Indem der Mensch seine eigenen utopischen Räume schafft, wendet er sich von seiner Aufgabe, Gottes Ebendbild zu sein, ab und zerstört das kleine Schöpfungsglück. Fabian Brand auf der Suche nach dem schützenden Prophet*in-Sein in jedem von uns.
Ein Frühlingsspaziergang über grünende Wiesen und Felder meiner oberfränkischen Heimat. Naturidylle, möchte man es fast nennen, zwischen den kleinen Dörfern am Obermain. Irgendwo, im nahen Wald, ruft ein Kuckuck; die wärmenden Sonnenstrahlen erwecken allerhand Getier zum Leben; mit viel Glück sieht man auf der Wiese Rehe mit ihren Kitzen grasen. Das kleine Schöpfungsglück, das man dort finden kann, wo der Mensch noch nicht Hand angelegt und die Natur noch sich selbst überlassen hat.
Doch mein Schöpfungsglück zerfließt. In wenigen Monaten werden an der Stelle, an der ich gerade in aller Ruhe flaniere, die Baumaschinen anrollen. Der Ausbau der Autobahn gen Norden ist längst beschlossene Sache, wenngleich sich in letzter Zeit die kritischen Stimmen gemehrt haben. Lange jedenfalls wird es nicht mehr dauern und meine Naturidylle wird von einer vierspurigen Autobahn durchquert. Nein, im Moment möchte ich mir nicht ausmalen, wie es hier in einigen Jahren aussehen wird. Wie es sein wird, wenn die herrliche Landschaft von zahlreichen Autos und LKWs regelrecht zugrunde gerichtet wird.
Der Lebensraum der Schöpfung verkommt zu einem Todesraum.
Auch aus schöpfungstheologischer Perspektive ist es ein Skandalon, was hier geschieht. Nicht nur, weil Natur zerstört und eine radikale Wandlung einer Naturidylle in Kauf genommen wird. Sie ist auch ein Skandalon, weil der Mensch infolge eines derartigen Umgangs mit der Schöpfung seine Gottebenbildlichkeit, die ihm vom ersten Atemzug an geschenkt ist, ins Gegenteil verkehrt und pervertiert. Wo die Schöpfung mutwillig und egoistisch zerstört wird, dort verkommt der Lebensraum der Schöpfung zu einem Todesraum.
Der Lebensraum Schöpfung ist nicht einfach fix gegeben.
Die Schöpfung als Lebensraum lässt sich nicht nach dem Modell des Containerraumes beschreiben. Die Schöpfung ist keine sterile Blackbox, die von Gott am Anfang der Zeiten geschaffen wird und ewig fort in der gleichen Art und Weise Bestand hat. Der Lebensraum der Schöpfung ist vielmehr ein relational produzierter Raum. Ein Raum, der durch Beziehungen hergestellt wird und in den eine hohe Dynamik eingeschrieben ist. Der Lebensraum Schöpfung wandelt sich, er ist nicht einfach fix gegeben. Dass das so ist, zeigt schon die erste Schöpfungserzählung der Bibel: Der Lebensraum wird von Gott produziert, indem er mit der Schöpfung in Beziehung tritt und diesen Raum durch sein Wort schaffend herstellt.
Die Reproduktion dieses anfänglich sehr gut erschaffenen Raumes gibt der Schöpfergott bald schon aus der Hand: Gott setzt den Menschen als Treuhänder ein, damit er an Gottes Statt den Lebensraum immer wieder reproduziert. Wo Menschen in Beziehung mit der Schöpfung stehen und ihre Gutheit fördern, dort produzieren sie den Lebensraum, wie ihn Gott am Anfang der Zeiten geschaffen hat. Das freilich ist kein Selbstläufer. Es ist eine Aufgabe, die dem Menschen gegeben ist und die der Mensch an der Stelle des Schöpfergottes bleibend zu vollziehen hat. Damit ist zugleich ein sehr zentraler Gedanke ausgesagt: Der Lebensraum der Schöpfung lässt sich nicht allein durch die Beziehung von Menschen untereinander reproduzieren.
Der Mensch schafft sich einen utopischen Raum.
Die Gutheit der Schöpfung kann dort nicht zutage treten, wo Menschen allein aus eigenem Interesse und nach eigenem Gutdünken ihren Raum gestalten. Sie wird sogar dort aufs Höchste verdunkelt, wo die Schöpfung und alles, was in ihr lebt, missachtet werden. Hier bauen sich Menschen einen bloß utopischen Raum. Einen Raum, der dort sehr massiv seine offene Flanke offenbart, wo die Schöpfung ihr Existenzrecht einfordert und aus dem rein aus menschlicher Macht produzierten Raum nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Dort offenbart sich das utopische Potential, das derartigen Räumen innewohnt. Kurzum: Wenn Menschen nicht auch die Beziehung zur Schöpfung und zu allem, was zu ihr gehört, achten, werden sie dem Herrschaftsauftrag, Treuhänder des Schöpfergottes in dieser Welt zu sein, nicht gerecht.
