„Not lehrt beten.“ Welches Kirchenbild hinter dieser Aussage steckt und was wirklich angesagt ist im Blick auf die Zukunft der Kirche – dazu die Gedanken von Philip Theuermann.
Ein verlängertes Wochenende – das war die nüchterne Antwort eines katholischen Arztes auf die Frage, wie er das diesjährige Osterfest erlebt hat. Dank der gesetzlich freien Tage konnte er auf ein verlängertes Wochenende zurückblicken.
Für jemanden, der in einem systemrelevanten Beruf tätig ist, war Ostern immerhin eine willkommene Unterbrechung des kräftezehrenden Alltags. Dennoch muss gerade aus theologischer wie kirchlicher Perspektive die Frage erlaubt sein, ob Ostern – das größte Fest des Kirchenjahres – nicht mehr zu bieten hat als ein paar arbeitsfreie Tage?
Hat Ostern nicht mehr zu bieten als ein paar arbeitsfreie Tage?
Dass Ostern den Beginn einer Zeitenwende darstellt, versuchten angesichts der Kontaktbeschränkungen zahlreiche digitale Alternativen hervorzuheben. Manche dieser Angebote dürfen als gelungen betrachtet werden, andere hingegen als eher „peinlich“.[1] Damit kein falscher Eindruck entsteht: Solche Angebote hat es gebraucht. Es war schmerzhaft genug, auf die Feierlichkeiten an den Kar- und Ostertagen verzichten zu müssen. Durch die digitalen Alternativen wehte immerhin ein österlicher Hauch in so manches Wohnzimmer. Auch für mich war es erfreulich, Stimmen vernehmen zu dürfen, wie sehr ihnen die gottesdienstliche Gemeinschaft und das kirchliche Leben fehlen. Allerdings stammen diese aus dem internen Kirchenmilieu.
Für unsere Zeitgenossen lief Ostern so ab wie sonst auch: als ein verlängertes Wochenende. Gottesdienste gehörten für sie ohnehin nicht zum Osterprogramm. Dieser Aspekt ist weder neu noch überraschend. Dafür sind die Entwicklungen der letzten Jahre mitsamt ihren Prognosen zu eindeutig.[2] Sie wurden uns jedoch in eindringlicher Weise vor Augen geführt.
Das Kapitel der katholischen Kirche als ‚Volkskirche‘ schliessen und ein neues beginnen.
Mit Tomáš Halík ist daher zu fragen, ob die leeren und geschlossenen Kirchen nicht als ein „warnender Blick […] in eine verhältnismäßig nahe Zukunft“[3] zu verstehen sind. Ohne jedweden Hang zur Theatralik konstatiert Halík: „So könnte das in ein paar Jahren in einem Großteil unserer Welt aussehen.“[4] Infolgedessen plädiert er dafür, das Kapitel der katholischen Kirche als ‚Volkskirche‘, die den größten Teil der jeweiligen Bevölkerung umfasste, zu schließen und ein neues zu beginnen. Mit diesem werde eine andere Gestalt des Christentums einhergehen.
Ganz auf der Linie des Zweiten Vatikanischen Konzils schlägt nun die Stunde der ecclesia semper purificanda (vgl. LG 8; UR 6-8): Um ihre Botschaft von einem mitgehenden und erlösenden Gott glaubhaft zu vermitteln, muss sie selbst immer wieder den Weg der Erneuerung und Reform beschreiten, ohne dabei die wesentlichen Grundlagen ihres Kircheseins aufzugeben. Kurzum: Ihr Glaube bedarf einer zeitgemäßen Ausdrucksweise.
Den Weg der Erneuerung und Reform beschreiten.
So notwendig es ist, diesen Weg in aller Konsequenz einzuschlagen, so sehr scheint sich die Kirche im Ganzen dagegen (noch) zu sträuben – weniger aus Überzeugung, vielmehr aus Mangel an konkreten Perspektiven. Trotzdem beobachtet Gisbert Greshake die maßgeblichen kirchlichen Instanzen äußerst kritisch, wenn er ihnen attestiert, „seit Jahrzehnten nur noch [zu] reagieren, und auch das ausschließlich dann, wenn es gar nicht anders geht. Ansonsten herrscht […] meist das Prinzip: ‚Retten, was zu retten ist; Halten, was zu halten ist!‘“[5] Diese Herangehensweise dürfte sich mit Blick auf die steigende Zahl der Kirchenaustritte und die sinkende Anzahl aktiver Christen sowieso bald erübrigt haben.
Doch selbst bei vielen aus dem engagierten Segment ist diese Mentalität verbreitet. Anstatt sich – wie es Halík präferiert – von den leeren Kirchen positiv provozieren zu lassen und sich neu zu evangelisieren, erfährt ein altes, sehr resistentes Narrativ Hochkonjunktur: Not lehrt beten.
Ein altes Narrativ erfährt Hochkonjunktur: Not lehrt beten.
Dahinter verbirgt sich die Überzeugung, dass sich Menschen besonders in Zeiten großer Not auf Gott als Mitte und Ziel (zurück-)besinnen. In dieser Überzeugung steckt ein Funken Wahrheit: Wir Menschen nehmen viele Errungenschaften als selbstverständlich hin. Vor allem in unserer westeuropäischen Welt sind wir oft der Ansicht, auf bestimmte Dinge ein Patent zu besitzen. In Zeiten, in denen diese Errungenschaften auf dem Spiel stehen, wird uns bewusst, wie zerbrechlich sie letztendlich sind.
