Papst Franziskus betreibt Seelsorge als Leibsorge. Diese These vertritt Johann Pock mit einem Beitrag auf dem Internationalen Kongress „Papst Franziskus und die Revolution der zärtlichen Liebe“.
Zu den Kernbereichen kirchlichen Handelns gehört seit jeher das, was mit „cura animarum“ bezeichnet wird – also die „Sorge für die Seelen“, die Seelsorge. Die konkrete Füllung dieses Begriffs hat sich jedoch im Laufe der Zeit gewandelt.
Meine These lautet: Papst Franziskus steht für ein Verständnis von Seelsorge, das nicht primär auf das ewige Seelenheil abzielt. Er steht für ein Verständnis von „Leibsorge“ als Seelsorge.
Ich versuche im Folgenden, die Belegstellen für diese These nicht zuletzt aus Evangelii Gaudium und Laudato Sií darzulegen und zu kommentieren.
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Das persönliche Zeugnis des Papstes als Ausdruck seines Seelsorge-Verständnisses
Bevor man auf die expliziten verbalen Äußerungen des Papstes blickt, zeigt sich sein Verständnis von Seelsorge bereits in seinem Handeln. Die offensichtlichste Interpretation von Seelsorge ist seine offene und gewinnende Art des Umgangs mit den Menschen. Was laut der Seelsorgetheorie am Vorbild Jesu zu lernen ist – nämlich der leibliche und zärtliche Umgang Jesu mit jenen, die zu ihm kommen – , das lebt Papst Franziskus vor: Er hat keine Scheu, Menschen zu berühren, Kinder auf die Stirn zu küssen oder zu umarmen. Und er lässt sich auch berühren, streicheln, umarmen, herzen. Und er hat auch noch offensichtlich Spaß daran.
Noch bevor hier irgendein Wort gesagt ist, ist klar, dass hier einer da ist, der Distanzen überbrückt. Genau damit erreicht er aber den zentralen Punkt von Seelsorge – das Herz und das Lebensgefühl der Menschen. Sein bewusster und körperbetonter Einsatz zeigt, dass Seelsorge nicht ohne den Leib zu haben ist – den Leib des Seelsorgers / der Seelsorgerin, und auch den Leib des Menschen, dem man seelsorglich begegnet.
da ist einer, der Distanzen überbrückt
Zugleich ist in diesen Berührungen spürbar, dass Franziskus nicht nur der Gebende, sondern auch der Empfangende ist: Berührungen wärmen beide Partner, Umarmungen werden von beiden gefühlt. Diese leibhafte, betont körperliche Seelsorge ist somit etwas Gegenseitiges, Dialogisches. Und bei Franziskus wird offensichtlich: Seelsorge kann auch Spaß, Freude bereiten!
Dieser Einsatz seiner ganzen Person zeigte sich bereits in seiner Tätigkeit als Bischof in Buenos Aires: Er begab sich immer wieder an die sozialen Brennpunkte; er begegnete den Ärmsten der Armen in den Slums, in den „villas miseras“. In einer Biographie heißt es über ihn: „Er selbst leiht seine Stimme denen, die keine Stimme haben. Bergoglio wird zur Ikone der Papiersammler, zum Anwalt der ungeborenen Kinder, zum Advokaten rauschgift-abhängiger Jugendlicher, zur Stimme der zur Prostitution gezwungenen Frauen aus der Dominikanischen Republik oder der Bolivianer ohne Papier, die in Argentinien die Drecksarbeit machen dürfen.“ 1
Wer Seelsorge so versteht, der scheut sich nicht davor, sich selbst schmutzig zu machen; sich mit diesen von der Gesellschaft an den Rand gedrängten Menschen zu solidarisieren. Er setzt seinen ganzen Leib ein im Dienst an den anderen.
