In Rotterdam wurde vor dreissig Jahren das „Exposure Training“ entwickelt. Diese Methode ermöglicht die theologische Wahrnehmung eines Sozialraums und die Gestaltung der Quartierpastoral. Sie vermittelt gleichzeitig eine Grundhaltung der Leere und Empfänglichkeit, die für aktuelle Lern- und Innovationsprozesse der Kirchen relevant ist. Von Thomas Schaufelberger.
Die Anweisung, die ich während meines Exposure Trainings in Rotterdam erhielt, war simpel: Erkunde die Stadt! Begleitet durch tägliche Coaching-Gespräche wurde ich also zum Stadtspaziergänger, der sein vorurteilsloses Wahrnehmen der Stadt üben musste. Ich war ein Flaneur, der – wie es Walter Benjamin beschrieb – zwischen den Zeilen der Stadt Geschichten herauslesen konnte, die ich vorher kaum wahrgenommen hätte. In den ersten Tagen war die Aufgabe eine Irritation. Obwohl ich in einem bestimmten Quartier nach einer einstündigen Begehung schon alles gesehen zu haben glaubte, wurde ich erneut für Stunden in dasselbe Quartier geschickt.
Ich sollte mich mit leeren Händen aufmachen und mich von der Stadt empfangen lassen, oder auch empfänglich sein für die Stadt. Abgesehen von ein paar Pausen in Cafés zum Ausruhen, habe ich das umgesetzt. Und so bin ich fünf Tage lang durch Rotterdam gereist – zu Fuss, mit dem Tram, mit dem Bus, mit der Metro, mit dem Schiff und mit dem Fahrrad, und habe mich inspirieren und irritieren lassen. Beständiges Thema des Coachings: Ich muss warten – die schnell einsetzenden Urteile noch einen Moment aufheben. Weder zu schnell davon ausgehen, dass Kirche oder Religion im urbanen Raum keinen Platz haben und weitgehend verschwunden sind, noch zu schnell Gott in alles hinein lesen. Das unterscheidet das Exposure Training zum Beispiel von den Strassenexerzitien, die in manchen Städten angeboten werden.
Die Fragen der Stadt bloss legen
„Exposure“ heisst wörtlich „sich aussetzen“. Aber es hat weitere Bedeutungen: So kann es auch das Belichten bei einer Fotografie bedeuten. Oder ein archäologisches Freisetzen von kaum Wahrnehmbarem. In der Industrie bedeutet es das Aufschliessen einer Mine. Und schliesslich hat der Begriff auch die Konnotation von Risiko – ein Blosslegen, ein Enttarnen oder eine offene Position einnehmen. Die Exposure-Methode wurde vor dreissig Jahren entdeckt.
Kompetenz des Nicht-Wissens
Im Quartier des heutigen Zentrums lag eine Quartierkirche, die durch die demographischen Veränderungen keine Mitglieder mehr hatte. Sie hörte auf zu existieren. Die drei verbliebenen Pfarrpersonen – jetzt ohne zu betreuende Gemeindeglieder – mussten ihre Arbeit komplett neu definieren. Sie verlegten ihren Arbeitsplatz auf die Strassen des Quartiers und begannen zu entdecken, dass sie nicht Schenkende sondern Empfangende sind. Mission ist gegenseitiges Lernen. Mit leeren Händen unterwegs zu sein und eine Kompetenz des Nicht-Wissens zu erlangen, führt zu überraschenden Resultaten. Das Warten wird zur theologisch bedeutsamen Kategorie. Die Leere erhält ihre Würde.
Und in dieser wartenden Haltung der Empfänglichkeit tauchen zahllose Fragen auf: Welche Bedeutung hat etwa die Oberfläche von Dingen? Ist sie nur Schein von etwas, das darunter liegt, oder ist die Oberflächenstruktur das Eigentliche? Was sehe ich, wenn ich in der Stadt unterwegs bin? Nur ein oberflächliches Geschehen oder nehme ich Fragen, Nöte, Grundmuster wahr, die tiefer gehen? Wie gestalten Bewohnerinnen und Bewohner ihre Quartiere? Wie eignen sie sich ihren Lebensraum an? Gibt es in der Aneignung und Gestaltung von Lebensraum kollektive Subjekte und wer beginnt damit? So führt das Beobachten der Quartiere und das Hören auf die Stadt plötzlich zur Frage, wie Menschen ihr Leben gestalten. Und zur Frage, wie ich – oder auch eine Kirche – sie dabei unterstützen kann. Das vorurteilslose Warten, die Leere, das Zuhören ist zum aktiven Begriff gereift. Die Methode ist zu einer Haltung geworden.