Dennoch ist zu bezweifeln, ob Notsituationen neu für Gott sensibilisieren. Es mag zutreffen, dass sich einzelne auf die Suche begeben und in Jesus Christus eine Kraftquelle für ihr Leben entdecken. Die von vielen Christgläubigen erhoffte Wende ist dies allerdings nicht – aus zweifacher Hinsicht.
Zum einen: Beten können nur diejenigen, die es gelernt haben. Es bedarf einer gewissen Vorerfahrung. Für diejenigen, für die Gott vor der Krise schon eine nichtssagende Vokabel war, für die bleibt er es auch in der Krise. Die individuelle Beziehung zu Gott muss wachsen – kontinuierlich, mit Rückschlägen verbunden. Sie ist wechselhaft und lässt sich nicht einfach anordnen.
Beten können nur diejenigen, die es gelernt haben.
Zum anderen: Die Corona-Krise ist nicht die erste Krise – gesellschaftlich wie persönlich. Unser gesamtes Leben gleicht oft einem Stresstest – theologisch formuliert: Kontingenzerfahrungen sind ein fester Bestandteil unserer Biographie. Um sie zu bestehen, bedienen wir uns verschiedenster Mittel. Für die einen sind Religionsanaloga wie Musik oder Sport hilfreiche Optionen; für die anderen der christliche Glaube. Wenn man so will sind alle Menschen mehr oder weniger krisenerprobt und finden zumeist andere Lösungswege als religiöse. Sie benötigen keinen transzendenten Gott.[6] Im Gegenteil: Der christliche Glaube hat „ausgedient als Zulieferer von Erklärungen über die Herkunft der Welt und ihrer Ordnung […] sowie […] als Antwort auf und Beruhigung für menschliche Kontingenzerfahrungen.“[7]
Nebenbei bemerkt: Damit scheitert auch der Versuch, Krisen als Strafen Gottes zu deklarieren – in der (billigen) Hoffnung, Menschen zu Gott zu führen. Unabhängig davon, dass diese Auslegung dem biblischen Gott widerspricht, der sich für uns töten ließ, denkt sie ihn zu menschlich.
Alle Menschen sind mehr oder weniger krisenerprobt und finden zumeist andere Lösungswege als religiöse.
Trotz dieser Einwände hält sich das Narrativ beharrlich. Warum? Fürchten wir uns davor, uns selbst zu hinterfragen, uns zu korrigieren und nach neuen Formen des Glaubens zu suchen?
Not lehrt beten – eine entlarvende Haltung. Sie will lediglich die anderen umkehren lassen, anstatt sich selbst dem gegenwärtigen Kairos zu stellen und ihm konstruktiv zu begegnen. Eine solche Einstellung wird nicht nur nicht dem Evangelium gerecht, sie marginalisiert die Kirche auch in einer Welt, in der der Glaube und seine Handlungsmuster zunehmend irrelevant werden. Kein Bischof oder Theologe befindet sich etwa in einer der täglichen Corona-Talkshows.
ganz von vorn anfangen
Die ersten Christen und Christinnen wurden als Anhänger eines neuen Weges bezeichnet (vgl. Apg 9, 2) – eine wunderbare, zeitlos gültige, unserem gegenwärtigen Verhalten jedoch diametral gegenüberstehende Metapher! Auch wenn die Zukunft vernebelt ist, wäre es sinnvoll, in diesen Nebel hinein einen beherzten Schritt zu machen. Doch dafür muss das alte Narrativ endgültig in der Mottenkiste verschwinden. Es darf nicht mehr als Ausrede herhalten, um nicht selbst Neuland erkunden zu müssen.
Ein Wort Joseph Ratzingers liest sich in diesem Zusammenhang nahezu prophetisch: Die Kirche wird „ganz von vorn anfangen müssen.“[8] Es wäre vermessen, diesen Satz so zu interpretieren, als müsse die Kirche neu erfunden werden. Sie ist eine uns vorgegebene Größe. Womöglich werden wir uns der frühen Kirche wieder annähern: eine kreative Minderheit, die nicht gesättigt und träge agiert, sondern – von Ballast befreit – erfrischt und überzeugt.
als pilgerndes Gottesvolk insgesamt
Zuvor braucht es allerdings die Einsicht, als pilgerndes Gottesvolk insgesamt neu zum Kern des Evangeliums aufzubrechen. Um diesen freizulegen, müssen nicht „die anderen“ umkehren, sondern „wir“. Sollte uns das nicht gelingen, sind die momentan leeren Kirchen mehr als ein virusbedingter Umstand, sondern ein warnender Einblick in die nahe Zukunft.
Philip Theuermann, Kaplan in der Katholischen Kirchengemeinde St. Josef, Mühlhausen
Beitragsbild: Anna Shvets / pexels
[1] Erik Flügge, Im Netz verhakelt. Pastoralteams als WhatsApp-Gruppe – das geht besser, in: Zeit online, 03. April 2020.
[2] Vgl. Reinhard Bingener, Halbierung bis 2060. Studie sieht dramatischen Mitgliederverlust in beiden Kirchen, in: FAZ.net, 02. Mai 2019.
[3] Tomáš Halík, Christentum in Zeiten der Krankheit, in: MFThK, 02. April 2020.
[4] Ebd., 02. April 2020.
[5] Gisbert Greshake, Kirche wohin? Ein real-utopischer Blick in die Zukunft, Freiburg 2020, 10.
[6] Vgl. dazu ausführlich: Jan Loffeld, Der nicht notwendige Gott. Die Erlösungsdimension als Krise und Kairos des Christentums inmitten seines säkularen Relevanzverlustes, Würzburg 2020.
[7] Gisbert Greshake, Kirche wohin?, 61.
[8] Joseph Ratzinger, Glaube und Zukunft, München 1970, 123.