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Die „Seelsorgetheorie“ von Franziskus
An Seelsorgetheorie findet sich in den Schriften von Papst Franziskus wenig Explizites, aber vieles, das implizit mitgesagt ist. Zentral ist dabei jedenfalls, dass er die Seelsorge ausweitet: Sie meint nun nicht primär das innerste Handeln der Kirche – z.B. die Feier der Sakramente. Diese hat er auch im Blick – und er nennt sie die „gewöhnliche“ Seelsorge. In Evangelii gaudium (EG) 14 beschreibt er sie (ausgehend von der Bischofssynode 2012 über die Evangelisie-rung) folgendermaßen: „Diese Seelsorge ist auf das Wachstum der Gläubigen ausgerichtet, damit sie immer besser und mit ihrem ganzen Leben auf die Liebe Gottes antworten. Sie richtet sich an die Menschen, die in den Gemeinden da sind.“
Damit gibt er sich jedoch nicht zufrieden. Seelsorge, reduziert auf den inneren Kern der Gemeinden, würde diese letztlich absterben lassen. Franziskus verbindet daher mit der Seelsorge die missionarische Weitung nach außen, wenn er sagt: „Wir würden einfach erkennen, dass das missionarische Handeln das Paradigma für alles Wirken der Kirche ist. Auf dieser Linie haben die lateinamerikanischen Bischöfe bekräftigt: ‚Wir können nicht passiv abwartend in unseren Kirchenräumen sitzen bleiben‘, und die Notwendigkeit betont, ‚von einer rein bewahrenden Pastoral zu einer entschieden mis-sionarischen Pastoral überzugehen‘.“ (EG 14)
Hier findet sich eine fundamentale Kritik an jenen Seelsorgeverständnissen, die sich gerade auch in deutschsprachigen Diözesen in den vergangenen Jahren herausgebildet haben: Die Konzentration auf die Entwicklung der Seelsorge-Strukturen; darauf, Pastoral und Seelsorge möglichst gut zu organisieren. Franziskus verwahrt sich jedoch dagegen, mit Seelsorge den eigenen Bestand sichern zu wollen, wenn er z.B. in EG 63 sagt: „Vielerorts besteht eine Vorherrschaft des administrativen Aspekts vor dem seelsorglichen sowie eine Sakramentalisierung ohne andere Formen der Evangelisierung.“
Und ähnlich heißt es in EG 27: „Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. Die Reform der Strukturen, die für die pastorale Neuausrichtung erforderlich ist, kann nur in diesem Sinn verstanden werden: dafür zu sorgen, dass sie alle missionarischer werden, dass die gewöhnliche Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des ‚Aufbruchs‘ versetzt.“
Mit diesem Satz ist die Ruhe vorbei. Es widerspricht meines Erachtens der österreichischen und deutschen Mentalität, eine Haltung des ‚Aufbruchs‘ positiv zu sehen. Hier hat man lieber jenes Ideal, das die Pastoralbriefe geprägt haben: die „eusebeia“ – also die Ruhe, das geordne-te Haus, abgesichert durch ein klares Lehrsystem.
Mit diesem Satz ist die Ruhe vorbei.
Franziskus durchbricht jedoch die Ruhe und Ordnung. Mehrfach lädt der Papst ein, schöpferisch und spielerisch ans Werk zu gehen. So stellt er in EG 33 fest: „Die Seelsorge unter missionarischem Gesichtspunkt verlangt, das bequeme pastorale Kriterium des ‚Es wurde immer so gemacht‘ aufzugeben.“ Und er lädt alle ein, „wagemutig und kreativ zu sein“. Kreative, innovative, wagemutige Seelsorge anstelle des „Es war schon immer so“ – eine harte Kost für so manche Diözesen und Pfarrgemeinden.
Franziskus fordert somit die Öffnung der üblichen Seelsorgebereiche – und er fordert von den Seelsorgerinnen und Seelsorgern den vollen Einsatz, gewissermaßen „mit Leib und Seele“. Seelsorge wird hier also mit dem Motiv des Aufbrechens, des Loslassens, der Mission verbunden. Sie ist nicht Verwaltung vor Ort, auch nicht primär Lehre, sondern Hinwendung zu den Menschen. „Eine Seelsorge unter missionarischem Gesichtspunkt steht nicht unter dem Zwang der zusammenhanglosen Vermittlung einer Vielzahl von Lehren, die man durch unnachgiebige Beharrlichkeit aufzudrängen sucht.“ (EG 35)
Interessant ist dabei, dass er gerade die klassischen Seelsorgestrukturen, wie z.B. die Pfarren, als Chance für eine solche missionarische Seelsorge ansieht – aber nur dann, wenn sie „wirklich in Kontakt mit den Familien und dem Leben des Volkes steht“. Seelsorge ist für ihn nichts, was nur durch eine „Gruppe von Auserwählten“ in einer „weitschweifigen, von den Leuten getrennten Struktur“ erfolgen kann. Seelsorge ist also nicht nur das Handeln einiger weniger; es ist nicht reserviert für Kleriker. Seelsorge muss hautnah am Leben der Menschen dran sein und kann nicht fernab davon geschehen.
