Christoph Gellner stellt die inspirierenden Suchbewegungen des Schriftstellers, Lyrikers und Theologen Christian Lehnert vor: „Der Gott in einer Nuss“.
Eine der Schnittstellen von Literatur und Theologie, Dichtung und Spiritualität ist das Gebet. Gedichte und Gebete sind zwar nicht einfach gleichzusetzen, wie dies Dorothee Sölle provozierend zuspitzte („das Christentum setzt voraus, dass alle Menschen Dichter sind, nämlich beten können“[1]). Doch stellen beide eine Alternative dar zur eindimensionalen Informationssprache wie zur abstrakten Wissenschaftsrationalität. Als Theologin und Schriftstellerin betonte Dorothee Sölle, „dass die Theologie eher eine Kunst ist als eine Wissenschaft und eher sich selbst als einen solchen Versuch verstehen muss, die Grenzen der Sprache des Alltags zu überwinden in Richtung auf Kunst hin und nicht in Richtung auf Abstraktion, Rationalität und Wissenschaft hin.“[2]
abseits von zweckorientiertem Denken
„Teilchen. Cherubinische Spuren. Eine Erkundung poetischer und religiöser Bildsprache“, so war im November 2016 Christian Lehnerts Wiener Poetikdozentur Literatur und Religion überschrieben. Im Suhrkamp Verlag veröffentlicht er seit 1997 regemässig Lyrikbände, aber auch einen viel beachteten Essay über Paulus: „Korinthische Brocken“ (2013). In der Jury-Begründung zum Hölty-Preis 2012 heißt es von seiner Lyrik: „Christian Lehnert ist ein besonderer Solitär unter den zeitgenössischen deutschsprachigen Dichtern, denn seine Gedichte strahlen selten gewordene Würde und Schönheit aus. Beharrlich erkundet Christian Lehnert, worin der Ursprung des Seins liegt […] Er wagt abseits von jeglichem zweckorientierten Denken den Gang hinab in eine ursprüngliche ‚Leere ohne Namen‘ […]“.
Es will mir nicht gelingen, das alles sprachlich einzuzirkeln
Lehnerts neuestes Buch „Der Gott in einer Nuss. Fliegende Blätter von Kult und Gebet“ ist Meditation, Poesie und Reflexion in einem. Besonders beeindruckt die Doppelgesichtigkeit, mit der Lehnert sowohl das Unbehagen an der ‚ausgeglaubten‘ religiösen Sprache zum Ausdruck bringt als auch um Worte ringt für die besondere Resonanzerfahrung von Gottesdienst und Liturgie:
„Wann immer ich einen Gottesdienst besuche, empfinde ich nach wenigen Minuten eine sonderbare innere Gespaltenheit: Enttäuschung mischt sich mit einer Beseelung, die einem Heimweh gleicht. Ich singe die alten Lieder, die mich teils tief berühren, teils museal befremden, ich bete mit den vorgesprochenen Worten, die mich fortnehmen in ihren Fluss oder mich kopfschüttelnd allein lassen mit ihren stilistischen Missgriffen, hohlem Pathos […] Die Gebete höre ich vollgepackt mit abgegriffenen Metaphern und jener unsäglichen Leier von ‚Lass uns …‘, ‚Gib uns … ‚, ‚Guter Gott …‘, die kaum noch erträglich ist […] Aber das ist nur die eine Seite. Gleichzeitig (und sie ist eben besonders merkwürdig, die Gleichzeitigkeit) bin ich hineingenommen in einen Raum, der mich selbst weit überragt. Ich habe das Gefühl, zu flirren in einem grellen Licht oder zu brummen in einer tiefen Resonanz, deren Grund mir nicht erkennbar ist, oder zu vibrieren in einem schweren Rhythmus oder zu tagträumen, leichthin zu schweben … Unabhängig von allem, was ich wahrnehme, oder besser: durch alles hindurch, was ich wahrnehme, ist eine andere Aktivität am Werk. Ein Agens, das ich nicht identifizieren kann, erfasst mich […] Es verändert sich die Art meiner Anwesenheit. Sie wird fester und zugleich durchlässiger.“[3] Und weiter: „damit ich letztlich nicht nur ängstlich schweigen kann, brauche ich den Schutz von Formeln […], von alten Bildern, welche der Sprache ein kultisches Gewand anlegen, sie heiligen und schützen […] Wer von einem Gottesdienst ‚Verständlichkeit‘ fordert, begibt sich gefährlich an den Rand der Idolatrie.“[4]
jene unsägliche Leier von ‚Lass uns …‘,
‚Gib uns … ‚, ‚Guter Gott …‘, die kaum noch erträglich ist
Mit den titelgebenden „Fliegenden Blättern“ spielt Lehnert auf Hiob 13,25 an. In neun Grosskapiteln sind 82 Textabschnitte lose dem Ablauf einer Messe bzw. eines lutherischen Abendmahlgottesdienstes vom Kyrie bis zum Agnus Dei zugeordnet. Neben Biblischem, Theologischem und Philosophischem sind immer wieder Begegnungen und Geschichten aus Christian Lehnerts Zeit als Landpfarrer in Müglitztal unweit von Dresden eingewoben.
