… oder: Warum die Apokalypse erst der Weg in die Freiheit ist. Von Michaela Quast-Neulinger.
„An Bad Kreuzen, die Stadt, wo ich endlich die Freiheit kennengelernt habe.“ 1981 kann Komponist Jan Truhlár aus der Tschechoslowakei ausreisen und erhält in Österreich politisches Asyl. Erste Station: Bad Kreuzen – ein kleiner Ort im Mühlviertel, keine wirkliche Stadt. Einfache Stücke für Gitarre, die für Truhlár ungewohnte Momente aufgreifen – die Kirchenglocken, die in der alten Heimat nicht läuten durften, der öffentliche Trauerzug, die endlose Natur. Bad Kreuzner Idyllen, die Freude über die Freiheit, endlich leben, endlich vertrauen, endlich vor den Vorhang und in Beziehung zur Welt treten.[1]
Leben in ungewöhnlichen Zeiten
In Truhlárs musikalischen Bildern taucht der Mensch ein in das schwebende Gefühl unerahnter, überraschender Freiheit. Es sind kurze, harmonische Traumbilder, die vorbeiziehen, aber doch bestärken für den Weg. Können wir in diesen Tagen die Feier der Freiheit, des Lebens, der Beziehung nachspüren? Wir leben in ungewöhnlichen Zeiten, mancher sieht nicht nur die Krise, die Zeit der Entscheidung, sondern geradezu die Apokalypse, angebrochen in einer Pandemie, dem Übergriff der Techno-Riesen aus dem Silicon Valley[2] und den Klimaveränderungen. Das Ende ist nahe, so verkünden es nicht nur die Lesungen am Ende des Kirchenjahres, so hallt es auch im Feuilleton, den sozialen Medien, auf den Straßen. Je länger die Nächte, umso lauter die Unheilspropheten. Je kälter die Tage, umso aufgeheizter die Stimmung.
Truhlár sehnte sich nach einem Leben in Vertrauen aufeinander, im Miteinander von Mensch und Natur. Freiheit als Beziehungsgeschehen. Wonach aber rufen jene, die heute das Ende der Freiheit proklamieren, den Anbruch der Diktatur beschwören und sich selbst als Retter der Freiheit deklarieren?
Freiheit durch Verfügbarmachung?
Freiheit ist heute vielfach zum Synonym absoluter Verfügbarmachung durch ein singuläres Individuum geworden. Ich entscheide, was ich will, jenseits meiner möglichen Einbindung in eine Gemeinschaft. Ich entscheide, was wahr ist, jenseits aller Kriterien, die erst eine vernünftige Auseinandersetzung ermöglichen würden. Ich nehme mir, was mir zusteht. Dem gegenüber tritt ein anderes Extrem, das im Namen einer imaginären Gemeinschaft „Volk“ die Person zum bloßen Partikel eines fantasierten homogenen Ganzen abwertet. Der von den USA ausgehende „National Conservativism“ mit seinen europäischen Verbündeten exerziert es vor.[3]
Der Kampf um Macht wird getarnt in eine Hülle von „Freiheit“.
Hartmut Rosa skizziert vier Dimensionen von Verfügbarkeit bzw. Verfügbarmachen. Es geht darum, etwas sichtbar, erreichbar, beherrschbar und schließlich nutzbar zu machen.[4] Rosa sieht diese vier Dimensionen vor allem realisiert in einem permanenten Kampf um Macht.[5] Doch dieser Kampf um Macht wird getarnt in eine Hülle von „Freiheit“. Die „Freiheit“ des Einen ist in diesem Spiel nur möglich durch Unterwerfung des Anderen. Dies gilt für beide oben skizzierte Extreme. Der singuläre Individualist sieht seine Freiheit nur möglich durch Abweisung des Anderen – it’s my life, it’s my choice. Der „national conservative“ – oder mit Markus Linden[6] gedacht etwas weniger euphemistisch: ethno-pluralistische Chauvinist mit deutlich antipluralistischer und antidemokratischer Orientierung – kann Freiheit nur innerhalb einer patriarchalen, auf Alter und Status begründeten und bisweilen religiös inspirierten Hierarchie denken, verbunden mit der Unterwerfung von Minderheiten, Frauen und Kindern unter die kollektive Ordnung, die bisweilen als „göttliche Ordnung“ legitimiert werden soll.
Freiheit, die sich nur in der Unterwerfung eines Anderen oder der absoluten Abgrenzung von diesem zu realisieren glaubt, ist ein gefährlicher Trug. Freiheit ist untrennbar verbunden mit Beziehung in Form von Solidarität, die wiederum in Vertrauen gründet und aus diesem heraus neue Freiheit ermöglicht. Ein Leben in Freiheit ist ein Leben in wechselseitigem Vertrauen. Es ist dieses Vertrauen in die Welt und den Menschen, das Truhlár hinter dem Eisernen Vorhang bitter vermisst hat und dessen Zerbrechen uns heute aneinander (ver)zweifeln und erstarren lässt. Wie ist es möglich, hier auszubrechen, einen neuen Anfang zu setzen?
