Gunter Prüller-Jagenteufel (Wien) fragt: Lehrt Not beten? Er kritisiert Weihbischof Eleganti – und betont die Eigenverantwortung der Glaubenden.
„Not lehrt beten!“ Dieses Sprichwort ist mir in den letzten Wochen öfter begegnet; und manche*r fromme Christ*in möchte darin die Chance erkennen, dass Menschen zur Kirche „zurückfinden“. Allerdings ist auch das Gegenteil wahr: Not lehrt nicht nur beten, sondern auch fluchen. Vielleicht sollte man es also doch besser mit Theodor Fontane halten, der nüchtern feststellt: „Die Not lehrt beten, sagt das Sprichwort, aber sie lehrt auch denken, und wer immer satt ist, der betet nicht viel und denkt nicht viel.“[1]
Ein interessantes Spektrum religiöser Positionen mit den entsprechenden theologischen (Un-)Tiefen
Letzteres stimmt wohl: In einer satten Gesellschaft wird relativ wenig gebetet und relativ wenig gedacht. Ersteres wage ich jedoch zu bezweifeln: Ob in Krisenzeiten tatsächlich mehr oder besser gebetet und gedacht wird? Oder ist es so, dass die einen beten, ohne zu denken, und die anderen denken, ohne zu beten? Angesichts der lebhaften Auseinandersetzung um die Absage von Gottesdiensten aufgrund der Covid-19-Pandemie habe ich oft den letzteren Eindruck. Hier zeigt sich ein interessantes Spektrum religiöser Positionen mit den entsprechenden theologischen (Un-)Tiefen.
Glaube und Aberglaube
Ein eklatantes Beispiel bot der Churer Weihbischof Marian Eleganti in einem Video-Blog, den die Websites des rechtskatholischen Spektrums verbreiteten.[2] Eleganti wirft den Kirchen, die zur Zeit auf öffentliche Gottesdienste verzichten, implizit mangelnden Glauben vor. So wie durch das vom Priester gesegnete Weihwasser keine Krankheit übertragen werde, so sollten wahrhaft Glaubenden überzeugt sein, dass ihnen durch das Sakrament kein Schaden geschehe:
„Und jetzt stehe ich als gläubiger Mensch, als Bischof, vor dem Sakrament der heiligen Eucharistie, vor dem Leib Christi, und ich glaube an diese übernatürliche Kraft der Gegenwart Gottes in der heiligen Hostie, die der Leib Christi ist. Wie kann ich mir jetzt vom Kommunionempfang Unheil, Kontamination und Ansteckung erwarten? Also ich kann das einfach für mich persönlich in meinem Herzen nicht nachvollziehen. […] Ja, eigentlich, ich erwarte Wunder. Ich rechne mit der Kraft und dem Schutz Gottes.“ (6:38-7:45)
Hier vertritt ein Bischof im Bewusstsein der eigenen Rechtgläubigkeit einen theologischen Unsinn.
Hier vertritt ein Bischof im Bewusstsein der eigenen Rechtgläubigkeit einen theologischen Unsinn, dass jede*r auch nur einigermaßen theologisch Versierten der Atem stockt. An diesem Satz ist so viel falsch, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Michael Maier im Tagesanzeiger nennt es einen „Kinderglaube[n]“[3], bar jeder Rationalität, an einen Gott, der nach Belieben Naturgesetze ein- und aussetzt. Das ist wohl ein fundamentaler Kritikpunkt, den Eleganti allerdings ganz bewusst bedient: Indem er Vernunft gegen Glauben ausspielt und offen mit dem Supernaturalismus liebäugelt, meint er, sich als großen Gläubigen präsentieren zu können, der über die Grenzen der Vernunft hinaus auf Gott vertraut. Es bedarf schon einer tiefgründigeren Analyse um zu durchschauen, dass der Glaube Elegantis nichts mit einem Christentum zu tun hat, das vor der Aufgabe steht, fides und ratio zur Synthese zu bringen. „Der mirakulöse Glaube an die Natur ausser Kraft setzenden Wunder hat […] nichts mit rational verantworteter Religion“[4] zu tun, stellt Maier fest. Darin würde ihm Eleganti wohl sogar Recht geben; allerdings sähe er darin nicht einen Mangel, sondern vielmehr eine Auszeichnung, steht für ihn doch Rationalität für Unglauben, während Glaube sich im kindlichen Vertrauen auf Gottes Allmacht zeigt. Die Mahnung, Gott nicht auf die Probe zu stellen, die Jesus dem Versucher entgegenhält (Lk 4,9-12), bleibt ebenso unbeachtet wie der Kommentar Jesu zum Einsturz des Turmes von Schiloach (Lk 13,4-5), der jede weitere Spekulation über Katastrophen als Strafe Gottes verbietet.