Hunger nach einer wahrhaftigen Sprache
Lange spielten Kirche und Glaube für den 1969 Geborenen im familiären Alltag der DDR überhaupt keine Rolle. Doch je älter er wurde, desto mehr fühlte er einen Hunger nach einer wahrhaftigen Sprache, die nicht opportunistisch mit zwei Zungen redete. „Ich bin eigentlich über die Sprache zum Glauben gekommen“[5], berichtete er Ilka Scheidgen über die Entdeckung biblisch-religiöser Sprache, in der plötzlich Worte eine ganz andere Bedeutung hatten.
über die Sprache zum Glauben kommen
Dies geschah durch den Kontakt zum Pfarrer der evangelisch-lutherischen St. Petri-Gemeinde in Dresden. Mit 16 liess sich Lehnert dann konfirmieren. Statt wie die Eltern Medizin zu studieren, was er mit einer Offizierslaufbahn bei der Nationalen Volksarmee verbinden wollte, verweigerte er nach bestandenem Abitur 1987 den Wehrdienst. Nach einer Zeit als Bausoldat begann er ein Studium der evangelischen Theologie, Religionswissenschaft und Orientalistik in Leipzig. Nach der Wende ging er für ein Jahr nach Jerusalem, wo er neben Theologie Arabistik studierte. Seit 2012 ist er Geschäftsführer des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD an der Universität Leipzig.
Ehrfurcht vor dem ‚Unbrauchbaren‘
„Der Verlust der Stellung des christlichen Gottesdiensts als öffentlichen gesellschaftlichen Kults […] befreit ihn zu seinem Wesen. Aufatmen: Vorbei sind die Inanspruchnahmen, die Krönungsrituale und Waffensegnungen! Der christliche Kult muss heute nichts mehr beweisen. Er muss niemanden bestätigen. Er muss nichts legitimieren. Sein absurdes Tun, ein Spiel, ist heute sinn- und zwecklos. Einfach so: eine Vergeudung von Ressourcen, von Kreativität und Zeit. Er hat keine Funktion mehr, entzieht sich diesem üblen Wort, hat keine Aufgabe und ist zu nichts nutze. Taugenichtstun: das Gebet.“[6]
Taugenichtstun: das Gebet.
Hier sind wir im spirituellen Zentrum von Lehnerts sprachlich dichten Miniaturen, die Religion als Ehrfurcht vor dem ‚Unbrauchbaren‘ auf eine Dimension des Unverzweckbaren hin öffnen und neu erschliessen. Wie die Kunst ist Religion gerade darum ‚mehr‘ als notwendig. Schon Dorothee Sölle strich heraus, dass Poesie und Religion Geschwister sind in einer Welt nützlichkeitsorientierter Zweckrationalität, in der alles zum brauchbaren Objekt wird. Stehen sie doch gemeinsam für eine Wirklichkeitsdimension, die über alles Mach- und Handhabbare hinausweist, weiter und von anderer Art ist als alles sonstige Lebensnotwendige[7].
