Das Verhältnis zum naturwissenschaftlich toten Körper zeigt bisweilen besondere Formen. Hubertus Lutterbach reflektiert dies anlässlich eines neuen Wunders in einem Benediktinerinnen-Kloster im US-Bundesstaat Missouri.
Braucht es immer erst Tote, damit das Christentum wieder in positiver Weise von sich reden macht? Es scheint so. Jedenfalls sind Heilige ein Exportschlager weit über Kirchengrenzen hinweg. Während der Priester-Gewalt-Skandal, institutionelle Gestrigkeit oder Kirchenaustrittszahlen die Negativschlagzeilen Tag für Tag bestimmen, schaffte es kürzlich eine vor wenigen Jahren verstorbene uralte Nonne in die Headlines der Digital- und Printmedien.
Tausende pilgern seitdem in ein ländlich gelegenes Benediktinerinnen-Kloster im US-Bundesstaat Missouri. Dort gibt es seit neuestem eine Sehenswürdigkeit der besonderen Art zu bestaunen. Die ehemalige Klosterleiterin, die vor vier Jahren 95-jährig verstorben war, will sich einfach nicht aus dem Staub machen. Besser gesagt: Sie will nicht zu Staub werden.
Keine Spuren von Verfall!
Und das zeigte sich so: Gemäß den Gebräuchen der Gemeinschaft hatte man die verstorbene Nonne exhumiert, um sie durch die Verlegung ihrer sterblichen Überreste in eine klostereigene Kapelle besonders zu ehren. Erwartungsgemäß stieß man bei der Grabung auf den einfachen Holzsarg, an dem der Zahn der Zeit bereits kräftig genagt hatte. Nichtsdestoweniger: In ihrem Sarg fand man die Nonne vor, als ob sie erst vor Tagen gestorben wäre. Keine Spuren von Verfall!
„Wir glauben, dass Schwester Wilhelmina die erste afroamerikanische Frau ist, die unversehrt aufgefunden wurde“, sagte die amtierende Äbtissin des Klosters über ihre im Sarg intakt angetroffene Vorgängerin gegenüber der Catholic News Agency. Derart überrascht und überfordert war die Schwesterngemeinschaft mit diesem Wunder, dass sie anfänglich keinen Plan hatte, wie sie mit ihrem wundersamen Fund umgehen sollte.
Ihre Mitschwestern reinigten die Verstorbene mit Wasser und fertigten eine Wachsmaske des fast unversehrten Kopfes und der Hände an. Nachdem man die Verstorbene für einige Tage in der Klosterkapelle aufgebahrt hatte, bettete man sie im Anschluss in einen Glassarg, um das Wunder des wider alle Wahrscheinlichkeit erhaltenen Körpers offen zu zeigen. Zugleich verstehen die Schwestern diese Weise der Präsentation als Ausdruck der Gastfreundschaft gegenüber der stetig ansteigenden Zahl von Besucherinnen und Besuchern, die wegen Schwester Wilhelmina das Kloster aufsuchen.
„Wunder gibt es immer wieder. Wenn sie dir begegnen, musst du sie auch sehen.“
Tatsächlich kommen seit Wochen viele, um das Unerklärliche mit eigenen Augen zu sehen und sich womöglich von der im Glassarg vor ihnen liegenden Nonne persönlich Heil zu holen. Oder um dem Geheimnis der Unverweslichkeit unabhängig von der eigenen Gläubigkeit zumindest einmal nahe gewesen zu sein. Vielleicht auch aus dem menschlich verständlichen Wunsch, dass das eigene Leben über den Tod hinaus ebenso eine Fortsetzung finden möge, wie man es der Nonne aufgrund ihrer ausbleibenden Verwesung zuschreibt. Umso bemerkenswerter ist es, dass die Menschen zum Koster kommen, weil sie ansonsten wohl eher auf naturwissenschaftliche Überzeugungskraft setzen. Aber wie heißt es schon in einem altbekannten Lied: „Wunder gibt es immer wieder. Wenn sie dir begegnen, musst du sie auch sehen.“
Totsein heißt: Sein mit Gott.