Leere beflügelt die Kirchenentwicklung
Die Grundhaltung der Leere lässt sich auch theologisch fassen. Abraham folgt einem Ruf Gottes und bricht auf – ohne zu wissen, wo und wie das verheissende Land sein wird. Die drei Magier suchen den neugeborenen König zunächst dort, wo er nach ihrer Erfahrung und ihrer gelernten Expertise sein müsste, in einem Palast. Ihre Bereitschaft, ihr Nicht-Wissen zuzulassen und die Leere auszuhalten führte sie schliesslich an den Ort vor der Krippe, an dem sie Empfangende wurden.
In den aktuellen Reformprozessen der Kirchen wird oft mit eigenen Erfahrungen und in Bezug zu eigenem Wissen argumentiert. Meist wird so begründet, weshalb ein Aufbrechen sinnlos sei oder sicher keine Verbesserung der Situation bewirke. Die streng territoriale, kleinräumige Struktur der Kirchgemeinden in einen regionalen Raum zu erweitern, funktioniere nicht – das „wissen“ viele aufgrund ihrer eigenen Erfahrung. Die Exposure-Methode lehrt hingegen, der Leere zu trauen. Es kann sein, dass die Erfahrungen sich als richtig erweisen und die Urteile, die sich daraus ableiten, korrekt sind. Aber es kann auch sein, dass sie falsch sind.
Empathie und gemeinsame Reflexion
Ausschliesslich aus eigenen Erfahrungen zu lernen, ist für komplexe Fragestellungen kein Vorteil. Die Zukunftsfrage der Kirche ist eine komplexe Frage, auf die es nur Antworten gibt, wenn die Kirche von der Zukunft lernt. Und das kann sie, wenn sie die Leere zulässt. Es geht dabei um einen inneren Ort, aus dem heraus die Akteure handeln. Es geht also nicht in erster Linie um konkrete Handlungen und Prozesse, sondern um die Qualität, die Struktur und die Steuerung der Aufmerksamkeit. Kurz: es geht um Bewusstsein, worauf die Aufmerksamkeit in der sozialen Interaktion gelegt wird. Otto Scharmer hat mit seiner Theory U ein Denkmodell entwickelt, das diese Bewegung als U-förmigen Prozess der Vertiefung, des In-die-Tiefe-Gehens beschreibt. Das Zuhören wird im Verlauf der Reformdiskussion wichtiger Bestandteil der Arbeit. Im Kern geht es um ein Hinspüren und Umdeuten. Durch Empathie und gemeinsame Reflexion entsteht die Kapazität, sich in andere hinein zu versetzen und die Welt aus deren Augen zu betrachten. So wird das Künftige nicht allein aus den eigenen Erfahrungen heraus extrapoliert und keine Ideen herbei gezwungen. Sondern es wird ein Raum geschaffen, in dem das gemeinsame Hören auf den Heiligen Geist geschehen kann. In einer Haltung der Empfänglichkeit entsteht ein Lernprozess von der Zukunft her.
Vielleicht sieht die Quartierpastoral dann ganz anders aus, als sie sich die kirchlichen Profis vorstellen. Vielleicht entstehen in regionalen Kirchenräumen plötzlich vielfältige Landschaften von unterschiedlichen kirchlichen Orten und Formen. Ein Netzwerk von kirchlichen Gemeinschaften unter demselben Dach. Ich würde mir wünschen, dass in den Reformdiskussionen auf allen Ebenen mehr Leere Einzug hält. Es ist klar: Die Leere löst Gewissheiten auf. Sie ist schwierig auszuhalten. Sie kann verletzlich machen. Aber im gemeinsamen Hören auf Menschen und auf den Heiligen Geist liegt auch eine anregende Dynamik. Menschen lernen miteinander, was die Kirche von der Zukunft her künftig sein wird. Die gemeinsam gelebte Haltung der Exposure-Methode könnte so eine Art Hebammenfunktion übernehmen für neue Ideen, welche die Welt verändern – und die Kirche. Ein Raum zum Ausbrüten neuer, ko-kreativer Ideen für die Kirche und die Welt. Ganz unbekannt dürfte dieser Vorgang nicht sein: Mit Geburten an unscheinbaren Orten und an den Rändern hat die Kirche jedenfalls eine gewisse Tradition.
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Thomas Schaufelberger, Pfarrer, Leiter Abteilung Kirchenentwicklung der Evang.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich und Leiter der Arbeitsstelle für die Aus- und Weiterbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer in der Deutschschweiz
Die Bilder aus Rotterdam stammen vom Autor.