Von Arbeiterpriestern zu Arbeitergeschwistern: Urs Häner zeichnet die Geschichte eines kirchlichen Berufes nach, in dem er selbst wie andere TheologInnen und Menschen mit christlichen Wurzeln gearbeitet hat, ganz nah und mitten drin – bei Arbeiterinnen und Arbeitern.
Als vor Jahren der zwölfte Band der umfassenden «Geschichte des Christentums» von Michel Clévenot erschien, war meine Freude gross, dass eine der 30 Sequenzen zum 20. Jahrhundert sich den Arbeiterpriestern, den Prêtres-Ouvriers, widmete. Umso fassungsloser musste ich dann aber lesen, dass er die Geschichte der P.O., wie sie sich selber immer nannten, mit dem vatikanischen Verbot 1954 zu Ende gehen liess. Dabei waren wir doch in den 1990er-Jahren, als das Buch in Französisch und Deutsch unter die Leute kam, eine zwar kleine, aber durchaus muntere Schar von Engagierten, die sich in die Spur dieser Arbeiterpriester stellten. Wir sind bis heute verbunden im ganzen deutschsprachigen Raum und vernetzt mit anderen solchen Kollektiven in Frankreich und weiteren europäischen Ländern.
Arbeitergeschwister, weil wir längst nicht nur Priester sind
Im deutschsprachigen Raum nennen wir uns seit vielen Jahren «Arbeitergeschwister», weil wir längst nicht nur Priester sind, uns aber frei von einer kirchlichen Anstellung zur Arbeits- und Alltagssituation einfacher ArbeiterInnen, Angestellter usw. gesellen wollen. In aller Vielfalt, wie sich auch das klassische Fabrikleben der 1950er-Jahre längst weiterentwickelt und ausdifferenziert hat. Verbindend jedoch ist uns weiterhin das zentrale Motto der P.O., das «vivre avec»: Im geteilten Alltagsleben, in den solidarischen Kämpfen auf der Arbeit, im realen Mitgehen von Wegen in der Prekarität Zeugnis ablegen für das Reich Gottes.
Ortswechsel: Den Arbeitern ein Arbeiter werden
Ein weiteres Vierteljahrhundert später will ich einen Versuch wagen, Einblick zu geben in die Geschichte dieser Bewegung. Er ist notgedrungen subjektiv, obwohl sich laut Clévenot die Prêtres-Ouvriers immer gesträubt hatten, ihre Situation zu individualisieren. So verstehe auch ich mich in der Grundhaltung, «den Arbeitern ein Arbeiter zu werden» (siehe Apostel Paulus), als Teil eines kollektiven Abenteuers. Ich selber kam mit Arbeiterpriestern in Berührung, als ich während meines Theologiestudiums Auslandsemester in Tübingen machte. Ich hatte grad ein sog. Industriepraktikum in Biel hinter mir, welches uns Studierenden die «Welt der Arbeit» und deren Funktionieren zugänglich machen wollte. Da waren wir mit manchen RollenträgerInnen im Betrieb sowie externen Fachleuten, darunter auch Betriebsseelsorgern, in Kontakt gekommen. Ein wichtiger «Lehrblätz» für mich, auch wenn er etwas technokratisch blieb.
auf die andere Seite gehen und in die tägliche Maloche der KollegInnen einsteigen
Jedenfalls packte es mich ungleich stärker, als ich dann einige Zeit bei einem Arbeiterpriester-Kollektiv verbringen konnte. Plötzlich ging es nicht mehr darum, über den beklagten Graben zwischen Kirche und Arbeiterschaft hinwegzurufen, sondern durch diesen Graben auf die andere Seite zu gehen und in die tägliche Maloche der KollegInnen einzusteigen. Priester wurde ich nicht, aber die Piste zur Lohnarbeit am unteren Rand der Skala war gelegt: Ich heuerte in einer Druckerei an und sollte 33 Jahre dort bleiben, zunächst als Hilfsarbeiter in der Packerei, später im Support der Zeitungsweiterverarbeitung. Bis es plötzlich hiess: «Es ist Schluss». Nicht als Bilanz wie bei Clévenot zum dekretierten vatikanischen Verbot der P.O., sondern als rabiater Schlussstrich eines CEO, der sich der Digitalisierung verschrieben hatte und deswegen den eigenen Zeitungsdruck mitsamt über 150 MitarbeiterInnen über die Klinge springen liess.
