Welchen Beitrag leistet die römisch-katholische Kirche zum Klimagipfel in Glasgow? Katharina Karl, Jochen Ostheimer und Stephan Winter stellen ein interessantes Projekt vor: Lebendige Kapellen.
Vom 31. Oktober bis zum 12. November trifft sich die Weltgemeinschaft ein weiteres Mal, um in Glasgow Maßnahmen gegen die Erderwärmung zu beratschlagen und vielleicht auch zu vereinbaren. Nach einem jahrelangen erfolglosen Tauziehen hatte der Weltklimagipfel 2015 in Paris eine interessante Wende gebracht. Anstelle verbindlicher Vorgaben für die einzelnen Staaten wie beim Kyoto-Protokoll sieht das Pariser Abkommen vor, dass jedes Land eigenständig und freiwillig ein Reduktionsziel festlegt, wobei insgesamt die Erderwärmung bis zum Jahr 2100 auf deutlich unter 2° C begrenzt werden soll.
Hinter dieser Verfahrensweise steht die Idee, dass die Staaten an einem guten Image interessiert sind und sich daher nicht blamieren wollen, indem sie unzureichende Klimaschutzanstrengungen melden. An die Stelle rechtlicher Verpflichtung tritt also öffentlicher Druck. Diese Vorgehensweise funktioniert umso besser, je mehr sie in einen umfassenden gesellschaftlichen Rahmen eingebettet ist. Daher fordert das Pariser Abkommen auch nichtstaatliche Akteure wie Städte, Regionen oder Unternehmen auf, sich öffentlich Dekarbonisierungsziele zu setzen, was ein Jahr später in den Marrakesh Partnerships for Global Climate Action konkretisiert wurde. Es gibt also keine zentrale Vorgabe ‚von oben‘, sondern eine Vielzahl lokal passender Selbstverpflichtungen ‚von unten‘, die nach und nach aneinander und an das Gesamtziel angeglichen werden müssen. Nötige weiche Voraussetzungen sind Ehrlichkeit und Vertrauen sowie ein bleibend hohes öffentliches Interesse am Thema.
Sorge für das gemeinsame Haus
Hier wird nun auch der Vatikan mit einem besonderen Projekt aktiv. Vergangenes Jahr wurde unter der Leitung des Dikasteriums zur Förderung der ganzheitlichen Entwicklung der Menschheit eine erste „Lebendige Kapelle“ in Rom eingeweiht. Weitere wurden bzw. werden dieses Jahr in Mailand und im Podelta eröffnet. Der Grundgedanke: Es soll dem Mangel an erfahrungsbasierten Zugängen zur Schöpfung begegnet werden, den die Enzyklika Laudato si’ als ein wesentliches Problem der modernen Zivilisation identifiziert. Von diesem Anliegen her wurde der Prototyp im Botanischen Garten in Rom errichtet: inmitten eines ‚grünen’ Ortes der Stadtgesellschaft.
Die Konstruktion aus recyceltem Aluminium, über 3.500 Pflanzen und naturnahen Klangelementen orientiert sich damit konsequent am Motto von Laudato si’: der „Sorge für das gemeinsame Haus“. Deshalb wird ausdrücklich eine Verknüpfung mit den Zielen der UN-Nachhaltigkeitsagenda hergestellt: „Our mission is to unite individuals, communities and organisations of all religions and origin to work together for a positive environmental impact on a large scale. We promote the principles of the encyclical Laudato Si’ and the 2030 Agenda for Sustainable Development. We encourage environmental protection through tree planting in support of the UN’s One Trillion Tree Campaign.“ (https://www.thelivingchapelproject.com) Dem Projekt liegen von daher die Werte von Biodiversität, Harmonie und Einheit zugrunde, wie sie auch Laudato si’ in den Vordergrund stellt. Inspirationsquellen sind für Enzyklika wie Projekt die Schöpfungstheologie in franziskanischer Tradition und der ignatianische Impuls, Gott in allen Dingen zu finden, sowie das lehramtliche Konzept ganzheitlicher Entwicklung, das in Laudato si’ zur Leitidee einer ganzheitlichen Ökologie weiterentwickelt wurde.
Vier Stärken
Glaubensgemeinschaften besitzen einige besondere – und bislang zu wenig entfaltete – Potenziale, einen ökologischen Wandel der Gesellschaft zu unterstützen, zu stabilisieren und durch spezifische Impulse mitzugestalten, die freilich je nach Größe, Ort, Ausrichtung und Struktur der Gemeinschaft unterschiedlich ausgeprägt sind. Diesbezüglich seien vier Stärken herausgestellt, die gerade dieses Projekt auszeichnen:
(1) Entsprechende Aufforderungen auf den einschlägigen Websites deuten darauf hin, dass es beim Projekt der Lebendigen Kapellen darum geht, Basisbewegungen zu motivieren, ohne enge Vorgaben zu machen. So entstehen z. B. mancherorts zusätzlich Laudato si’-Gärten. Teils werden sie eigens gegründet, teils werden – wie etwa im Kloster Fahr (CH) – bestehende Gärten unter dieses Label gestellt. – Genau aufgrund dieses eher offenen Designs passt das Projekt ins Spektrum aktueller Klimaschutzbewegungen: Manche politische Beschlüsse bringen für viele auch Nachteile und Belastungen mit sich; sie brauchen deshalb einen starken Rückhalt, wenn nicht gar einen Anstoß, um überhaupt umgesetzt zu werden. Die Religionsgemeinschaften können die dafür notwendige Bereitschaft zum Wandel unterstützen, wie etwa der Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zeigte.
