Michael Seiler, Psychologe und existenzanalytischer Berater rezensiert Erich Schechners Buch „Lebe Deine Möglichkeiten. Viktor Frankl und die Entfaltung des Menschlichen“, erschienen im Patmos-Verlag zum 20. Todestag des Begründers der Logotherapie.
Erich SCHECHNER, Psychotherapeut und eigenen Angaben zufolge Spezialist für Logotherapie und Existenzanalyse, will mit seinem Buch über Viktor Frankl seine LeserInnen anleiten, Freiheit und Verantwortlichkeit zu gewinnen. Deshalb empfiehlt er, Freiräume zu nutzen und so, in den jeweiligen Möglichkeiten, ein sinnerfülltes Leben zu führen. SCHECHNER betont die Möglichkeit jedes/r Einzelnen, durch die Verwirklichung von Werten das eigene Leben mit Sinn zu füllen. „Es ist existenzielles Denken, in meinem Bewusstsein jenes verantwortliche Handeln im Freiraum zu finden, das den
Sinn des Augenblicks, den Sinn des Lebensabschnitts, den möglichen Sinn des Daseins zeitweise erfüllt.“ (S. 50) Dieser Grundgedanke FRANKLs durchzieht das ganze Buch. Existentielles Denken als Möglichkeit des Anders-Seins geht davon aus, dass es nicht ausreicht, die Frage zu beantworten, was der Mensch denn ist, sondern v.a. zu fragen, was er/sie werden will, ganz besonders in Krisensituationen. Der Autor widmet sich damit einem Thema, das mich in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung immer wieder stark berührt. Die Lust, das Buch zu lesen, war sofort geweckt.
Vier Grundmotivationen
Im ersten Kapitel „Endlich frei – Zeitgeisterscheinungen“ beschreibt SCHECHNER den Zeitgeist, der ein existentielles Leben erschwert. Hier wäre zum Textverständnis ein Hinweis auf die von Alfried LAENGLE beschriebenen Grundmotivationen hilfreich. Die Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse geht von vier Grundmotivationen aus: (GM 1) dem Streben nach Sicherheit, Schutz und Halt (Menschen, die in dieser GM herausgefordert sind, haben meist Ängste.); (GM II) dem Streben nach dem Schönen, Guten, dem Geliebt-Werden (Herausgefordertsein in dieser GM zeigt sich in depressiven Verstimmungen.); (GM III) dem Streben danach, eine einzigartige und in ihrem So-Sein respektierte Person zu sein (Herausforderungen führen zu Selbstwertstörungen.); (GM IV) dem Verwirklichen von etwas Wertvollem in einer gegebenen Situation. Wo das nicht möglich ist, entsteht Langeweile, Verzweiflung oder, wie FRANKL es nennt, ein existentielles Vakuum. Diese Zusammenhänge wurden von LAENGLE 1 sehr genau untersucht und beschrieben und sind nach meiner Erfahrung für den Begegnungsprozess mit Menschen in existentiellen Fragen sehr hilfreich. In der Bewertung der menschlichen Kommunikation folgt SCHECHNER dann auch LAENGLEs Interpretation und Weiterführung der Theorie Viktor FRANKLs. Kommunikation wird flach, wenn eine Flut von Informationen bewältigen werden muss und eine persönliche Positionierung dazu nicht mehr möglich ist.
Verschütteter Sinn
Existentielles Leben bedeutet, frei eine eigene Position, eine Zustimmung oder Ablehnung, ein Herausgefordertsein zu entwickeln. Erst eine solche Handlungsweise macht Menschen frei, im Gegensatz zu einem getriebenen Sein, das immer nur nach bekannten Mustern reagiert. Diese fehlende Möglichkeit zur Positionierung arbeitet SCHECHNER auch in dem Abschnitt „Gestört ist das Verhältnis zur Natur“ (S. 31ff) gut heraus. Das immense, heute verfügbare Sachwissens verschüttet SCHECHNER zufolge den Blick für den Sinn des Lebens (S. 41). Die Einmaligkeit des menschlichen Lebens kommt allerdings meist erst in Krisen zur Entfaltung. Ein gestörtes Verhältnis zur Transzendenz hat zur Folge, dass die Grundbedürfnisse des Menschen nach Sicherheit, Angenommen-Sein, Respekt, Verstanden-Werden, nach Sinn- und Werteerfüllung eher durch Ersatzreligionen (S. 21) wie z.B. populistische Versprechungen befriedigt werden. „Ersatzreligionen bieten eine scheinbare Sinnerfüllung. Das Streben zum Schein wird zur Ersatz-Religion, zur neuen
Rückverbundenheit. Heilsverkünder ziehen über die Lande und versuchen durch ihren Populismus, mit einfachen Mitteln Empathie, Mitgefühl und Wärme zu erzeugen und Lösungen anzubieten: »Ich bin einer von euch.«“ (S. 21) Neben einem gestörten Verhältnis zur Transzendenz und der Menschen untereinander macht SCHECHNER auch eine Störung der Relation von Sein und Zeit aus. Freiräume werden schnell als Langeweile erlebt und deshalb möglichst schnell wieder geschlossen. Aus meinem beruflichen Alltag heraus kann ich allerdings SCHECHNERs Formulierungen bestätigen, dass Freiräume auch im Tragen des Leids entdeckt werden können. Positiv ist SCHECHNERs Empfehlung, immer wieder innezuhalten.
