Nach erstem Applaus für die Pflegekräfte in Kliniken und Pflegeheimen und versprochenen Boni fragen Maike Domsel und Franziska Schmid nach gesellschaftlichen Konsequenzen für das Miteinander der Generationen nach der Corona-Krise.
Stefanie Beck, Sozialpädagogin und Musiktherapeutin in einem süddeutschen Pflegeheim, half während des Ausbruchs von COVID-19 freiwillig bei der Isolation von Bewohner*innen. Sie berichtet:
„Eine Bewohnerin aus meiner Musikgruppe wurde positiv getestet und ich musste ihr mitteilen, dass sie aus gesundheitlichen Gründen isoliert wird. Ich denke gerade an ihre strahlend blaue Augen, ihr liebes Lächeln, eine tolle Frau. Sie saß einfach nur in ihrem Rollstuhl und hat ganz leise geweint und gesagt ‚Steffi, ich hab so Angst‘. Ich habe zu ihr gesagt: ‚Ich bringe Sie an einen Ort, an dem man mehr auf Sie aufpassen kann.‘ Als ich diese Bewohnerin mit ihrem Rollstuhl aus unserem Wohnbereich herausfahren musste, tat mir das in der Seele weh. Da musste ich wirklich schlucken und noch mehr habe ich geschluckt, als ich die Nachricht bekam, dass diese Bewohnerin es nicht überlebt hat. Es hat mir unendlich Leid getan, dass ich sie mit ihrer Angst gehen lassen musste und ich keine Möglichkeit mehr hatte, mich noch einmal von ihr zu verabschieden.“
Seit Anfang Mai kann sie mit einzelnen Bewohner*innen wieder Musik machen, was wieder Lachen in das gesamte Haus bringt.
Berichte für die Angehörigen – morgens und abends
Wie sie gehen viele Mitarbeiter*innen in Pflegeheimen an ihre Grenzen und darüber hinaus, um das Wohl ihrer Bewohner*innen zu gewährleisten. „Aktuell bin ich immer im Dienst“, berichtet Isabel Schweier, Heimleiterin des Hauses Schloßberg in Freiburg. Um den Mitarbeiter*innen eine Anlaufstelle für ihre Fragen und Sorgen zu bieten, ist sie auch am Wochenende rund um die Uhr erreichbar. Der Kontakt mit den An- und Zugehörigen hat sich vervielfacht. Viele rufen besorgt an, während der Erkrankung weniger Bewohner*innen sendete sie jeden Morgen und Abend Berichte über deren Gesundheitszustand. Auf ihre Arbeitsbelastung angesprochen, sagt sie: „Wenn ich es nur als Job machen würde, hätte ich längst kapituliert.“ Überbelastung gilt für Tätige im Gesundheitswesen schon lange als normal, doch seit dem Ausbruch der Pandemie hat sich die Lage noch verschärft.
Personalmangel und Ökonomisierungsdruck
Pfarrerin Ulrike Oehler versucht, Entlastungen zu schaffen. Aus Spendengeldern hat sie zu Beginn der Besuchseinschränkungen Tablets angeschafft, um Kontakt nach außen wenigstens über Videoanrufe zu ermöglichen. Sterbebegleitungen macht sie nach wie vor, nur jetzt mit Schutzbekleidung. Gottesdienste feiert sie im Innenhof und auf den Balkonen. Über die negative öffentliche Berichterstattung ärgert sie sich: „Dass Leute hier an Vereinsamung sterben, stimmt einfach nicht!“ Dennoch bringe die aktuelle Situation die Pflegeheime an die Grenzen ihrer Kapazitäten. Das kann nicht verwundern angesichts der Ansprüche von unterschiedlichen Seiten: Eine ganzheitliche Versorgung der Bewohner*innen soll mit umfassender Betreuung der An- und Zugehörigen sowie Schaffung guter Arbeitsbedingungen für die Mitarbeitenden Hand in Hand gehen, während die Häuser mit sich verschärfendem Personalmangel und zunehmendem Ökonomisierungsdruck konfrontiert sind.
Notwendige Wahrnehmung der Ressourcen
Nach einem Wunsch für den gesellschaftlichen Umgang mit der aktuellen Herausforderung gefragt, wünscht sie eine veränderte Wahrnehmung älterer Menschen: Weg von ihren möglichen Defiziten hin zu ihren vorhandenen Ressourcen. Denn die sogenannten Schwachen sind in vielerlei Hinsicht stark, so können sie Andere an ihrem reichen Erfahrungsschatz teilhaben lassen. Pflegeheime und gesellschaftliches Miteinander sollten nicht so stark voneinander abgegrenzt werden, vielmehr sollten pflegebedürftige Menschen auch als aktiv gestaltende Mitglieder unserer Gesellschaft wahrgenommen werden.
Die Frage nach ganzheitlicher Betreuung
Unter den Bedingungen der Corona-Pandemie wird jedoch die Gefahr verstärkt, dass Verantwortung auf die Pflegeheime ausgelagert wird: Im aktuellen Diskurs wird ihnen zunehmend die primäre Verantwortung nicht nur für die medizinisch-pflegerische, sondern auch für die soziale, seelische und spirituelle Umsorge der Menschen zugesprochen. Durch die COVID-19 bedingte Konzentration auf medizinisch-virologische Aspekte, wie etwa die Nachverfolgung der Infektionsketten, droht die Multidimensionalität des Wesens Mensch aus dem Blick zu geraten. Um die Kapazität des Gesundheitssystems nicht zu überlasten, ist die Priorisierung des Infektionsschutzes zweifellos unverzichtbar. Die persönliche Begleitung ist auch und gerade in dieser Krise integraler Bestandteil einer ganzheitlichen Sorge um die Menschen in der letzten Lebensphase.