Ebenso wie das Wunder der Unverweslichkeit heutzutage überraschend wirkt, so wenig dachte man in biblischen Zeiten daran, dass unverweste Leichname einmal unter den Anhängerinnen und Anhängern Jesu für Schlagzeilen sorgen würden. Denn die Texte des Neuen Testaments und die frühen Christen stehen für eine andere Überzeugung: Totsein heißt: Sein mit Gott. Weitere Bilder und Erläuterungen brauchte es damals nicht. Von unverwesten Körpern ist jedenfalls keine Rede.
Erst in dem Maße, wie das ursprünglich als sicher vorausgesetzte baldige Wiederkommen Jesu nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt ausblieb, begannen Christen besorgt zu fragen, was mit ihnen nach ihrem Tod geschieht. Plötzlich sorgten Berichte für Aufsehen, dass bei den Christenverfolgungen getötete Christen in ihren Gräbern Wunder wirkten, so dass man sie im Rahmen prominent besetzter und festlich gestalteter Liturgien exhumierte, um ihren Sarg zu öffnen. Und was zeigte sich: ein unverwester Leib nach dem anderen! Ein Phänomen mit im Mittelalter weiter steigender Häufigkeit.
Über den Heiligen Hubertus, den 727 gestorbenen Bischof von Maastricht, wird sogar überliefert, dass er mehrfach exhumiert wurde. Und wiederholt zeigte sich das gleiche Phänomen: der Körper unverwest! Einer jüngeren Überlieferung zufolge öffnete man seinen Sarg schließlich jährlich. Und jedes Mal war sein Bart wundersam nachgewachsen, so dass man ihn schneiden und die Barthaare als Reliquien verschenken konnte, ohne dem Körper des Heiligen Schaden zuzufügen!
Ein Heiligengrab galt als Ort, an dem sich der Himmel auf Erden wirkmächtig zeigt.
Über fast anderthalb Jahrtausende hinweg bis zur Aufklärung hegten die Menschen keinen Zweifel daran, dass Gott seine Heiligen nicht verwesen lässt. Weil man den Körper des Heiligen in der Erde und seine Seele im Himmel miteinander verbunden glaubte, galt ein Heiligengrab als Ort, an dem sich der Himmel auf Erden wirkmächtig zeigt. Wie bei Jesus: Erstens hatte der doch die Verwesung zwischen Tod und Auferstehung ebenfalls nicht erlebt. Und zweitens berief man sich für ihn und für andere auf einen uralten Gebetsvers aus dem Alten Testament: „Gott, Du lässt deine Frommen die Verwesung nicht schauen.“ (Ps 16,10)
Umso interessierter fragten die Christen weiter: Wodurch sieht sich Gott eigentlich zu seinem wundersamen Eingreifen zugunsten der Unverweslichkeit motiviert? Zwei Erklärungen brachten es zu Breitenwirkung: Entweder belohnt er ein durch und durch ‚sexualitätsfrei-zölibatär‘ geführtes Leben, so gab man sich überzeugt. Oder er würdigt echte christliche Überzeugungstäter, deren Leben von tiefstem innerem Ringen um das religiöse Zeugnis im Alltag geprägt ist.
„Willst du wirklich ewig leben, musst du deinen Körper geben“, wirbt Gunther von Hagens.
