Markus Weißer (Regensburg) über die Dimension der Leiblichkeit angesichts von „social distancing“ – und die theologischen Fragen, die hier gestellt werden.
Die Corona-Pandemie und ihre katastrophalen Konsequenzen für unsere globale Gesellschaft stellen nicht nur traditionelle Strukturen kirchlicher Seelsorge vor massive Herausforderungen. Angefragt ist auch die theologische Grundstruktur des christlichen Glaubens, der wesentlich in der Dimension von Leiblichkeit und leibhaftiger Zuwendung, Gemeinschaft und Begegnung gründet. Wie lässt sich diese sakramentale Denkform mit einem „social distancing“ in Einklang bringen? Und inwieweit werden theologische Fragen erkennbar, die längst einer differenzierten Aufarbeitung bedürfen?
„Die“ Kirche ist als integraler Bestandteil einer Gesellschaft solidarisch verwoben mit den strukturellen Rahmenbedingungen alltäglichen Lebens.
Kreativität in der Krise und „Kirche im Aufbruch“
Für die Christenheit ist es eine ebenso einschneidende wie schmerzliche Erfahrung, wenn sie aufgrund äußerer Umstände nicht Eucharistie feiern oder sich als Gemeinde versammeln kann. In unserer Gedächtnisspanne und Region kennt man diese Erfahrung nicht. „Die“ Kirche ist als integraler Bestandteil einer Gesellschaft solidarisch verwoben mit den strukturellen Rahmenbedingungen alltäglichen Lebens, die angesichts einer Pandemie herausgefordert sind.
Die konsequente Entschiedenheit bei der Absage von Gottesdiensten war angesichts der akuten Ansteckungsgefahr ebenso notwendig wie richtig. Kritik daran lässt sich, wie Bischof Kohlgraf in einem Facebook-Beitrag theologisch begründet erklärte, auch nicht durch besonders fromm anmutende Provokationen legitimieren. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen!“ (Mt 4,7) Ignoranz ist keine christliche Tugend. Anderen angesichts einer Bedrohung für Leib und Leben nur Unglauben zu unterstellen, übrigens auch nicht.
Kreative Formen der Seelsorge, um den zeitweisen Ausfall der Gottesdienste in Präsenzform zu kompensieren.
Angesichts der Krise bildeten sich aber kreative Formen der Seelsorge aus, um den zeitweisen Ausfall der Gottesdienste in Präsenzform zu kompensieren: Livestreams und Podcasts, Memes und Posts, Stories und Whatsapp-Nachrichten, über Social Media abgestimmte gemeinsame Gebetszeiten und andere Ideen, die hier nicht einzeln entfaltet werden brauchen. Not macht erfinderisch. Die Kirche lernte in der Krise – vor allem durch die Kreativität und Flexibilität zahlreicher SeelsorgerInnen an der Basis –, wie sie für Menschen da sein kann, ohne auf traditionelle Muster zurückzugreifen und auf Betriebsanleitungen „von oben“ zu warten. Im Mittelpunkt steht eine medial transportierte Zuwendung, die Zusage von Beistand, eine Botschaft von Trost und Hoffnung in schwierigen Zeiten. Mit anderen Worten: Die Kirche konzentrierte sich auf das, wozu sie eigentlich bestimmt ist: die Vermittlung des Evangeliums, das sich an alle Menschen guten Willens richtet, nicht nur an Insider mit Sitzplatzreservierung.
Die Kirche war gezwungen, die eigenen Bastionen zu verlassen und sich auf (digitales) Neuland zu begeben; sie wartet nicht mehr, bis Menschen zu ihr kommen, sondern sie macht sich auf den Weg – als eine „Kirche im Aufbruch“, wie Papst Franziskus längst gefordert hatte (vgl. EG 19-24). Dabei ist sie selbst das Medium, das sakramentale „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1). Dieses Selbstverständnis ist bekannt. Neu ist aber die Art und Weise der Realisierung. Doch eine sakramentale Repräsentation und Organisation der Kirche als „Leib Christi“ ist unter den Bedingungen einer „Kontaktsperre“ für das Christentum eine theologische Herausforderung.
Inkarnation als Dreh- und Angelpunkt christlichen Glaubens
Der christliche Glaube lebt substantiell vom Bewusstsein um die Inkarnation der heilsamen und erlösenden Selbstzusage Gottes in Jesus Christus. Das Wort Gottes trifft die Hörer und Hörerinnen des Wortes nicht auf einer abstrakten Ebene des Denkens, sondern im Schicksal eines konkreten Menschen in seiner Leiblichkeit und solidarischen Verbundenheit mit uns allen. Die Zuwendung Gottes wird durch Jesus Christus spürbar und in seiner körperlichen Präsenz für Arme, Kranke und aus der Gesellschaft Verstoßene real greifbar. Die durch ihn vermittelte Barmherzigkeit Gottes und die Tragweite seiner Liebe wird über die Grenzen von Zeit und Raum, sogar über Sünde und Tod hinweg als rettend und lebensspendend erfahren. Menschwerdung und Verleiblichung dieses Evangeliums werden aus christlicher Sicht zum entscheidenden „Dreh- und Angelpunkt“ der gesamten Heilsgeschichte, wie Tertullian (res. 8,2) betont hat: caro salutis est cardo.
