Bernd Fetzer ist evangelischer Pfarrer. Und er ist ein ‚Marktler’, der Woche für Woche selbstgemachte Würste auf dem Landecker Wochenmarkt feilbietet. Hier lesen Sie seine theologieproduktiven Eindrücke aus dem prallen Leben des Markttreibens.
Wochenmärkte haben Konjunktur. Regionalität ist das Schlagwort. Auch in meiner neuen Heimat, dem Tiroler Oberland, sprießen sie aus dem Boden. Auf drei Wochenmärkten bin ich mehr oder regelmäßig selbst als ‚Marktler’ unterwegs und neben all dem Verkaufen bleibt mir doch die Zeit für einen Blick auf das, was jenseits des Offensichtlichen geschieht.
Es zeigt sich ein ‚Andersort’. Wer sich ins Gedränge der Markstände stürzt, muss sich zunächst entschleunigen. Alles ist dichter und deutlich langsamer. Aber auch religiös ein Andersort! Neben die altehrwürdigen Kirchen schieben sich esoterische Angebote ganz anderer Art. Die heilende Kraft der Steine, ‚Finde dich Selbst’-Rezeptbücher, aber auch die Mormonen und die Zeugen Jehovas finden hier ihren Platz. Kaum jemand kann ihnen wegen des Gedränges ausweichen. Aber auch Obdachlose sind hier beim Betteln vor den Blicken der Polizei geschützt. Das dichte Gedränge legt sich schützend auch über so manches ‚Illegale’ und widersetzt sich jedweder Kontrolle. Märkte brechen in die schöne und geordnete Welt der Kaufhäuser, der Kultur, des Rechtes und der religiösen Aufrichtigkeit ein. Doch sie brechen nicht nur ein, sondern brechen auch auf. Wie alle ‚Andersorte’ steckt in ihnen auch „ein Illusionsraum“ (M. Foucault), der die Realorte transzendiert.
Eröffnungsliturgie des Marktes
Ab 8 Uhr wird aufgebaut und freundlich begrüßt man sich an jedem neuen Markttag. Wetter und Temperaturen werden besprochen und auch das eine oder andere Private wird ausgetauscht. Um diese Zeit tauchen dann auch die rumänischen Bettlerinnen auf, die an ‚normalen’ Wochentagen vor den Kaufhäusern und Geschäften sofort als Fremdkörper identifiziert und von der Polizei vertrieben werden. An den Freitagen aber, legt der Markt sich schützend über sie und fast unbehelligt von Beschwerden und Polizei können sie ihrer ‚Arbeit’ nachgehen. Sie beteiligen sich am morgendlichen Ritual der Begrüßung, reden mit über das Wetter, erzählen von sich und fragen nach den anderen. Ihre Teilnahme an der Eröffnungsliturgie des Marktes weist sie als Teil einer Community aus, die sich gegenseitig Schutz verspricht.
Auf den Wochenmärkten erlebe ich zwei Sorten von Marktlern. Die einen verkaufen Produkte, die anderen Geschichten! Die Produktverkäufer preisen die Güte und Zusammensetzung, die Zertifizierungen und Inhaltstoffe an. Alles hat den höchsten Standard. Die Geschichtenerzähler sprechen von den Pannen! Wie aus einem völlig misslungenen Apfelstrudel das Grundprodukt für einen erstklassigen Likör wird. Wie die Verwechslung des Lehrlings zu einer neuen Wurstkreation führt. Wie sich der Streit mit dem Opa zu einer spannenden Nudelmischung aus Tradition und Moderne transformiert. Es sind die Geschichten der Pannen und wie ein Familienverband, wie der Opa, der Enkel oder die Nachbarin, dann doch am Ende alles hinbekommen hat. Es sind Geschichten von Pannen und deren Behebung. Geschichten leben eben länger – viel länger. Die Wurst ist schon lange gegessen und verdaut, die Geschichte davon aber ist noch lebendig. So sind die vielen Marktler die modernen Erzähler von ‚Tausend und einer Nacht’ und zeigen, dass aus Pannen und aus Katastrophen, Neues entstehen kann. Sie erzählen es jeder und jedem, jeden Tag!