Wer noch die gar nicht lange zurückliegenden Diskussionen in unseren Diözesen kennt, ob sich denn auch Laien als „Seelsorger“ oder „Seelsorgerin“ bezeichnen dürfen, sieht hier ein deutliches Votum für einen weiten Seelsorgebegriff. Dabei formt sich sein Bild vom Seelsorger um das Verständnis des Hirten (z.B. in EG 31), der zum Teil denen, die ihm anvertraut sind, vorangeht; zum Teil inmitten von ihnen „mit seiner schlichten und barmherzigen Nähe“ einfach da ist; und zum Teil hinterhergeht, um den Verlorenen und Verletzten zu helfen – im Vertrauen, dass das Volk seinen Weg auch allein findet. Die Menschen, denen man als Seelsorger dient, bezeichnet er als „Weggefährten“, in deren Gesicht, Stimme und Bitten Jesus selbst zu erkennen ist (vgl. EG 91).
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Die Leiblichkeit der Sakramente als Ausdruck der positiven Schöpfungswirklichkeit. Ein Plädoyer gegen ein leibfeindliches Weltbild
Ein klassisches Moment der Seelsorge war über viele Jahrhunderte die Beichte, das zentrale Sakrament der Versöhnung. Auch diesen Ort nimmt Franziskus in seine Barmherzigkeitslehre hinein, wenn er die Priester explizit auffordert, „dass der Beichtstuhl keine Folterkammer sein darf“ (EG 44) sondern ein Ort der Barmherzigkeit Gottes.
Aber auch in der Schöpfungsenzyklika Laudato sií (LS) finden sich Ansätze seines Seelsorgeverständnisses, das hier die positiven Erfahrungen der Schöpfung aufgreift. In LS 96 wird der „Blick Jesu“ auf die Schöpfung ausgeführt. Für Jesus gibt es eine väterliche Beziehung Gottes zu allen Geschöpfen. Und er versucht die Jünger „mit einer rührenden Zärtlichkeit“ daran zu erinnern, wie wertvoll jedes der noch so kleinen Geschöpfe ist. 2
Gerade das Beispiel Jesu zeigt eine sehr sensitive, ästhetische, naturbezogene Seelsorge: Im Blick auf die Schönheiten der Natur, auf Gottes Schöpfung, führt er die Jünger und alle Menschen in die Geheimnisse dessen ein, was er mit „Reich Gottes“ oder „Himmelreich“ bezeichnet.
sensitive Seelsorge Jesu
Franziskus hebt bewundernd hervor, wie sehr Jesus „in vollkommener Harmonie mit der Schöpfung“ lebte (LS 98): Wind und Wasser gehorchen ihm (Mt 8,27); er isst und trinkt mit den Menschen (Mt 11,19). Und Franziskus meint: „Er war weit entfernt von den Philosophien, die den Leib, die Materie und die Dinge dieser Welt verachteten.“ (LS 98) – Eine sehr deutliche Abwehr von leibfeindlichen, platonisierenden Theologien und Theorien!
Damit wendet er sich explizit gegen die schädlichen Dualismen, die das Leibhafte schlecht reden. Jesus selbst hat den größten Teil seines Lebens körperlich gearbeitet. Und schon Papst Johannes Paul II., den Franziskus hier zitiert, hat in seiner Enzyklika Laborem exercens die Arbeit der Menschen als Teilhabe am Erlösungswerk angesehen – und ist das nicht letztlich auch Seelsorge, wenn etwas beiträgt zur Erlösung?