Bis heute ziehen die unverweslichen menschlichen Körper, die sich übrigens auch im Buddhismus oder im Islam bezeugt finden, das Interesse selbst von Naturwissenschaftlern auf sich. Beispielsweise greift der Anatom Gunther von Hagens, der sich als „verkannter Prophet einer neuen Zeit“ versteht, die Sehnsucht der Menschen nach Unsterblichkeit auf, wenn er die Tradition der nicht verwesten Körper seit Jahrzehnten auf seine eigene Weise fortsetzt. Dafür entwickelte er sein bis heute hoch geachtetes Verfahren der Plastination, mit dem er Menschen nach ihrem Tod auf Dauer haltbar macht. Bei dieser mehrstufigen Konservierungsprozedur durchtränkt er das menschliche Gewebe mit Kunststoff. Entweder wird der gesamte Leichnam in einer bestimmten Pose fixiert oder nur eine präparierte Gewebsscheibe zwischen zwei Glasscheiben gelegt, um den menschlichen Körper oder einen kleinen Teil davon sichtbar zu machen. „Willst du wirklich ewig leben, musst du deinen Körper geben“, wirbt Gunther von Hagens in Reimform um Körperspender, die er dann in seinen millionenfach besuchten „Körperwelten“-Ausstellungen international präsentiert.
Kann man tatsächlich von einer Kontinuität zwischen den mittelalterlichen unverwesten Heiligen und den durch Gunther von Hagens geschaffenen Körperpräparaten sprechen? Nein, denn die unverwesten Körper sind Ausdruck des religiös als lebendig eingeschätzten und namentlich bekannten Menschen. Dagegen müssen die modernen und anonym ausgestellten Plastinate eher als Kunstobjekte gelten. Die Rede von den unverwesten Körpern, sozusagen von den Ganzkörperreliquien, beruht auf einem religiös mitgeprägten Körperverständnis. Im Unterschied dazu gehören die Körper der „Körperwelten“-Ausstellung in den Horizont des biomedizinischen Menschenbildes.
Selbst in unserer ansonsten empirisch dominierten Welt staunen Menschen vor derartigen Ausdruckweisen urtümlicher Religiosität.
Ohne Frage ist es bemerkenswert, dass man angesichts des massenhaften Interesses sowohl an unverwesten Körpern als auch an Körperplastinaten weder religiös noch naturwissenschaftlich von einer durchgängigen Verdrängung des Todes aus dem gesellschaftlichen Leben sprechen kann. Und nicht zu vergessen: Das am meisten aufgesuchte Pilgerheiligtum in Europa (übrigens: mehr als doppelt so häufig besucht wie Santiago de Compostela!) liegt im süditalienischen San Giovanni Rotondo. Dort kann man den 1968 verstorbenen Priester und Ordensmann Pater Pio in unverwestem Zustand antreffen. Als man ihn 2008 exhumierte und fast ohne Spuren der Verwesung auffand, gab ein bei der Erhebung anwesender Erzbischof zu Protokoll: „Wenn Pater Pio gestattet, würde ich sagen, seine Hände sahen aus wie frisch manikürt.“ Wie Schwester Wilhelmina liegt seitdem auch Pater Pio in einem gläsernen Sarg. Und die Massen strömen herbei: bis zu 7,5 Millionen Menschen jährlich.
Also: Selbst in unserer ansonsten empirisch dominierten Welt staunen Menschen vor derartigen Ausdruckweisen urtümlicher Religiosität. Damit lassen sich die Worte eines mehr als 50 Jahre alten Chansons auch auf religionsgeschichtliche Zusammenhänge anwenden: „Wunder gibt es immer wieder. Heute oder morgen können sie geschehen.“ Und die Theologie tut gut daran, derartige Phänomene zur Kenntnis zu nehmen, denn sie ermöglichen eine Ausweitung des ökumenischen Horizonts und des interreligiösen Lernens gleichermaßen.
Hubertus Lutterbach, Prof. Dr. Dr., geb. 1961, lehrt Christentums- und Kulturgeschichte am Institut für Katholische Theologie der Universität Duisburg-Essen. Zahlreiche monographische Publikationen, zuletzt: „Urtümliche Religiosität in der Gegenwart„, Freiburg: Herder Verlag 2022“.
Zum Beitragsbild:
Die Metall-Skulptur “Grablegung Jesu” wurde 2000 von Gloria Umlauft-Thielicke in der Lehrwerft von Blohm+Voss geschaffen. Quelle: Wikimedia Commons.