Ort der Narrative
Der Markt ist ein Ort der Narrative. Der ideale Ort für Lebensgeschichten. Diese gehen hin und her und es verwischen sich die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem. Die Intimität eines geschlossenen Raumes ist hier nicht vorhanden und die lautstarken Gespräche sind für alle Umstehenden (mit)hörbar. Hier ernährt sich der Alltag im Kauf und Verkauf, hier werden aber auch alle Höhen und Tiefen, alle Wechselfälle des Lebens der Deutungsvielfalt der anwesenden Menschen ausgesetzt. Hier ist ein Ort, wo sich Erfolg und Scheitern in Tränen und Lachen artikuliert, wo eine säkulare ‚Volksfrömmigkeit’ die Brüchigkeit des Lebens gemeinsam trägt und in immer neuen Bekenntnissätzen verarbeitet.
Wochenmärkte zeigen das ‚Widerständige’ schon auf den ersten Blick. Gegen die Architektur der Moderne, gegen den Livestyle der Metropole, zeigt sich das ‚Andere’ am Rost der Verkaufswagen, billiger Marktschirme, geklebter Schutzfenster, alter Biertischgarnituren und an der Kleidung der ‚Marktler’. Auch die Architektur macht den Unterschied zu den Brüdern und Schwestern der etablierten Geschäftswelt deutlich. Auf der einen Seite geschlossene Gebäude, Glasfenster und Türen; auf der anderen die offenen Marktstände, die sich fast nackt dem Besucher zeigen.
Gemeinsame Verletzlichkeit
Die Offenheit der Stände, die ‚Nacktheit’ des Angebotes, legt gemeinsame Verletzlichkeit offen. Die Stände, wie groß und professionell sie auch sein mögen, sind offen und ungeschützt. Jeder Blick, jedes Beobachten ist hier wertvoll. Auch der Blick und die Anwesenheit der Bettler. Der Markt kann sich keine Ausgrenzung leisten. Jeder ist auf jeden angewiesen. Das Wissen oder die Ahnung der eigenen Verletzlichkeit schafft einen räumlich und zeitlich begrenzten Solidarraum, in dem auch die Bettler ihren festen Platz haben.
Ähnliches gilt auch für die auffallend vielen Menschen mit psychischen und geistigen Beeinträchtigungen in Landeck. Eine ganze Reihe von stationären und ambulanten Einrichtungen für diesen Personenkreis prägen diese Stadt. Auf dem Markt bewegen sie sich frei und unterliegen nicht den Zwängen der normalen Kauf- und Verkaufskultur. Und sie genießen diese Freiheit, das Gedränge, das sich schützend über alle legt. Sie lieben die Offenheit und Nacktheit des Marktes, der auch andere Sprachmuster zulässt. So ist ihr „Guten Morgen“ deutlich lauter als das übliche Marktgetöse. Es ist fordernder und verlangt den Gegengruß. Sie machen sich bemerkbar und wollen bemerkt werden. Sie sind es, die der Nacktheit des offenen Standes, die Nacktheit des Privaten zur Seite stellen. „Bist du verheiratet? Hast du eine Freundin? Hast du noch mehrere Freundinnen? Bist du alleine? Bist du traurig?“
Intimität und Achtsamkeit
Der architektonischen Nacktheit des Marktes wird eine durch Neugier entkleidete Privatsphäre zur Seite gestellt. Diese entkleidete Privatsphäre ist aber nicht nur in der direkten Kommunikation wirksam, sondern wirkt auch dauerhaft und anhaltend in der Kommunikationsstruktur zwischen den Marktlern selbst und den Kunden. Diese Entkleidung ist selbst produktiv und schafft eine Intimität und hohe Achtsamkeit. Auch hier zeigt man sich in der Öffnung des Privaten zwar verletzlich, aber gibt sich dem Schutz des jeweiligen Gegenübers preis.
So zeigt der „Illusionsraum“ von Foucault den Realorten ihre Begrenzungen und öffnet den Blick für eine Solidargemeinschaft, die ihre Schwäche für neue (Über-)Lebensstrategien nutzt. Das soziale System des Marktes zeigt, dass strukturelle Defizite des Einzelnen im Solidarraum der Verletzlichkeit und Schwäche überwunden werden können. Nur wer die Position der Stärke aufgibt wird in der Schwäche der Anderen seiner eigenen Schwäche gewahr und gibt die Macht und Herrschaftsperspektive des Gebenden auf. Was wäre, wenn sich die Kirche weniger als Herrschafts- und Präsenzraum des Göttlichen verstehen würde, der Wichtigstes zu geben hat, dafür mehr als Solidarraum des Schwachen, der Wesentliches zu empfangen hätte?
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Bernd Fetzer
Bildquelle: Pixabay; Bernd Fetzer