Erstaunlich ist, wie Franziskus zugleich auch östliche Mystik rezipiert: Am Ende seiner Schöpfungsenzyklika zitiert er einen Sufi, Ali Al-Khawwas, und den heiligen Bonaventura als Gewährsleute für die These, dass man Gott sowohl im eigenen Inneren wie auch in den äußeren Geschöpfen begegnen kann. So können (mit Al-Khawwas) „der wehende Wind, die sich biegenden Bäume, das rauschende Wasser, die summenden Fliegen, die knarrenden Türen, der Gesang der Vögel, der Klang der Saiten oder der Flöten, der Seufzer der Kranken, das Stöhnen der Betrübten“ dem Menschen von Gott sprechen. Die leibhaften, sinnlichen Erfahrungen (sowohl positive, wie auch negative) können der Ansatzpunkt zur Gottesbegegnung werden. (vgl. LS 233)
Gerade die Sakramente mit ihren sinnenhaften, leibhaften Symbolen und Zeichenhandlungen zeigen diese Welt-Zugewandtheit des Franziskus, wenn er sagt: „Wir entfliehen nicht der Welt, noch verleugnen wir die Natur, wenn wir Gott begegnen möchten.“ (LS 235) Gottesbegegnung nicht primär durch Askese, durch das Ablegen alles Materiellen, durch Verleugnung des Körperlichen, sondern gerade im Physischen, in der leibhaften Schöpfung – das macht mir dieses Seelsorgekonzept von Franziskus sehr sympathisch!
Letzter theologischer Grund für die Bedeutung der Leiblichkeit in der Seelsorge ist für Franziskus dann der menschgewordene Sohn Gottes, da er selbst „einen Teil des materiellen Universums aufgenommen [hat], in den er einen Keim der endgültigen Verwandlung hineingelegt hat.“
Leiblichkeit der Seelsorge und der menschgewordene Sohn Gottes
Interessanterweise findet Franziskus hier eine Unterstützung seines Ansatzes bei Papst Johannes Paul II., der 1995 in seinem Apostolischen Schreiben Orientale lumen sagt: „Das Christentum verwirft nicht die Materie, die Leiblichkeit, ja sie wertet sie im liturgischen Akt sogar vollständig auf, indem der menschliche Leib sein tiefstes Wesen als Tempel des Geistes zeigt und sich mit dem Herrn Jesus vereinigt, der um der Rettung der Welt willen auch einen Leib angenommen hat.“ (Orientale lumen 11)
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Seelsorge verlangt vollen persönlichen Einsatz – und zeigt sich in einer „Pastoral der Begegnung“
Franziskus wendet sich gegen eine „egoistische Trägheit“ und verlangt den vollen persönlichen Einsatz der Seelsorgerinnen und Seelsorger. „Einige verfallen ihr, weil sie nicht realisierbaren Plänen nachgehen und sich nicht gerne dem widmen, was sie mit Gelassenheit tun könnten. Andere, weil sie die schwierige Entwicklung der Vorgänge nicht akzeptieren und wollen, dass alles vom Himmel fällt. Andere, weil sie sich an Projekte oder an Erfolgsträume klammern, die von ihrer Eitelkeit gehegt werden. Wieder andere, weil sie den Kontakt zu den Menschen verloren haben, in einer Entpersönlichung der Seelsorge, die dazu führt, mehr auf die Organisation als auf die Menschen zu achten“ (EG 82) Aber auch einen Relativismus stellt er als eine der Gefahren für SeelsorgerInnen fest. Dieser besteht für ihn darin, „so zu handeln, als gäbe es Gott nicht“ (EG 80).