Das Gewissen ist die angelegte Möglichkeit für das Aufspüren von Werten.
Das Gewissen ist für FRANKL die Instanz, die einem Menschen hilft, Werte zu fühlen und danach zu leben – im Gegensatz zu einer Steuerung durch das Über-Ich. Die Wende von der Frage, warum etwas widerfährt, hin zu der Frage, wozu diese Situation auffordert, macht der Autor sehr gut deutlich, ebenso wie die Tatsache, dass sich existentielles Denken nicht plötzlich einstellt, sondern langsam wächst, in meditativer Innenschau. Victor FRANKLs Verdienst, dass der Mensch nicht Spielball äußerer oder auch innerer Bedingungen ist, sondern sich aktiv dazu verhalten kann, arbeitet der Autor präzise heraus. Etwas verkürzt werden dabei jedoch nur die Ideen FREUDS und ADLERS bedacht. Die Aufgabe, existentiell zu denken und sich aktiv zu den Herausforderungen zu verhalten, kann jede/r Einzelne nur für sich selbst erfüllen. Die Vernunft lässt den Menschen in Freiheit selbst nachdenken und entscheiden. „In meiner Existenz zeigt sich jenseits aller statischen Verbindlichkeiten das Individuum im Werden in einen Freiraum hinein.“ (S. 98) Freiheit, die sich nicht verantwortlich an Werte bindet, führt zu Chaos, Willkür oder Diktatur. In Kapitel 4 „Entfaltung – die Persönlichkeit des Menschen“ münden die Ausführungen in die These, die sich hinter den Zeilen durch die gesamte Publikation zieht: „Die Liebe zu den Werten ist die Kraft, das Dasein in den Freiraum zu lenken (= Existenz). Das Gewissen ist die angelegte Möglichkeit für das Aufspüren von Werten.“ Dass SCHECHNER dem Gewissen diesen Platz einräumt, ist nicht hoch genug zu schätzen. Meine Erfahrung in der psychologischen Therapie und Beratung zeigt immer wieder, dass Menschen ihrem Gewissen zu wenig Bedeutung zumessen. SCHECHNER macht hier auch eindrücklich klar, dass der Schuld oder auch einem Gefühl von Schuld begegnet werden kann, wenn die durch das Gewissen aufgezeigten Möglichkeiten verantwortlich ausgeschöpft werden.
Fazit
SCHECHNER inspiriert durch einige interessante Blickweisen. Im Großen bleibt er die Antworten auf seine einführende Frage aber schuldig, wie es tatsächlich gelingen kann, die eigenen Möglichkeiten zu leben und den Sinn des Lebens und im Leben zu finden. Kritisch ist zu bewerten, dass der Autor gerade in Bezug zur Transzendenz sehr unklar bleibt. An manchen Stellen entsteht der Eindruck, als ob die Orientierung auf Transzendenz hin eine Voraussetzung sei, um Sinn im Leben zu finden. Transzendenz kann dafür hilfreich sein, kann Menschen aber auch in Denkraster zwingen, die gerade verhindern, die eigenen Möglichkeiten zu entdecken. In diesem Zusammenhang differenziert der Autor nicht trennscharf zwischen den Aufgaben der Psychotherapie und der Seelsorge.
Bedauerlich ist, dass der Autor zur Weitschweifigkeit neigt. Die Beschreibung der Verzweiflung, wenn eine wertverantwortete Existenz nicht gelingt, gerät SCHECHNER sehr ausführlich, ebenso wie die langen Beschreibungen von krisenhaft sich verändernden Lebenssituationen, in denen sich das Selbst neu finden muss. Sehr unvermittelt springt der Autor dagegen zwischen Lebensbereichen, z.B. vom Konsumverhalten zu partnerschaftlichem Zusammenleben. Keine Erwähnung findet, dass Menschen die angeführten Störungen nicht als erstrebenswert und befriedigend erleben, aber keine Idee haben, wie sich diese Zustände ändern lassen. SCHECHNER setzt darüber hinaus Sachwissen und naturwissenschaftliche Sichtweisen in eine irritierende Polarität zu Sinnsuche und Herzensbildung. Ich bin überzeugt, dass keine der beiden Herangehensweisen an Welt allein weiterführt.
In Kapitel 3 „Entwicklung: Logos – der Wegbereiter des Daseins“ blickt der Autor in die Philosophiegeschichte des alten Griechenlands und macht die Entwicklung deutlich – weg von der Beschreibung des erfahrenen Daseins durch Mythen hin zu einer aktiven Gestaltung durch den „Logos für Rede, Vernunft, Gedanke, Lehre, Sinn“ (S. 90). Mythische Bilder erlebe ich oft als eine Möglichkeit, eine Lebenssituation zu erfassen. Sie sind keine endgültigen Wahrheiten. Religiöse Mythen – wie ein Leben nach dem Tod – können für Menschen hilfreich sein. Diese jedoch vorauszusetzen, wäre eine Einschränkung der Möglichkeit, Sinn im Leben zu finden. Nach FRANKL soll der Mensch nicht aufgrund gesetzter Programme reagieren, sondern aus neu gewonnener Freiheit heraus agieren.
Text: Michael Seiler, Psychologe und existenzanalytischer Berater, Bamberg.
Bild: Patmos-Verlag
Buch: ISBN: 978-3-8436-1003-2, 176 S., 17,- Euro
- Längle, Alfried: Lehrbuch zur Existenzanalyse – Grundlagen, facultas.wuv., Wien 2013. ↩