Freiheit aus Natalität: Einen Anfang setzen und geschehen lassen
„Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als ‚Gesetz‘ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, daß es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann.“[7]
Menschsein heißt, einen Anfang zu haben
„Natalität“ ist ein Schlüsselbegriff in der Philosophie Hannah Arendts. Weil es den Anfang gibt, den unverfügbaren Beginn, kann es überhaupt ein Handeln in der Welt geben. Menschsein heißt, einen Anfang zu haben und Freiheit zu sein, aber nicht über diese verfügen zu können.
„Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.“[8]
Mit jedem Menschen tritt etwas Neues, Einzigartiges in die Welt, das wiederum Neues, Einzigartiges in Gang setzen kann. Die Versuchung liegt darin, diesen je neuen Anfang setzen zu müssen und damit der von Rosa kritisierten „dynamischen Stabilisierung“ als Grundcharakteristikum und Kernproblem der Moderne auf den Leim zu gehen. Ich muss nicht neu anfangen – nein, ich darf. Gerade der Lebensanfang und das Lebensende sind heute jedoch jene Bereiche, in denen die Verfügbarmachung zur dominanten Handlungsanweisung wird.[9] Aber realisiert sich Freiheit tatsächlich in der Kontrolle des Kindes, seiner (Nicht-)Geburt, weil es den definierten Kriterien (nicht) entspricht – gerade unpassend, weil stressig in der Karriere, falsches Alter oder Geburtstag könnte in die Schularbeitenzeit fallen, daher geplanter Kaiserschnitt in den Ferien? Die Gespräche am Nachbarstisch bieten mitunter ungewollte Mithörmomente.
Natalität ist auch ein Kriterium des Handelns.
Ist der verfügte assistierte Suizid, wie er in Österreich ab 2022 erlaubt sein soll, Ausdruck der Freiheit eines leidenden Menschen oder Resultat dessen, was von der Umgebung, dem sozialen Umfeld, der ökonomischen Situation als unerträglich festgelegt wird?
Natalität ist ein Charakteristikum des Menschen, aber auch ein Kriterium des Handelns. Dort, wo es nicht mehr möglich ist, einen Anfang zu setzen und Prozesse in Gang zu setzen, Neues geschehen zu lassen, ist kein Raum mehr gegeben für das Handeln. Ohne Anfang keine Freiheit. Ohne Freiheit kein Handeln.
Freiheit als Beziehung – Solidarität riskieren
Zugleich mahnt Arendt, dass Natalität und Pluralität eng miteinander verwoben sind. Als Mensch bin ich unter Menschen, bin ich je in Beziehung mit einem Anderen. Beziehung aber setzt Freiheit voraus, die Möglichkeit der freien Antwort.[10] In aller Ernsthaftigkeit ist sie ein transformierendes Wechselspiel von Ruf und Antwort, niemand geht daraus unverändert hervor.
Auf gesellschaftlicher Ebene bedarf eine lebensfreundliche Freiheit der Solidarität. Aber welcher? Solidarität heißt etwas riskieren für den Anderen, auch wenn ich möglicherweise selbst daraus Nachteile erfahre. Was bin ich bereit in Kauf zu nehmen, um das Recht auf Leben meines Nächsten zu verteidigen, ihm und ihr ein Leben in Fülle zumindest greifbar zu machen? Solidarität beruht auf Vertrauen, auf „Integration und Partizipation auf Augenhöhe“[11]. Kann ich darauf vertrauen, dass mein Nächster/meine Nächste auch für mich riskiert? Für mich verzichtet, sich einschränkt? Kann ich seinem/ihrem Urteil vertrauen?
Sich des gegenseitigen Vertrauens als würdig erweisen.
Die im 19. Jahrhundert entstehenden Genossenschaften, für die der Solidaritätsgedanke bis heute wesentlich ist, wollten nicht bloße Vereine sein, sondern waren auch an der Umsetzung moralischer Vorstellungen interessiert, so Ute Frevert.[12] Sie setzten auf freiwilliges Einstehen füreinander, aber auch auf einen gewissen moralischen Druck, ehrlich zu handeln und sich des gegenseitigen Vertrauens als würdig zu erweisen.
Vertrauen und damit Solidarität lassen sich nicht erzwingen, aber sie sind unabdingbar für ein Zusammenleben in Freiheit. Totalitäre Regime zeichnen sich aus durch ein gezieltes Untergraben des zwischenmenschlichen und institutionellen Vertrauens. Wir erleben heute ein bewusstes Schüren des Misstrauens in mühevoll aufgebaute Institutionen wie Justiz, Wissenschaft und Medien, aber auch den Verlust des Vertrauens in den Nächsten. Ist das Gericht wirklich politisch unabhängig? Sind die Wissenschaftler nicht alle irgendwie von einer Lobby gelenkt? Und erst die Medien? Welcher Statistik kann ich trauen? Sind die Hände vom Nachbarn wirklich gewaschen, das 3G-Zertifikat echt?
