Waldbaden ist ein Trend der Gegenwart, gerade im goldenen Herbst. Fabian Brand erkundet den Wald als einen theologischen Ort des Lebens – beginnend an einer Autobahnbaustelle in Oberfranken.
Während die Koalitionspartner einer neuen Ampel-Regierung immer neu um das Thema Klimaschutz ringen und sich in Glasgow Tausende zu einem „Greenwashing-Festival“ versammeln, wird andernorts fleißig gebaut, gebaggert und geteert. Der Ausbau einer Autobahn gen Norden geht weiter zügig voran. Und dort, wo die Natur lange noch unberührt war, stehen schon die ersten Bauwerke, über die in einigen Jahren die endlose Blechlawine rollen wird. Es ist ein disparates Bild: Einerseits ein hohes Engagement für Klimaschutz und Bewahrung der Schöpfung und andererseits der Ausbau von Autobahnen, die mitten durch einst unberührte Landschaften führen.
Den Lebensraum der Schöpfung bewahren, seine Vielfalt fördern, allen Geschöpfen mit Respekt und Hochachtung begegnen: Uns Christen ist ein solches Verhalten ins Stammbuch geschrieben. Weil wir Menschen den Auftrag Gottes bekommen haben, die Schöpfung in seinem Sinn zu behüten. Weil wir dafür eintreten müssen, dass die Schöpfung ein Lebensraum ist für Mensch, Tier und Pflanzen und alle jene Fürsorge Gottes erfahren dürfen, die jedem Geschöpf gilt (vgl. Ps 104,13ff).
Leben in Fülle
Es gibt einen Raum, in dem diese überfließende Schönheit der Schöpfung anfanghaft verwirklicht ist: der Wald. Wälder sind im wahrsten Sinne des Wortes ‚Biotope‘, also Orte, an den Leben ist und an denen sich das Leben entfalten kann. Bäume und Pflanzen wachsen und gedeihen, eine Vielzahl an Tieren findet im Wald seine Heimat. Dem Menschen bietet er nicht nur Erholung an, die Wälder leisten auch einen wichtigen Beitrag für unser Klima. Wer schon einmal alleine durch den Wald gestreift ist und sich aufmerksam dem widmet, was ihm dort alle begegnet, der kann etwas von der Fülle der guten Schöpfung erahnen, wie sie Gott am Anfang aller Zeiten geschaffen hat. Der Wald ist wirklich ein Lebensraum, der von Artenvielfalt nur so strotzt. Wer entdecken will, in welcher Vielgestaltigkeit das Leben unsere Schöpfung bevölkert, der muss nur die vielen unterschiedlichen kleinen Käfer und Lebewesen betrachten, die den Waldboden bevölkern. Im Wald ist „Leben in Fülle“ (Joh 10,10), hier wird die Lebenskraft Gottes, die er in seine Schöpfung eingepflanzt hat, in einzigartiger Weise reflektiert.
Am Lebensraum Wald lässt sich auch zeigen, was der Herrschaftsauftrag aus Gen 1,28 konkret bedeuten kann: Eine nachhaltige Forstwirtschaft sorgt dafür, dass es nicht nur Monokulturen gibt, sondern vor allem Mischbestände, die sich durch eine Pluralität von Baumarten auszeichnen. Auch die Jagd gehört zu einem sorgsamen Umgang mit dem Wald dazu. Sie ist entscheidend dafür, dass die Wildtierpopulation reguliert wird und ausgeglichen ist. Mit anderen Worten: Die Jagd kümmert sich darum, allen Lebewesen ein Leben in Fülle zu gewähren. Das klingt zunächst widersprüchlich zum Schöpfungsauftrag. Doch wenn der Wildtierbestand unreguliert bleibt, wenn es zu viele Tiere gibt, leiden nicht nur die Pflanzen, es besteht auch die Gefahr der Ausbreitung von Seuchen und der Reduzierung der Vielfalt der Tierarten. Gerade in den letzten Jahren breitet sich in vielen Wäldern der Borkenkäfer stark aus: Hier greift der Mensch erhaltend in den Lebensraum Wald ein, indem er befallenes Holz schnellstmöglich aus dem Wald entfernt. Die Erhaltung und Förderung dieses Lebensraumes ist ein wichtiges und hohes Gut.