Ebenbildlichkeit ist eine bleibende Aufgabe.
Man kann das auch noch auf andere Weise interpretieren und dabei auf das Motiv der Gottebenbildlichkeit zurückgreifen. Sie ist dem Menschen zutiefst eingeschrieben und sie kann nur dort zutage treten, wo der Mensch wie Gott handelt. Im Blick auf die Schöpfung bedeutet das: Menschen werden ihrer Gottebenbildlichkeit gerecht, wenn sie jenen ursprünglichen Schöpfungsraum reproduzieren. Wenn der Mensch so handelt, wie Gott im Anfang die Schöpfung schaffend gehandelt hat, dann ist er wirklich sein Ebenbild. Aber die Ebenbildlichkeit ist ebenso eine bleibende Aufgabe. Sie ist dem Menschen gegeben, aber der Mensch kann sie auch verschleiern. Es gibt sehr konkrete Orte, an denen sie pervertiert wird, weil der Mensch sein Schöpferhandeln verrät. Wo Menschen die Schöpfung nicht als Lebensraum reproduzieren, sondern als einen Raum, der für die Natur und die Lebewesen in ihr zum Todesraum wird, dort handeln Menschen nicht als Gottes Ebenbilder. Sie verkehren das uranfängliche Geschenk des Schöpfers in sein Gegenteil.
Der Mensch sei Treuhänder der guten Schöpfung.
Es braucht in unserer Zeit Prophet*innen wie Greta Thunberg, die uns immer neu daran erinnern, dass es nicht reicht, einen rein an menschlichen Bedürfnissen orientierten Raum zu produzieren. Die Schöpfung kann nur dann ein wirklicher Lebensraum sein, wenn dieser Raum durch vielfältige unterschiedliche Relationen hergestellt wird. Dazu gehören freilich die Beziehungen der Menschen zueinander, aber eben auch die Beziehung des Menschen zur Natur und zu jedem einzelnen Lebewesen in ihr. Der Lebensraum Schöpfung ist ein hochkomplexer Raum, dessen Komplexität dort zusammengeschrumpft wird, wo Menschen versuchen, allein aus eigenem Vermögen diesen Raum zu reproduzieren. Ein solches Handeln verbietet sich, wenn es darum gehen soll, die unbedingte Gutheit der Schöpfung herauszustellen. Wenn der Mensch in egoistischer Weise die Welt für sich alleine reklamiert und dabei diejenigen vergisst, die mit ihm zusammen in diesen Raum der Schöpfung hineingesetzt sind, setzt er auf sehr prekäre Weise das aufs Spiel, was ihm von Anfang an eingeschrieben ist: Als Gottes Ebenbild Treuhänder seiner guten Schöpfung zu sein.
Wie wird es weitergehen mit unserer Schöpfung, wenn wir uns weiterhin unserer Verantwortung entziehen und unseren Lebensraum nach eigenem Gutdünken produzieren? Erich Zenger bringt es so auf den Punkt: „Die Natur, die Pflanzen und die Tiere haben als Mitgeschöpfe der Menschen einen Eigenwert und eine Würde, die der Verfügungsmacht des Menschen Grenzen setzen und eine liebevolle Achtsamkeit der Menschen verdienen“.[1] Wo diese Schöpfungswürde vom Menschen missachtet wird, dort wird die ursprüngliche Produktion des Lebensraumes der Schöpfung in ihr Gegenteil verkehrt. Dort wird fleißig an der Herstellung eines Todesraumes gewerkelt, der sich zunächst für Natur, Pflanzen und Lebewesen, zuletzt aber auch für den Menschen selbst zu einem massiven Problem auswächst. Wann werden wir es endlich begreifen, dass wir es selbst in der Hand haben, ob wir in einem dem Leben oder dem Tod geweihten Raum leben wollen?
Autor: Fabian Brand, Mag.theol., Doktorand im Fach Dogmatik an der Universität Würzburg, bereitet gerade ein Forschungsprojekt zu einer spatiologischen Schöpfungslehre vor.
Beitragsbild: Riccardo Annandale, www.unsplash.com
[1] Zenger, Erich: Lebenshaus für alle. Die Botschaft der biblischen Schöpfungstheologie, in: Deselaers, Paul/Dohmen, Christoph (Hgg.): Mit Gott ums Leben kämpfen. Das Erste Testament als Lern- und Lebensbuch, Freiburg i.Br., 2020, 323-342, hier: 341.