Theologisch scheitert Eleganti an der traditionellen Grundunterscheidung von Natur und Übernatur, die er selbst in seinem Video bedient
Theologisch scheitert Eleganti an der traditionellen Grundunterscheidung von Natur und Übernatur, die er selbst in seinem Video bedient, wenn er von der „übernatürliche[n] Kraft der Gegenwart Gottes in der heiligen Hostie“ spricht. Denn offensichtlich versteht er „übernatürlich“ nicht im Sinne der Tradition als zur Göttlichen Sphäre gehörig und das Ewige betreffend, sondern als die Natur außer Kraft setzend, ja sogar überwältigend. Vom klassischen Axiom, dass Gnade die Natur voraussetzt und vollendet, ist da ebenso wenig übrig, wie von der Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidens, auf der die katholische Transsubstantiationslehre aufruht. Viren, die die Hostie kontaminieren, sind jedenfalls Akzidentien, sie werden durch die Transsubstantiation weder gewandelt noch beseitigt – so wie auch der zum Blut Christi gewandelte Wein weiterhin Alkohol enthält (und kein Hämoglobin).
In Zeiten einer Pandemie wird ein solcher Aberglaube, wenn er auf naive Seelen trifft, im wahrsten Sinn des Wortes gemeingefährlich.
Was auf den ersten Blick als sakramententheologische Spitzfindigkeit erscheint, wiegt – ins Christologische gewendet – schwer. Der Fundamentalismus erweist sich hier als Zerstörer des christologischen Glaubensfundamentes, wird doch die fundamentale Glaubenswahrheit, dass in Christus Gott ganz Mensch geworden ist, doketistisch aufgelöst: Die (menschliche) Natur ist nur Schein, der Leib nicht real; Gott hat die (menschliche) Natur nicht angenommen, sondern überwunden, im Sinne von „für nichtig erklärt“. Papst Franziskus nennt das zu Recht einen modernen „Gnostizismus“, der die natürliche, leibliche Dimension verdrängt.[5] In Zeiten einer Pandemie wird ein solcher Aberglaube, wenn er auf naive Seelen – und das können durchaus auch Menschen von hohem intellektuellem Niveau sein – trifft, im wahrsten Sinn des Wortes gemeingefährlich.
Die Selbstbeschränkung aus Solidarität mit den Gefährdeten, auch bei den Sakramenten, bezeugt den Glauben jedenfalls besser, als ein Beharren auf vermeintlichen Rechten.
Immerhin erhebt sich auch aus dem konservativen Spektrum Widerspruch. So betont z.B. Benedikt Michal in seinem Blogbeitrag „Und wieviel Heilsegoismus steckt in dir?“[6], dass „ich nicht nur für mich und mein Seelenheil in die Messe gehe, sondern für das Heil der Welt“; eben deshalb ist Verzicht gefordert. Die Selbstbeschränkung aus Solidarität mit den Gefährdeten, auch bei den Sakramenten, bezeugt den Glauben jedenfalls besser, als ein Beharren auf vermeintlichen Rechten im Namen einer zur Kulturkampfvokabel verkommenen „Religionsfreiheit“.
Der Gott Jesu Christi und der „Lückenbüßer-Gott“ – die Provokation Dietrich Bonhoeffers
Zur theologischen Reflexion dieser Position möchte ich im Folgenden auf eine fundamentale Unterscheidung zurückgreifen, die Dietrich Bonhoeffer in seinen späten Schriften entfaltet und die auf Karl Barths Religionskritik aufbaut: die zwischen „Religion“ und „Glaube“. Bonhoeffer weist darauf hin, dass in der heutigen Zeit „Religion“ dort angesiedelt ist, wo „menschliche Erkenntnis (manchmal schon aus Denkfaulheit) zu Ende ist oder wenn menschliche Kräfte versagen“. Gott wird auf einen „Lückenbüßer“ reduziert, einen deus ex machina, der immer dort einspringen muss, wo die intellektuellen oder praktischen Kräfte des Menschen nicht mehr ausreichen. Doch „das hält zwangsläufig immer nur solange vor, bis die Menschen aus eigener Kraft die Grenzen etwas weiter hinausschieben und Gott […] überflüssig wird.“[7] Im konkreten Fall der Corona-Pandemie hieße das: Not lehrt zwar beten, aber nur so lange, bis es wirksame Medikamente gibt.
Aber christlicher Glaube hofft eben nicht auf den deus ex machina der Barockoper, der am Höhepunkt der Not mit Blitz und Donner erscheint und die dramatische Situation mit einem Paukenschlag zum Guten wendet.