(2) Das Projekt orientiert sich an der Leitidee der Vernetzung, die Glaubensgemeinschaften untereinander in einer neuen Form verbindet und zugleich über den Bereich des Religiösen hinausreicht. Schon bei der Formulierung der Erd-Charta spielten religiöse Akteur:innen eine wichtige Rolle. Aktuell versammeln sich zahlreiche religiöse Gruppierungen in der vom UN-Umweltprogramm getragenen Initiative „Faith for Earth“. Der explizite Bezug des Projekts der Lebendigen Kapellen auf die UN-Nachhaltigkeitsziele eröffnet das außerkirchliche Vernetzungsfeld und zeigt, dass das Projekt interdiskursiv angelegt ist und keine konfessionelle Ausrichtung hat. Nicht Exklusivität und Abgrenzung, sondern eine einladende und offene Anschlussfähigkeit ist die Devise.
Resonanzen verstärken
(3) Das Projekt verbindet Lokalität und Globalität. Es ist geplant, in verschiedenen Teilen der Welt Lebendige Kapellen bzw. auch Laudato si‘-Gärten zu errichten, etwa in der Sahelzone oder auf den Philippinen. Die katholische Kirche kann solche lokalen Impulse mit einer global relevanten Botschaft deshalb gut setzen, weil sie nicht nur weltweit Menschen mit ihren Ortsgemeinden beheimatet. Sie bietet aufgrund ihrer Mitgliederstärke auch einen großen Resonanzraum für Ideen. Es kann immer wieder gelingen, dass eine Bewegung durch die gesamte Kirche geht und dadurch weit über ihre Grenzen hinaus Wirkungen entfaltet – wenn auch bei den Lebendigen Kapellen noch nicht absehbar ist, in welchem Maß dies gelingen wird. Diese Kapellen wollen jedenfalls Resonanzen verstärken, die bereits im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Laudato si’ ausgelöst worden sind, Resonanzen, die von den aktuellen globalen Krisen her naheliegen.
(4) Die Kampagne will zum Mitwirken animieren. Die öffentliche Positionierung einer positiven Kulturleistung und die Kraft der Ästhetik sind dabei maßgeblich. Konkret: Katholische Sakralbauten sind von jeher nicht nur Versammlungsort für die Feier von Gottesdiensten und Ort für das individuelle Gebet. Sie sind zugleich in vielen anderen Hinsichten Bedeutungsträger und bringen in ihrer Architektur und mit ihrer Symbolsprache ausgewählte Facetten des Glaubens zum Ausdruck. Sie sind damit Angebote des Dialogs über das, was Menschen über den Alltag hinaus heilig ist. Für die Lebendigen Kapellen gilt dies ganz besonders, weil sie „living sacred spaces“ sind, die in hohem Maß durch Nutzer:innen konstituiert und dynamisiert werden: „Each living sacred space will be a hub for community-led environmental prayer and action. Our free universally accesible online platform of guidelines and resources will assist communitygroups and families to create their own Living Sacred Spaces“ (https://livingchapel.com/a-global-movement/living-sacred-spaces).
Primär auf einer emotionalen Ebene
Umgekehrt verändern die Lebendigen Kapellen womöglich christliche Spiritualität. Ihre Ästhetik will primär auf einer emotionalen Ebene positiv ansprechen, v. a. durch bunte Pflanzen, geschwungene Formen und sphärische Klänge. Das mögen manche als kitschig oder harmonisierend, esoterisch und naturmystisch empfinden. Vielleicht sind solche Irritationen aber dem Umstand geschuldet, dass innerhalb christlicher Glaubenskommunikation der Aspekt der Schöpfungsgemeinschaft schon länger keine zentrale Rolle mehr spielt, auch nicht in der Bildsprache. Es ist abzuwarten, inwiefern die Lebendigen Kapellen und Laudato si‘-Gärten sich in z. T. lange gewachsene Sakraltopographien einpassen und ggf. dadurch – flankiert durch Bildungsarbeit – Gebets- und Gottesdienstpraktiken in Bewegung versetzen: indem sie Assoziationen wecken und bestimmte Motive (neu) als spirituelle Ressourcen wahrnehmbar machen.
In diesen Aspekten wird das politische Potential kirchlicher Praxis deutlich. Die Lebendigen Kapellen können ein inspirierendes Symbol für entsprechende Initiativen sein, die Menschen überzeugen und motivieren, bei der Förderung und Stabilisierung von global anstehenden, existentiell bedeutsamen Transformationsprozesse mitzuwirken. Sie sind ein Beispiel auch spirituell geprägter direkter Partizipationsmöglichkeiten für Einzelne und Gruppen, die deshalb notwendig sind, weil sie im besten Fall Komplexitäten reduzieren, ohne zu banalisieren.
Prof. Dr. Katharina Karl ist Professorin für Pastoraltheologie in Eichstätt, AssProf. Dr. Jochen Ostheimer ist Assistenzprofessor für Ethik und Gesellschaftslehre in Graz und Prof. Dr. Stephan Winter ist Professor für Liturgiewissenschaft in Tübingen.
Bildquelle: Pixabay