Die Kirche partizipiert aktiv am grenzenlos offen gewordenen Leib Christi, der sich selbst und den Abendmahlssaal transzendierte, indem er sich seinen Mitmenschen aussetzte.
Die Kirche als Gemeinschaft in der Nachfolge Jesu führte diese von Jesus initiierte Bewegung hin zu den Menschen weiter; sie verbindet ihre Verkündigung der frohen Botschaft von Anfang an mit einer Zuwendung zu den Hilfsbedürftigen und Notleidenden. Ihr soziales Engagement, das nicht lukrativ, sondern karitativ orientiert war, findet seinen Sinnhorizont im gemeinsamen Brechen des Brotes, in dem das Vorbild ihres Meisters real gegenwärtig und materiell greifbar blieb. Die Kirche partizipiert aktiv am grenzenlos offen gewordenen Leib Christi, der sich selbst und den Abendmahlssaal transzendierte, indem er sich seinen Mitmenschen aussetzte und für unüberschaubar viele Menschen zum unbegreiflichen aber ergreifenden Brot des Lebens wurde, durch das er uns auch heute noch persönlich erreicht.
Sein geistiger Nährwert ist unerschöpflich für alle, „die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit“ (Mt 5,6). Die Kirche konstituiert sich dabei als eine organische Verwirklichung dessen, was in der Eucharistie gefeiert wird: Sie lebt als Gemeinschaft vom Empfangen und Teilen jener Hin-Gabe, die für sie zu einer konkreten Aufgabe und Sendung wird. Doch diese essentielle Dimension leibhaftiger Zuwendung und spürbarer Solidarität scheint in Zeiten einer Pandemie massiv in Frage gestellt – zumindest auf den ersten Blick.
Was wir unter normalen Bedingungen als heilsbedeutsame Solidarität und wohltuende Gemeinschaft erfahren, wird hier ins absolute Gegenteil verkehrt. Jede Umarmung oder Berührung wird nun zu einer potentiellen Bedrohung.
Aktuelle Ambivalenz der Leiblichkeit
Paradoxerweise sind es gerade die leibliche Präsenz, die eigentlich gut gemeinten Begegnungen und zärtlichen Zuwendungen, die in der „Covid19-Krise“ möglichst vermieden werden müssen, weil der zwischenmenschliche Kontakt gefährlich ist und im Extremfall sogar tödlich sein kann. Darin liegt die eigentliche Tragik einer solchen Pandemie begründet: Was wir unter normalen Bedingungen als heilsbedeutsame Solidarität und wohltuende Gemeinschaft erfahren, wird hier ins absolute Gegenteil verkehrt. Jede Umarmung oder Berührung wird nun zu einer potentiellen Bedrohung. Der oder die Andere wird geradezu als Unheilbringer für uns oder unsere Lieben wahrgenommen, nicht mehr als Mittler der Gnade, sondern als potentieller Wirt der Vernichtung, als Hamsterkäufer oder Räuber unseres Lebensraums. Körperliche Nähe, Gemeinschaft und persönlicher Kontakt müssen vermieden werden.
Jede positive Konnotation von Leiblichkeit, die für den christlichen Glauben im Unterschied zu allen gnostischen oder esoterischen Schwärmereien konstitutiv ist, scheint der Desinfektion zum Opfer zu fallen.
Zugleich droht eine Stigmatisierung und Isolation von Kranken, weil offenbar nur in Abschottung und Ausgrenzung noch Heil zu finden ist. Die Freiheit des Einzelnen steht auf einmal in erschreckender Konkurrenz zur Freiheit der Gemeinschaft. Jede positive Konnotation von Leiblichkeit, die für den christlichen Glauben im Unterschied zu allen gnostischen oder esoterischen Schwärmereien konstitutiv ist, scheint der Desinfektion zum Opfer zu fallen – und dies mit guten, rational nachvollziehbaren Gründen. Ist die soteriologische Bedeutung unserer Leiblichkeit als Medium der Heilsvermittlung damit ins Gegenteil verkehrt?
Der Schein trügt. Denn andererseits verkörpert – neben anderen Berufsgruppen – vor allem das medizinische Personal zusammen mit vielen freiwilligen Helfern eine nach wie vor positive Dimension leibhaftiger Zuwendung. Das in der Patristik so prominente medizinale Paradigma der Soteriologie (Christus als rettender „Arzt“, als Heilsmittler und „Heilmittel“) scheint dabei beinahe vergessen. Dieser geerdete Aspekt des christlichen Erlösungsverständnisses war in der Antike durch den Einsatz von Christ/innen in der Armen- und Krankenfürsorge noch unmittelbar spürbar, während die Erfahrung des Heils allmählich spiritualisiert und auf Fragen nach Sünde und Schuld verengt wurde.