Wäre das wirklich das Fundament unseres Glaubens, dann stände er auf tönernen Füßen. Als Religion im Widerspruch zu Vernunft und Wissenschaft müsste das Christentum in endlosen Rückzugsgefechten immer mehr Terrain an die Vernunft und die Freiheit verloren geben. Aber christlicher Glaube hofft eben nicht auf den deus ex machina der Barockoper, der am Höhepunkt der Not mit Blitz und Donner erscheint und die dramatische Situation mit einem Paukenschlag zum Guten wendet. Einen solchen Gott gibt es nicht, er ist nichts als religiöse Projektion. „Wo behält nun Gott noch Raum? fragen ängstliche Gemüter, und weil sie darauf keine Antwort wissen, verdammen sie die ganze Entwicklung, die sie in solche Notlage gebracht hat.“[8] So diagnostiziert Bonhoeffer eine in allen Religionen verbreitete antimodern(istisch)e Grundstimmung; die „Lösung“ ist dann häufig der „salto mortale zurück ins Mittelalter“. Diese Lösung ist aber illusorisch, denn „das Prinzip des Mittelalters aber ist die Heteronomie in der Form des Klerikalismus. Die Rückkehr dazu aber kann nur ein Verzweiflungsschritt sein, der nur mit dem Opfer der intellektuellen Redlichkeit erkauft werden kann. Er ist ein Traum nach der Melodie: ‚O wüßt‘ ich doch den Weg zurück, den weiten Weg ins Kinderland.'“[9]
Damit wäre der Bogen zurück zu Marian Elegantis Kinderglauben geschlagen – nunmehr aber verbunden mit der Einsicht, dass dieser auf dem Opfer der intellektuellen Redlichkeit fußt – für ein Christentum, das sich unter den Vorzeichen von fides et ratio versteht, schlicht undenkbar. Das heißt nun keineswegs, dass der Glaube insgesamt abzudanken hätte – geschweige denn Gott selbst. Nur wird man sie anderswo suchen müssen: nicht an den Grenzen des Lebens, sondern mittendrin. „Der Christ hat nicht wie die Gläubigen der Erlösungsmythen aus den irdischen Aufgaben und Schwierigkeiten immer noch eine letzte Ausflucht ins Ewige, sondern er muß das irdische Leben wie Christus […] ganz auskosten und nur indem er das tut, ist der Gekreuzigte und Auferstandene bei ihm und ist er mit Christus gekreuzigt und auferstanden.“[10]
Glaube bedeutet also nicht, die Hände in den Schoß zu legen und die Problemlösung Gott zu überlassen, sondern vielmehr um Gottes Willen eigenverantwortlich zu handeln.
Glaube bedeutet also nicht, die Hände in den Schoß zu legen und die Problemlösung Gott zu überlassen, sondern vielmehr um Gottes Willen eigenverantwortlich zu handeln. Den Lückenbüßergott gibt es nicht; der Gott der Bibel ist „weder kosmischer Terminator noch glorreicher happy-end-Gott“[11]. Wir sind statt dessen auf die Welt und die Menschen verwiesen, denn gerade in ihnen wird Gottesbegegnung wirklich. Dietrich Bonhoeffer bringt das auf den Punkt: „Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden. Er muß […] ‚weltlich‘ leben und nimmt eben darin an den Leiden Gottes teil; er darf ‚weltlich‘ leben, d.h. er ist befreit von den falschen religiösen Bindungen und Hemmungen. Christsein heißt nicht in einer bestimmten Weise religiös sein […]. Nicht der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben.“[12]
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Autor: Dr. Gunter Prüller-Jagenteufel ist Ao. Univ.-Professor für Theologische Ethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien
Beitragsbild: Pixabay
[1] Theodor Fontane, Spreeland. Wanderungen durch die Mark Brandenburg, in: Sämtliche Werke Bd. 1-25 (hg. v. Edgar Groß u.a.), München 1959-1975, Bd.12, 40.
[2] http://www.kathtube.com/player.php?id=49574.
[3] https://www.tagesanzeiger.ch/wissen/coronavirus/bei-corona-setzt-bischof-eleganti-auf-wunder/story/22888258).
[4] Ebd.
[5] Vgl. Apostolisches Schreiben „Gaudete et exultate“ (19.3.2018), Nr. 36-46.
[6] http://www.benediktakademie.at/kirchenblog/und-wieviel-heilsegoismus-steckt-in-dir/
[7] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung (DBW 8), 407-408.
[8] Bonhoeffer, a.a.O., 533.
[9] Ebd. Der Klerikalismus ist natürlich nicht auf das Christentum beschränkt, wie man z.B. an islamistischen Staaten oder östlichen Guru-Bewegungen unschwer erkennt.
[10] Bonhoeffer, a.a.O., 500-501.
[11] Sabine Dramm, Dietrich Bonhoeffer. Eine Einführung in sein Denken, Gütersloh 2001, 250.
[12] Bonhoeffer, a.a.O., 535.