Im Hallraum der Mystik und der negativen Theologie
Konsequent bemüht sich Lehnert um die Unterbrechung eines zugriffigen Redens von Gott, das Gott zur Personifikation menschlicher bzw. kirchlicher Wünsche und Zwecke macht:
„Du musst deinen Glauben leer halten, frei von festgefügten Bildern, Begriffen, von deutenden Umschreibungen. Unbrauchbar, zu nichts zu verwenden. Er muss leer sein, nur so bleibt alles offen, nur so kann der Gott einströmen. Diese Leere verlangt alle Intensität des Betens und Denkens, der Geistesgegenwart, alle Wachsamkeit, alles Verantwortungsgefühl. Sie ist die letzte Verankerung für deinen Glauben.“[8]
den Glauben leer halten
Provozierend paradox stellte der schlesische Mystiker Angelus Silesius die routinierte Selbstverständlichkeit unseres sprachlichen Handhabens Gottes in Frage. Lehnert führt ihn als beunruhigenden „Nachhall der erfahrenen göttlichen Fremde“, der „verstörenden Transzendenz“[9] an:
Gott ist ein lauter Nichts, ihn rührt kein Nun noch Hier:
Je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir.
„Ein Gedicht ist immer ein Raum, der sich nicht abschliessen lässt, der auf etwas Offenes weist ganz so wie der Glaube, der auf etwas hinweist, was meinen Horizont übersteigt. Nur wenn man ihn auf eine Aussage festlegt, wenn man meint, er sei eine Weltanschauung, eine Theorie von der Welt“, so Lehnert im Gespräch, „dann entstehen die Missverständnisse“[10].
Gott entzieht sich jeder Habhaftwerdung in der Sprache
Im Zeichen negativ-apophatischer Theologie schärft sein zeitgemässes geistliches Tagebuch ein, dass sich Gott trotz seiner Selbsterklärung in Ex 3,14 der Begreifbarkeit ebenso wie jeder Verfügung entzieht: „Niemand. Keiner, dem ein Name oder eine Biografie oder eine geschichtliche Herkunft zugedacht werden könnten … Er – oder gar es – entziehen sich jeder Habhaftwerdung in der Sprache […] Der Name bleibt den Israeliten eine Leerstelle: vorhanden, aber nur durch Schweigen zu füllen […] Als Name untauglich, weil unabgegrenzt und je unvorhersehbar im Ereignis, spricht sich Gott darin doch aus, stellt sich vor – als Negation aller Vorstellungen, und doch vor alles andere gestellt … Und ob der ‚Gottes‘-dienst ihn hereinholt? Ob es IHN darin geben wird?“[11]
Ob der ‚Gottes‘-dienst ihn hereinholt?
Lehnerts sieben preisgekrönte Gedichtbände finden dafür eine ganz eigene Form mystischer Poesie. Prägnant belegen dies die beiden in „Gott in einer Nuss“ zitierten Verse aus dem Band „Windzüge“[12]:
Der Gott, den es nicht gibt, in mir ein dunkler Riss,
ist meiner Seele nah, sooft ich ihn vermiss.
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[1]Dorothee Sölle im Gespräch. Hrsg. v. Theo Christiansen u. Johannes Thiele, Stuttgart 1988, 94.
[2]Ebd., 93.
[3]Christian Lehnert: Der Gott in einer Nuss. Fliegende Blätter von Kult und Gebet, Berlin 2017, 15-17.19.
[4]Ebd., 41 u. 136.
[5]Ilka Scheidgen: Vorweggenommen in ein Haus aus Licht. Autorenporträts, Norderstedt 2016, 53.
[6]Lehnert: Gott in einer Nuss, 90.
[7]Vgl. Dorothee Sölle: Das Eis der Seele spalten. Theologie und Literatur in sprachloser Zeit, Mainz 1996, 75-85; Gerhard Glaser/Wolfgang Wieland: Grundkurs Glauben. Die Gottesfrage heute, Stuttgart 2002, 9-70.
[8]Lehnert: Gott in einer Nuss, 118.
[9]Ebd., 188f. (Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, wird zitiert nach der Ausgabe Sämtlicher poetische Werke, hrsg. v. Hans Ludwig Held, Bd.3, München 1949, 10).
[10]Scheidgen: Autorenporträts, 57.
[11]Lehnert: Gott in einer Nuss, 10-13.
[12]Christian Lehnert: Windzüge. Gedichte, Berlin 2010, 49.
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Dr. theol. Christoph Gellner ist Leiter des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts TBI in Zürich und freier Mitarbeiter des Ökumenischen Instituts der Universität Luzern.