten Syrien nur noch solche Praxis des Füreinander-Einstehens – eben auch über Konfessionen hinweg – das Überleben vieler Menschen dort sichert.
Spiritualität der Gemeinschaft
Bei den Schilderungen seiner Erfahrungen in heutigen communities sowohl in seiner Wahlheimat wie in seinem Herkunftsland beeindruckt mich die für Ephrem ganz zentrale Einbeziehung schon der jüngsten Generation: Oftmals tritt ein Sonntagmittag zuhause hinter dem Treffen in der Gemeinschaft zurück – „weil die Kinder es lieben“. Völlig konträr zu hiesigen Gottesdienstquoten handelt es sich sozusagen um eine „Liturgie nach der Liturgie“, wenn Gläubige weit darüber hinaus zusammenbleiben. Ohne dass jemand Anweisungen erteilen oder Aufgaben verteilen müßte, fühlen sich alle zu dem beauftragt und befähigt, was es für das Gemeinschaftliche braucht. Und das ohne Ansehen von Bildungsstand oder den hierzulande oft im Vordergrund stehenden Milieus
Eine gemeinsame Sprache zu sprechen, sei schön, meint Ephrem sehr bewusst vor seiner eigenen Migrationsgeschichte – aber für die Menschen in der örtlichen community nicht das Wesentliche. Gleichwohl gebe es auch Gemeinden syrischer Christ:innen, in denen nach dem Gottesdienst die Angehörigen verschiedener Ethnien doch wieder separat voneinander sitzen.
Mit diesen nachdenklichen Tönen nimmt das Gespräch eine düstere Wende.
Tod und Trauma
Mich erschreckt meine Unkenntnis, was das für syrische Christen so einschneidende Ereignis des „Sayfo“ angeht: Ist der Genozid an den Armeniern ein mittlerweile selbstverständliches, wenn auch mancherorts brisantes Thema, bleibt das zeitgleiche Massaker unter den Christ:innen in Syrien hierzulande völlig im Hintergrund – während es innerhalb ihrer Generationen bis heute als Trauma wirkt.
Das Vorrücken von ISIS vergegenwärtigte die akute Existenzbedrohung ganzer Familien und Dörfer in brutaler Weise. Mit leiser Stimme erzählt Ephrem, wie seine Angehörigen die islamistischen Gewalttäter bereits in ihrem Erdgeschoß hörten. Seine Familie bzw. wer davon überlebt hatte, musste erst zwei Generationen zuvor alles zurücklassen, um in der Fremde „neu anzufangen“. Und nun können sie auch an diesem Ort ihres Lebens nicht mehr sicher sein.
Unwissenheit und Ignoranz
Auch dies wirke sich auf das syrische Christentum aus: In muslimisch geprägten Ländern als „Kuffar“ verschrien und bedroht, erleben Ephrem und viele seiner Bekannten auch im europäischen Alltag Diskriminierung und Ignoranz. Oder lässt sich noch mit Naivität erklären, wenn die Organisator:innen interreligiöser Begegnungen keinerlei Gedanken daran verschwendeten, mit wie vielen solcher Erfahrungen und Ängsten ihre wohlfeile Aufforderung zu Unvoreingenommenheit und Völkerverständigung konfrontiere?
Die christologischen Diskussionen des ersten Jahrtausends wurden in einem Sprachspiel ausgetragen, das für die meisten derjenigen überhaupt keine Anknüpfung hatte, die von den daraus resultierenden Kirchenspaltungen unmittelbar betroffen waren. Ganz ähnlich möge man bitte vor Augen haben (und akzeptieren!), dass manche der in Deutschland und Österreich diskutierten Themen sehr weit weg seien von den Fragen, die Mitchrist:innen östlicher Kirchen ganz existentiell beschäftigten.
Das Bemühen um Ökumene, mit vielen symbolisch angereicherten Annäherungen, könne mitunter nur absurd wirken, wenn gleichzeitig etwa die Besetzung von Lehrstühlen theologischer Fakultäten an der Konfession als ausschließendem Kriterium scheitere.