Als größte Bedrohung benennt er mit Worten von Papst Benedikt: der „graue Pragmatismus des kirchlichen Alltags, bei dem scheinbar alles mit rechten Dingen zugeht, in Wirklichkeit aber der Glaube verbraucht wird und ins Schäbige absinkt“ (EG 83). Und weiter: „Es entwickelt sich die Grabespsychologie, die die Christen allmählich in Mumien für das Museum verwandelt.“
Egoismus, Entpersönlichung, Relativismus und grauer Pragmatismus
Das Gegenmittel ist für Franziskus die „Freude der Evangelisierung“. Franziskus wendet sich gegen einen Pessimismus, gegen die „Unglückspropheten“. „Wer ohne Zuversicht beginnt, hat von vornherein die Schlacht zur Hälfte verloren.“ (EG 85) Seelsorge braucht für ihn eine „Spiritualität, die uns in der heutigen Zeit zu einer Diakonie des Zuhörens und einer Pastoral der Begegnung befähigt.“3 Aus der Begegnung mit Christus in der lectio divina und in den Sakramenten kommt die Kraft zur Begegnung mit den Armen und Alten, zur personalen Begegnung in der Familie. Nach Michael Sievernich ist Begegnung bei Bergoglio zu verstehen als „Nächstheit …, die freilich den anderen in seiner Würde respektiert und Nähe und Distanz wahrt, wie sie jede personale Begegnung auszeichnet.“4
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Das Beispiel der Wundmale Jesu – ein Weg zu einer „mystischen“ Seelsorge
Papst Franziskus entwickelt seine Lehre nicht in einer systematischen Form, sondern nutzt Predigten, Ansprachen und Bibelauslegungen dazu, sein Verständnis christlicher Lehre darzulegen. Im Hinblick auf die Seelsorge ist hier eine Auslegung zur Thomas-Perikope von Joh 20,24-295 sehr aussagekräftig. In dieser Predigt vom 3. Juli 2013 sagt er: „Um anzubeten, musste er den Finger in die Wundmale legen, seine Hand in seine offene Seite stecken. Das ist der Weg.“ 6
Diese Perikope nutzt er, um einige Fehlentwicklungen in der Geschichte der Kirche darzulegen. Eine Fehlentwicklung ist für ihn eine zu starke Konzentration auf Kontemplation, die Falle der Gnostiker: das sei „gefährlich; wie viele verirren sich auf diesem Weg und kommen nicht ans Ziel?“ Sie kämen vielleicht zur Kenntnis Gottes, aber nicht zur Kenntnis des Gottes-sohnes. Ähnlich wendet er sich in EG 94 ausdrücklich gegen einen Gnostizismus, einen „im Subjektivismus eingeschlossenen Glauben“ (EG 94).
Ein anderes Beispiel sind die Pelagianer. Es sind jene, die dachten,
„wir müssen, um zu Gott zu gelangen, gut sein, uns kasteien und streng sein, und sie haben den Weg der Buße, nichts als Buße, und das Fasten gewählt. Aber auch diese sind nicht zum lebendigen Gott, zu Jesus Christus, dem lebendigen Gott, gelangt.“7
In EG 94 spricht er vom „selbstbezogenen und prometheischen Neu-Pelagianismus derer, die sich einzig auf die eigenen Kräfte verlassen und sich den anderen überlegen fühlen, weil sie bestimmte Normen einhalten oder weil sie einen gewissen katholischen Stil der Vergangenheit unerschütterlich treu sind.“
Und er geht noch weiter in seiner Kritik an dieser weltfeindlichen Haltung, wenn er sagt: „Es ist eine vermeintliche doktrinelle oder disziplinarische Sicherheit, die Anlass gibt zu einem narzisstischen und autoritären Elitebewusstsein, wo man, anstatt die anderen zu evangelisieren, sie analysiert und bewertet und, anstatt den Zugang zur Gnade zu erleichtern, die Energien im Kontrollieren verbraucht.“ (EG 94)
Solchen Seelsorgern attestiert er, dass sie weder an Christus noch an den Menschen ein Interesse haben. Den Weg des Thomas beschreibt er hingegen so: „Die Wundmale Jesu findest du, wenn du Werke der Barmherzigkeit vollbringst, wenn du dem Körper … und auch der Seele deines mit Wunden übersäten Bruders etwas gibst, weil er hungert, weil er dürstet, weil er nackt ist, weil er erniedrigt ist, weil er geknechtet ist, weil er im Gefängnis ist, weil er im Krankenhaus ist. Das sind in unseren Tagen die Wundmale Jesu.“8
Solchen Seelsorgern attestiert er, dass sie weder an Christus noch an den Menschen ein Interesse haben.