Ein gesellschaftlicher Auftrag
Diese Begleitung darf nicht alleinige Aufgabe der Arbeitenden im Gesundheitswesen sein, sondern sollte vielmehr gesamtgesellschaftlich getragen werden. Christlich konturiert kann die Hinwendung zum Mitmenschen als Zeichen gelebter Nächstenliebe und im Sinne des darstellenden Handelns als ein Beitrag zum Aufbau des Gottesreiches begriffen werden. Das biblische Ethos, das im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe kulminiert, kann in dieser Situation als Solidarität mit den besonders Vulnerablen gedeutet werden. Solidarität ist nicht teilbar. Wir können nicht mit den pflegebedürftigen Menschen solidarisch sein, unsere Solidarität jedoch denjenigen verweigern, die sich hauptamtlich um deren Wohl kümmern. Die Forderungen nach der Anerkennung von Begleiter*innen und Seelsorger*innen als systemrelevante Gruppe und strukturellen Verbesserungen im Gesundheitssystem sind hinreichend diskutiert worden.
Individuelle Unterstützung darf Veränderung der Strukturen nicht ersetzen.
Es wurde bereits begonnen, nach kreativen Wegen in der Begleitung von Menschen in der letzten Lebensphase zu suchen, welche die notwendigen Sicherheitsbestimmungen respektieren. Im Sinn der ungeteilten Solidarität wäre es geboten, auch die Mitarbeitenden in Pflegeheimen persönlich zu begleiten und zu unterstützen. Caritas im Sinne der Nächstenliebe muss jedoch auf individueller und struktureller Ebene zusammengedacht werden. Individuelle Unterstützung ist gerade jetzt als Akutmaßnahme erforderlich, darf aber nicht die strukturellen Veränderungen ersetzen.
solidarische Netzwerke über die Krisenzeit hinaus
Dass die Gesellschaft immer mehr zu einer sorgenden Gemeinschaft wird, ist auch ein Anliegen der ambulanten Hospizgruppe Freiburg. Da persönliche Begleitungen aufgrund des Infektionsrisikos nur sehr eingeschränkt möglich sind, ist es Susanne Schmid, Koordinatorin der Hospizgruppe, insbesondere in dieser Zeit wichtig, kleine Zeichen der Solidarität an die Kooperationspartner*innen zu senden: Grußkarten für die Bewohner*innen, Blumensträuße für die Wohnbereiche, ein Eiswagen für ein stationäres Wohnhaus der Behindertenhilfe. Das Wachsen eines hospizlichen Blickes für die Bedürfnisse der Nächsten und solidarischer Netzwerke wünscht sie sich auch über die Krisenzeit hinaus.
Musik als seilsorgliche Begleitung
Das in diesen Zeiten dringend notwendige Engagement ist nur durch die vielen Helfenden möglich, die angesichts der Lage kreativ werden müssen. Einer davon ist der Sinziger Musiker Holger Queck. Er gibt Hof- und Fensterkonzerte für Menschen in Einrichtungen mit Besuchseinschränkungen. Holger Quecks Idee ist kreativ, liebenswert und verbreitet Freude: Die Menschen dort können durch sie ihr aktuelles Leid zumindest für eine gewisse Zeit vergessen. Oft wird ein Lächeln auf ihre Gesichter gezaubert und sie werden trotz ihrer Einschränkungen aktiv, indem sie beispielsweise mitsingen. Eine ältere, ihm besonders sympathische blinde Dame wünschte sich zu ihrem Geburtstag Nenas Lied „Liebe ist“. Da jedoch die Zeit, es einzustudieren, zu knapp war, spielte der Musiker stattdessen andere Lieder und gab ihr das Versprechen, das Lied bei nächster Gelegenheit darzubieten. Bevor dieses jedoch eingelöst werden konnte, verstarb die Dame. So wurde das Lied auf ihrer Beerdigung gespielt.
Leben als Verbundenheit
Für ihn war es kein schreckliches Erlebnis, sondern eines, das ihn erneut sensibilisiert hat: Angesichts der begrenzten irdischen Zeit ist der Augenblick einmalig und nicht wiederholbar. Leben will als göttliches Geschenk in allen Lebensphasen bejaht und intensiv gelebt werden. Dieses Leben bedeutet für den Menschen als Gemeinschaftswesen auch immer Verbundenheit mit anderen. Darin ist Unterstützung durch Begleitung notwendig, es ergibt sich die Aufforderung, Leben in allen Dimensionen bis zuletzt zu ermöglichen. Dies betrifft Menschen nicht nur in der letzten, sondern in allen Phasen ihres Lebens: Lebt miteinander – jetzt und bis zuletzt!
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Dieser Text ist entstanden im Rahmen des Projektes „Corona-Perspektiven“ der Jungen AGENDA, einem Zusammenschluss junger katholischer Theologinnen. Die jeweiligen Autor*innen beleuchten ihre Perspektiven auf die aktuelle Situation im Hinblick auf verschiedene, weniger sichtbare gesellschaftliche Gruppen.
Autorinnen:
Dr. Maike Maria Domsel, Lehrerin am Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium in Bonn, Dozentin an der Universität Duisburg-Essen
(Domsel, Maike M., Leben bis zuletzt – Eine freiheitstheoretische Fundierung christlicher Sterbebegleitung, Stuttgart 2019, Kohlhammer Verlag)
Franziska Schmid studiert Katholische Theologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und ist ehrenamtliche Hospizbegleiterin in der ambulanten Hospizgruppe Freiburg
Foto: Tiago Muraro / unsplash.com