Unbedingtes Eintreten für die Pluralität von Lebensformen
„Über die Erde herrschen“ lässt sich somit am Beispiel des Waldes näher charakterisieren: Es meint ein unbedingtes Eintreten für die Pluralität von Lebensformen und einen Einsatz dafür, dass sich das Leben entfalten kann. Am Lebensraum Wald lässt sich etwas davon erahnen, wie die Schöpfung eigentlich aussehen sollte: Sie sollte uns beschenken und bereichern mit der unendlichen Vielfalt, die der Schöpfer in die Schöpfung eingeschrieben hat. Sie sollte uns lehren, dass wir Menschen uns um sie sorgen müssen, damit sie uns mit Lebenswichtigem beschenken kann. Die Schöpfung ist dem Menschen ja nicht anvertraut, um sie eigennützig auszubeuten und nur auf den eigenen Vorteil zu schielen. Sie ist in die Obhut des Menschen gestellt, damit er für sie sorgt, damit er sie behütet und als Gottes Stellvertreter Verantwortung trägt, dass sich das Leben in ihr immer weiter entfalten kann.
Was aber, wenn wir diesen Schöpfungsauftrag pervertieren, wenn wir ihm nicht gerecht werden, wenn Menschen ihrem eigenen Egoismus und Streben nach finanziellem Gewinn nachgeben? Im Blick auf den Lebensraum Wald formuliert Papst Franziskus in „Laudato si“ eindringlich: „Wenn die Produktion steigt, kümmert es wenig, dass man auf Kosten der zukünftigen Ressourcen oder der Gesundheit der Umwelt produziert; wenn die Abholzung eines Waldes die Produktion erhöht, wägt niemand in diesem Kalkül den Verlust ab, der in der Verwüstung eines Territoriums, in der Beschädigung der biologischen Vielfalt oder in der Erhöhung der Umweltverschmutzung liegt.“ (Nr. 195) Einfach gesagt: Wenn die Dollarzeichen in den Augen blinken, dann ist egal, was mit der Schöpfung geschieht. Dann wird der Lebensraum Wald zum Todesraum, in dem kein Lebewesen mehr erfährt, welche Fülle an Leben Gott seiner Schöpfung eingepflanzt hat.
Tiere merken, dass es ihnen an den Kragen geht
„Als die Tiere den Wald verließen“ hieß eine Fernsehserie aus den 1990er Jahren. Die Tiere merken, dass es ihnen an den Kragen geht, wenn Baumaschinen anrücken, um den Wald zu zerstören. Was aber, wenn kein Tier mehr den Wald bevölkert? Wenn kein Vogel mehr sein fröhliches Lied pfeift? Wenn kein grünes Blatt mehr einen Baum ziert? Dann ist der Wald kein Lebensraum mehr, dann ist er ein markantes Beispiel für die verderbte Schöpfung, in der nicht die Vielfalt von Leben das Bild prägt, sondern die unausweichliche Kälte des Todes. Sie wird unsere ganze Schöpfung einholen, wenn wir unseren Schöpfungsauftrag nicht ernst nehmen, wenn wir weiterhin nur über den Klimaschutz reden und gleichzeitig weiterhin Autobahnen bauen.
Papier ist geduldig, Geschichten über Räume, die uns mit der wunderbaren Fülle des Lebens konfrontieren, kann man viele erzählen. Aber man kann ihn auch erleben, den Lebensraum Wald, der uns erahnen lässt, mit welcher unsagbaren Gutheit unsere Schöpfung am Anfang ihres Daseins einmal ausgestattet gewesen ist. Spaziergänge durch den Wald bereichern, auch jetzt im November. Und vielleicht lassen sich danach leichter Geschichten über das Leben schreiben, wenn man sich einmal von diesem Überschuss an Leben beschenken lässt, dem man im Wald nicht auskommt. Diese Fülle des Lebens ist nicht nur auf den Wald begrenzt, sie soll in unserer ganzen Schöpfung erfahrbar werden. Dafür müssen wir eintreten.
Dr. Fabian Brand studierte in Würzburg und Jerusalem Katholische Theologie. Er wurde mit einer Arbeit über eine topologische Theologie promoviert und arbeitet derzeit an einer Habilitationsschrift, die sich mit dem Priesterbild des Zweiten Vatikanischen Konzils auseinandersetzt.
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