Und er plädiert in diesem Zusammenhang für eine ganz handfeste Seelsorge: Wir müssen „die Wundmale Jesu anfassen, wir müssen die Wundmale Jesu liebkosen. Wir müssen die Wunden Jesu mit Zärtlichkeit heilen. Wir müssen die Wunden Jesu im ganz wörtlichen Sinne küssen.“9
In ähnlicher Weise argumentiert er in einer Predigt über das Verhältnis von Marta und Maria (Lk 10)10. Der Papst sieht in der Stelle die Warnung ausgesprochen, eine von beiden Seiten – Kontemplation und Nächstendienst – absolut zu setzen. „Auch in unserem christlichen Leben müssen Gebet und Handeln immer zutiefst vereint sein. Ein Gebet, das nicht zum konkreten Handeln gegenüber dem armen, kranken, hilfsbedürftigen Bruder, dem Bruder in Not, führt, ist ein steriles und unvollständiges Gebet. Wenn man aber gleichzeitig im kirchlichen Dienst allein auf das Tun achtet, wenn man den Dingen, den Funktionen, den Strukturen mehr Gewicht beimisst und dabei die Zentralität Christi vergisst … so läuft man Gefahr, sich selbst zu dienen und nicht dem im bedürftigen Bruder gegenwärtigen Gott.“11
Diese Beispiele aus den Predigten zeigen, wie sehr sich der Papst gegen ein gnostisches, leibfeindliches Verständnis von Christentum und im Konkreten von Seelsorge wendet.
In diese Richtung weist auch sein Bekenntnis zu einem mystischen, nicht asketischen Verständnis der ignatianischen Exerzitien.12 Er sagt explizit: „Jene verzerrende Strömung, die das Asketentum, das Schweigen und die Buße unterstreicht“.
Mystik mit Umarmungen
Mystik meint für ihn jedoch nicht eine weltabgewandte Versenkung in Kontemplation, sondern Mystik liegt darin, „zusammen zu leben, uns unter die anderen zu mischen, einander zu begegnen, uns in den Armen zu halten, uns anzulehnen, teilzuhaben an dieser etwas chaotischen Menge, die sich in eine wahre Erfahrung von Brüderlichkeit verwandeln kann, in eine solidarische Karawane, in eine heilige Wallfahrt.“ (EG 87)
Diese Mystik ist also nicht weltabgewandt, sondern sehr leiblich – mit Umarmungen und Teilhabe an unserer Welt. Er fordert auf, den „Realismus der sozialen Dimension des Evangeliums“ zu erkennen – und warnt davor, nur den „rein geistlichen Christus ohne Leib und ohne Kreuz zu wollen“ (EG 88). Vielmehr lädt uns das Evangelium ein, „das Risiko der Begegnung mit dem Angesicht des anderen einzugehen, mit seiner physischen Gegenwart, die uns anfragt, mit seinem Schmerz und seinen Bitten, mit seiner ansteckenden Freude in einem ständigen unmittelbar physischen Kontakt.“ (EG 88)
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Resümee: Die leibliche Dimension der Seelsorge
Zusammenfassend kann man festhalten, dass Seelsorge und Verkündigung für Papst Franziskus eine immense physische Dimension aufweisen – was er explizit mit dem Leitwort dieses Kongresses sagt: „Der echte Glaube an den Mensch gewordenen Sohn Gottes ist untrennbar von der Selbsthingabe, von der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, vom Dienst, von der Versöhnung mit dem Leib der anderen. Der Sohn Gottes hat uns in seiner Inkarnation zur Revolution der zärtlichen Liebe eingeladen.“ (EG 88)
Auf die Seelsorge bezogen bedeutet dies: Sie kann nicht über die vielen neuen kommunikativen Hilfsmittel erfolgen, sondern braucht die Begegnung von Angesicht zu Angesicht – und dies nicht nur aus psychologischen oder anthropologischen Gründen, sondern auch aus theologischen, da Seelsorge das Heilswerk Jesu weiterführt, das mit seiner Inkarnation, mit der Fleisch-Werdung begonnen hat.
Neu ist hier auch der Begriff der „Versöhnung mit dem Leib der anderen“ (EG 88). Auch die klassische Form der Seelsorge, nämlich die Bußpastoral, besteht nicht in einem verbalen Bekennen und Vergeben von Sünden, sondern in der ganz konkreten, leiblichen Hinwendung zum anderen.