Apokalypse und Initium: Eröffnen, nicht lähmen
Das Ende ist nahe – wenn die Sterne vom Himmel fallen, die Reiter galoppieren, Beziehungen zerbrechen, und nur die Wenigen gerettet werden. Die Versuchung ist groß, die massiven Herausforderungen der Gegenwart als Anbruch der Apokalypse im Sinne eines völligen Bruches mit dem Leben zu lesen. Doch wer diese Form des Endes herbeibeschwört, vertritt damit nur zu oft den Anspruch eigener Allwissenheit und -macht und der Lähmung jener, die verfügbar zu machen sind.
Die Bilder der Apokalypse als Enthüllung im Sinne der Eröffnung zu lesen.
Wenn am Ende des Jahres die Bilder der Apokalypse vor unseren Augen sind, dann sind wir eingeladen, diese nicht als Katastrophe, sondern als Enthüllung im Sinne der Eröffnung zu lesen. Ich möchte sogar noch weitergehen, als initium im Sinne von Arendt. Als Mensch ein Anfang zu sein bedeutet, zum Handeln befreit, ja geradezu gerufen zu sein. Die christliche Apokalypse als eröffnende Enthüllung will nicht lähmen, sondern im Angesicht der Bedrängnis, die in jeder Zeit begegnet, zum Handeln bestärken, gerade auch zum Handeln als politischem Tun. Dieses Handeln bedarf mit Hannah Arendt zweier Grundorientierungen: verzeihen und versprechen, d.h. das Vergangene zu erinnern ohne es nachzutragen und dem Zuspruch einer hoffnungsvollen Zukunft zu vertrauen.[13]
„Arendt thinks that politics should not be thought of as a game of manipulation by those involved, but as a stage upon which an actor courageously relinquishes control and reveals himself.”[14]
Message Control und Manipulationsspiele sind damit keine Politik im anspruchsvollen Arendt’schen Sinn. Gerade eine Zeit der Krise enthüllt, offenbart dies. Im Handeln als politischem Tun zeigt sich, wer ich im Innersten bin. Als Leitlinie ergibt sich: In der Gegenwart zu handeln bedeutet, in Erinnerung an das bereits Geschehene einen Neuanfang zu setzen, in dem ich so spreche und handle, dass mir vertraut werden kann und ich selbst vertrauen kann. Sich des Vertrauens als würdig zu erweisen bereitet die Grundlage für Solidarität und damit Freiheit als Beziehungsraum.
Vertrauen auf Mensch, Welt und vielleicht Gott
Leben heißt vertrauen. Das enthüllt sich gerade in jenen Zeiten, die wir als apokalyptisch erfahren, in denen Freiheit zur Floskel antifreiheitlicher Kräfte wird und Solidarität vom Anderen eingefordert wird, ohne selbst diese Solidarität zu riskieren. Als Jan Truhlár in den Bad Kreuzner Idyllen die Freiheit niederschrieb, spürte er sich eingebettet in die Welt – in einem Netz von Beziehungen, im Vertrauen auf Mensch, Welt und vielleicht Gott. Daran können wir uns getrost in diesen Tagen kurz vor Adventsbeginn erinnern, denn:
„Daß man in der Welt Vertrauen haben und daß man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ‚die frohe Botschaft‘ verkünden: ‚Uns ist ein Kind geboren.‘“[15]
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Dr.in Michaela Quast-Neulinger ist Universitätsassistentin am Institut für Systematische Theologie der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck.
Bildquelle: freepick.com
[1] Vgl. die Aufnahme des Gitarristen Christian Haimel, bestellbar unter: http://www.christianhaimel.com/index.htm. Der Gitarrist stammt ebenfalls ursprünglich aus Bad Kreuzen.
Zu den Gitarrenstücken hat der Sohn des Komponisten Jan Truhlár ein Buch verfasst, vgl. Dalibor Truhlár, Bad Kreuzner Idyllen. Trauner Verlag 2017.
[2] Vgl. u.a. den Video-Essay von ‚umdenkbar‘, der – unterlegt mit Worten aus der Offenbarung des Johannes – vor der Macht und den antidemokratischen Unternehmungen der Techno-Konzerne warnt: https://www.youtube.com/watch?v=jOC0zOXE-84.
[3] Vgl. dazu exemplarisch Yoram Hazony, The Virtue of Nationalism. New York, 2018.
[4] Rosa, Hartmut, Unverfügbarkeit, Berlin ²2021, 21-24.
[5] Rosa, Unverfügbarkeit, 24.
[6] Linden, Markus, Das Scharnier – Neuer Konservatismus und Neue Rechte. Merkur 74,855 (2020) 86–94.
[7] Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben. München ²1981, 243.
[8] Arendt, Vita activa, 166.
[9] Vgl. dazu eindringlich Rosa, Unverfügbarkeit, 71-98.
[10] Rosa, Unverfügbarkeit, 51.
[11] Herzog, Lisa, Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf. München 2019, 185.
[12] Vgl. Frevert, Ute, Kapitalismus, Märkte und Moral. Wien – Salzburg, 2019, 46.
[13] Vgl. Arendt, Vita activa, 233ff.
[14] Fry, Karin (2014) Natality. In: Hayden, Patrick (Hrsg.) Hannah Arendt: Key Concepts. Durham, 23-35, 34.
[15] Arendt, Vita activa, 243.