Gegenfragen
Angesichts dieser Verweise auf ganz existentielle Lebensfragen soll den Kirchen des Ostens kein Überlegenheitsgestus unterstellt werden. Wie immer im dialogischen Geschehen, hat auch die andere Perspektive ihre Berechtigung: Wie steht es etwa mit dem Eintreten für Menschenrechte, Demokratie und die Gleichberechtigung von Frauen und Minderheiten? Oder haben die vielen Repressalien vielleicht auch dazu geführt, dass es eine Flucht in die reine, spirituelle Innerlichkeit und damit einen Mangel an gesellschaftlicher Verantwortung gibt? Die Schilderung von community-Aktivitäten, die hierzulande als „sozialpastorales Engagement“ firmieren würden, legt eine (erste, wenn auch nicht abschließende) Antwort nahe.
Grundsätzlich bleibt aber – wie auch bei der Orientierung an südamerikanischen Basisgemeinden, afrikanischen Katechist:innen oder asiatischem Gemeindewachstum – der Hinweis berechtigt, sie jeweils nicht als 1:1 übernehmbare „Blaupause“ für hiesige Kirchenentwicklung missverstehen zu dürfen.
Jungbrunnen des Christentums
Und dennoch kann und soll dies Ephrems Überzeugung nicht relativieren, welch immensen Schatz die beschriebene Spiritualität des syrischen Christentums aufbiete: Verbunden mit jener Kultivierung von Gemeinschaft gehe es letztlich darum, aus dem Glauben heraus Menschen Gutes zu vermitteln. Der christliche Glaube habe – weit über diversitäts-unfähige bubbles oder volkskirchliche Restbestände hinaus – der Gesellschaft etwas zu bieten, das Sinnleere und Vereinzelung überwinden könne: Lebensfreude, Dankbarkeit und Geschwisterlichkeit – nicht trotz, sondern gerade mit dem Wissen, wie schnell sich vermeintlich selbstverständliche Ansprüche auf ein im Vergleich „luxuriös“ zu nennendes Leben relativierten.
Die Begegnung mit den Kirchen des Ostens könne für andere Christ:innen deshalb einen wahren „Jungbrunnen“ darstellen – und die derzeitige Krise des europäischen Christentums der richtige Kairos sein für ein „learning from the East“.
Elmar Honemann, Dr. phil., Pastoralreferent, seit 2015 im Bistum Limburg zuständig für den Personaleinsatz der Pastoralreferent:innen, dynamischen Stellen und multiprofessionellen Stellen.
Foto: Raimond Clavins / unsplash.com
[1] Vgl. aus dem äußerst hörenswerten PodCast „History of philosophy without any gaps“ von Peter Adamson in Folge 302: On the Eastern Front – Philosophy in Syriac and Armenian, auf: https://historyofphilosophy.net/syriac-armenian [zuletzt aufgerufen am 30.03.2024]
[2] Vgl. Hainthaler, Sr. Theresa, Christologische Forschungen und aktuelle Erfahrungen im Dialog mit den Orientalischen Kirchen (Vortrag in Benediktbeuern am 19.1.2004), abrufbar unter: https://www.sankt-georgen.de/fileadmin/user_upload/personen/Hainthaler/hainthaler4.pdf [zuletzt abgerufen am 30.03.2024]
[3] Vgl. Ishac, Ephrem Aboud, Being Christians together? The Situation of Ecumenism in the Middle East. An Institutional Perspective, in: Tamcke, M. / Rammelt, C. (Hrsg.), Thinking about Christian Life in the Turmoil Times of the Middle East, Göttingen 2020, 67–94. [abrufbar unter: https://www.academia.edu/47732018/Being_Christians_together_The_Situation_of_Ecumenism_in_the_Middle_East_An_Institutional_Perspective]