Selbstloser Einsatz der Menschen füreinander … als Ort der leibhaftigen Erfahrbarkeit von Gnade.
Auch wenn Diakonia/Caritas als Pflege und Krankenfürsorge heute aufgrund medizinischer Professionalisierung von der Kirche delegiert und den Fachleuten überlassen wird, sollte man wenigstens die theologische Schnittstelle im Blick behalten und sprachfähig bleiben. Im Dienst der Menschen für Menschen in Not, in der gelebten Proexistenz – nicht nur der Christen! – realisiert sich mitten in Krisenzeiten eine unersetzbare, real spürbare Wirklichkeit, die der Deutung bedarf. Umso wichtiger ist es, den selbstlosen Einsatz der Menschen füreinander – auch als Phänomen grundloser Hilfsbereitschaft (sola gratia) und Hingabe bis zur körperlichen Erschöpfung – als das zu würdigen, was es aus theologischer Sicht ist: als Ort der leibhaftigen Erfahrbarkeit von Gnade, welche die Kirche nicht nur in Freude und Hoffnung, sondern auch in Trauer und Angst mit allen Menschen teilt (vgl. GS 1).
Gerade im Bereich der Sakramentalität, die an Leiblichkeit gebunden bleibt, tauchen Fragen auf, deren Klärung jenseits der digitalen Transformationen längst überfällig sind.
Einladende Entgrenzung leibhaftiger Präsenz
In der Krise laufen traditionelle kirchliche Handlungsmuster ins Leere, auch wenn sie deswegen längst nicht überflüssig werden. Aber darin liegt eine enorme Chance für neue Entwicklungen. Der Gottesdienstbesuch und die Teilnahme am kirchlichen Leben war auch vor der Krise schon ausbaufähig und optimierbar. Es fällt doch auf, dass gerade im Bereich der Sakramentalität, die an Leiblichkeit gebunden bleibt, Fragen auftauchen, deren Klärung jenseits der digitalen Transformationen längst überfällig sind. Kann die Absolution auch außerhalb des üblichen Rahmens einer klassischen Beichte gespendet werden? Es wäre nicht das erste Mal, dass sich die konkrete Ausgestaltung des Bußsakraments wandelt. Unter welchen Bedingungen ist aktive Partizipation an einer Eucharistiefeier möglich, wenn diese nicht durch eine stellvertretende Handlung des Priesters ersetzbar ist, sondern Dreh- und Angelpunkt kirchlicher Gemeinschaft bleibt? Welche Formen performativer Präsenz und menschlicher Nähe kann die Kirche für digitale Räume und darüber hinaus entwickeln, die es ihr erlauben, die spürbare Präsenz Jesu Christi medial zu vermitteln, ohne dabei zu regulieren oder auszugrenzen? Gelingt es, die leibhaftige Dimension der Gnade heute so zu öffnen, dass Weltkirche und Kirchen vor Ort enger miteinander verbunden sind als es bislang denkbar war?
Die Kirche müsste dann wirklich Medium, Mittlerin, nicht Kontrolleurin der Gnade Christi sein.
Die Bindung an leibhaftige Präsenz kann und soll nicht ersetzt, aber sie muss medial entgrenzt und supplementär ergänzt werden – als eine an reale Leiblichkeit gebundene und zu ihr hinführende Aktualpräsenz, die allen Menschen offensteht und alle einladend anspricht. Die Kirche müsste dann wirklich Medium, Mittlerin, nicht Kontrolleurin der Gnade Christi sein (vgl. EG 47). Die Corona-Krise kann zum Katalysator kirchlicher Kreativität und theologischer Entwicklung werden, wenn es der Kirche gelingt, ihre Hierarche der Wahrheiten (UR 11) ernst zu nehmen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: auf ihre Mission als Zeichen und Werkzeug. Das lebendige Wort Gottes wird dann im Sakrament leibhaftig spürbar, doch es lässt sich nicht darauf reduzieren oder begrenzen (STh III q64 a7 co.). In der Inkarnation hat es vielmehr alle Grenzen überwunden und ist mit jedem von uns zutiefst verbunden.
Die durch Covid-19 erzwungene eucharistische Fastenzeit, die sich nicht an den liturgischen Fahrplan hält, wird enden und in die leibhaftig erfahrbare Feier der Auferstehung münden. Die Erweiterung der kirchlichen Reichweite und die darin gewonnenen Erfahrungen können jedoch ihren Weg von der Peripherie weltweiter Vernetzung zurück zum eigentlichen Hotspot christlicher Freude finden: zur unmittelbaren Begegnung mit dem Herrn und miteinander, im Genuss einer gelösten, ja erlösten Gemeinschaft, die allen offen steht und niemanden ausgrenzt, weil sie sich durch offene Türen und Herzen auszeichnet.
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Autor: Dr. Markus Weißer ist Akademischer Rat a.Z. an der Universität Regensburg, Fakultät für Kath. Theologie, Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte
Beitragsbild: Gert Altmann auf Pixabay