Franziskus sieht zu Recht die Gefahr, dass die Menschen heute in ihrer spirituellen Suche den Durst „ohne Leib und ohne Einsatz für den anderen“ stillen. Die Kirche hat daher dieser spirituellen Suche leibhaft, konkret, im Einsatz aller Kräfte zu begegnen – und nicht in einer „spiritualistischen“ Weltabkehr oder Weltverleugnung. Vielmehr hat die kirchliche Seelsorge so zu agieren, dass sie die Menschen „heilt, sie befreit, sie mit Leben und Frieden erfüllt und die sie zugleich zum solidarischen Miteinander und zur missionarischen Fruchtbarkeit ruft“ (EG 89).
Seelsorge ist missionarisch, hat aus den innersten Räumen hinauszugehen, ist eine Aufgabe nicht nur von Experten. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der großen Wertschätzung von Franziskus gegenüber den „besonderen Formen der Volksfrömmigkeit“– denn sie sind gewissermaßen eine „Inkarnation des christlichen Glaubens in eine Volkskultur“ – und: „Sie besitzen Leiblichkeit, haben Gesichter.“ (EG 90) Von Weggefährten wird er als „Mann der Volks-frömmigkeit“ bezeichnet.13
zärtliche Sorge
Man könnte hier noch vieles anführen, z.B. die Bedeutung seiner Rede einer „armen Kirche für die Armen“ für ein Seelsorgeverständnis, das nicht machtvoll, paternalistisch, daherkommt, sondern dem anderen auf Augenhöhe, aber zärtlich und liebevoll begegnet. Leonardo Boff spricht (unter Bezugnahme auf Martin Heidegger) davon, dass „allein die Sorge um den anderen … das Leben menschlich“ macht.14 Ich schließe jedoch mit der Frage: Was ist also Seelsorge für Papst Franziskus? Und ich nenne als zentrale Begriffe: Missionarisch und leibhaft, universell und mystisch, volksverbunden und heilsam.
(Johann Pock, internationaler Kongress „Papst Franziskus und die Revolution der zärtlichen Liebe“, Universität Wien, 15.10.2015; Bild: Kongressfolder)
- Daniel Deckers, Papst Franziskus. Wieder die Trägheit des Herzens. Eine Biographie, München 2014, 13. Vgl. dazu auch Paul Vallely, Papst Franziskus. Vom Reaktionär zum Revolutionär. Übers. aus d. Engl. v. Axel Walter, Darmstadt 2014, 109-140: „Der Bischof der Elendsviertel“. ↩
- Vgl. in Lk 12,6 der Verweis auf die Spatzen; oder Mt 6,26 die „Vögel des Himmels“, die vom himmlischen Vater ernährt werden. ↩
- Jorge Mario Bergoglio SJ / Papst Franziskus, Die wahre Macht ist der Dienst. Aus dem Span. v. Gabriele Stein. Mit einer Einführung v. Michael Sievernich SJ, Freiburg u.a. 2014, 46. ↩
- Ebd., 27f. ↩
- Papst Franziskus, Predigten aus den Morgenmessen in Santa Maria. Mit einer Einführung von Stefan von Kempis, Freiburg u.a. 2014. ↩
- Predigten aus den Morgenmessen, 164. ↩
- Ebd., 165. ↩
- Ebd., 167. ↩
- Ebd. ↩
- Vgl. dazu auch Niklaus Kuster / Martina Kreidler-Kos, Der Mann der Armut. Franziskus – ein Name wird Programm, Freiburg u.a. 2014 – das Kapitel über „Marta und Maria. Engagierte Gottesfreundschaft“, 51-63. ↩
- Papst Franziskus, Angelus, 21. Juli 2013, in: Papst Franziskus, Mut zur Evangelisierung, Media Maria Verlag: Illertissen 2014, 105. (Orig. ital.: La gioia di evangelizzare) ↩
- Vgl. z.B. in: Antonio Spadaro SJ, Das Interview mit Papst Franziskus, hg.v. Andreas R. Batlogg SJ, Freiburg u.a. 2013, 40. ↩
- Paul Vallely, Papst Franziskus 47. ↩
- Leonardo Boff, Franziskus aus Rom und Franz von Assisi. Ein neuer Frühling für die Kirche. Aus dem Portugiesischen übers. v. Bruno Kern, Kevelaer 2014, 72. ↩