Ilbenstädter Kreis
Dank den erwähnten Kontakten zu Arbeiterpriestern in Deutschland hatte ich seit meinem Einstieg in die Druckereiarbeit die Möglichkeit, Teil eines überregionalen Netzwerks zu werden: Halbjährlich trafen sich in Mainz Menschen mit kirchlicher Biografie, welche sich für den Wechsel in einfache Arbeitsverhältnisse entschieden hatten, zum Austausch über ihre alltäglichen Erfahrungen, über «Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art» (wie es die Konzilskonstitution Gaudium et Spes so treffend ins Wort brachte). Automobilarbeiter waren darunter, eine Kollegin berichtete von der Schirmfabrik, andere schilderten die Einsätze als Reinigungskraft, einer arbeitete unter Tage, einer fuhr Taxi, einer führte ein Lebensmittelgeschäft, eine war beim Zirkus usw. – eine Breite und Vielfalt, welche den eigenen Blick weitete und beim Entschlüsseln der gesellschaftlichen Mechanismen behilflich war.
entschlüsseln der gesellschaftlichen Mechanismen
Schon bei meinem Zustieg in den Kreis kamen da nicht nur Priester und Ordensleute zusammen, sondern auch TheologInnen sowie weitere Menschen mit christlichen Wurzeln, denen es mit dem solidarischen Schritt in die Welt abhängig Beschäftigter ernst war. Ungefähr mit dem geografischen Wechsel nach Ilbenstadt (Nähe Frankfurt) ging denn auch einher, dass sich der Kreis «Arbeitergeschwister» zu nennen begann. Zumal er auch längst ökumenisch zusammengesetzt war. Neben dem Austausch über Arbeit und Alltag sind diese Wochenendtreffen immer auch geprägt durch das Hören auf biblische (und andere) Texte, ebenso wichtig das gemeinsame Gedächtnismahl, erinnernd an den, der «den Menschen gleich geworden» ist (wie es im Philipper-Hymnus heisst).
Dank gewachsener Freundschaften nach Frankreich (Elsässer bildeten eine sprachliche Brücke) verstärkte sich die Sensibilität für die europäische und sogar weltweite Dimension dieses «kollektiven Abenteuers».
Jährliche internationale Treffen
In Frankreich war nach dem 2. Vatikanischen Konzil punkto Arbeiterpriester eine neue Dynamik entstanden. Waren es zum Zeitpunkt des Verbots 1954 etwa hundert P.O. gewesen, wuchs die Zahl ab Ende der 1960er-Jahre auf fast tausend. Sie lebten meist in Equipen zusammen, in den Arbeitervierteln, teilweise in Genossenschaftswohnungen, und sie waren auf nationaler Ebene wie vieles in Frankreich recht zentralistisch strukturiert. Regelmässig fanden grosse nationale Versammlungen statt, zu denen auch internationale Gäste eingeladen wurden. In den 1980er-Jahren entstand der Wunsch, den internationalen Austausch nicht bloss als Randerscheinung des französischen Treffens zu pflegen, sondern als eigenständige zusätzliche Ebene.
internationale Dimension der Bewegung
In diese internationale Dimension der Arbeiterpriester-Bewegung konnte ich selber erstmals eintauchen bei einem Treffen zu Pfingsten 1987 in Lyon. Im Unterschied zum deutschsprachigen Kreis waren die anderen nationalen Delegationen sehr priesterlich und daher sehr männlich, aber mich beeindruckten die verschiedenen Kämpen: der Schmied Renzo aus Empoli bei Florenz mit seiner kraftvollen Pranke, der Altstoffsammler Emiliano aus Catalunya, der Zimmermann und Poet Mario aus Bergamo, der belgische Metallarbeiter Maurice, dem immer auch das Dokumentieren wichtig war, und zahlreiche weitere. Für mich wurde es zur Entdeckungsreise durch Europa, weil die internationalen Treffen an verschiedenen Orten stattfanden (nach Lyon z.B. in Torino, Barcelona, Berlin), immer mit «werktätigem Lokalbezug» (so konnten wir roboterisierte Arbeit in einem FIAT-Werk bestaunen und 1992 hinter die Baustellen der Olympischen Spiele blicken, stets unterlegt mit O-Tönen von direktbetroffenen KollegInnen).
insoumis, unbeugsam
Alle drei Jahre waren die «Internationalen» weiterhin Gast bei den Franzosen. Da erlebte ich einmal eine beeindruckende Podiumsveranstaltung mit einer Handvoll der sog. «Insoumis» von 1954. Während damals nämlich etwa die Hälfte der P.O. in den Schoss der Kirche zurückgekehrt war, gewichtete die andere Hälfte die Solidarität mit der Arbeiterklasse stärker und blieb «unbeugsam», insoumis – ein Begriff, der interessanterweise in der aktuellen politischen Situation Frankreichs mit den Gelbwesten neu auftauchte.
Michel Clévenot hat dieses Zeugnis der Insoumis im Kollektiv der P.O. kaum noch mitbekommen, er hätte aber vermutlich seine Freude daran gehabt. Ich spürte da eine starke Energie der Versöhnung, nachdem die Entscheidung für gegensätzliche Wege Jahrzehnte zuvor sicher manche Verletzung bewirkt hatte (Clévenot hatte denn auch in seiner Sequenz festgehalten, die 95 P.O. seien entzweit und befänden sich in entgegengesetzten Lagern).
Welches sind die Ausbeutungen, die ich erleide? Bei welchen Ausbeutungen bin ich Komplize/Komplizin?
2001 kam es dann zum grossen internationalen Treffen in Strasbourg, an dem nicht bloss Länderdelegationen teilnehmen konnten, sondern fast 500 Arbeiterpriester/Arbeitergeschwister. Ein grosses europäisches Treffen mit Hunderten von Teilnehmenden hat es seither nicht mehr gegeben, die Bewegung ist auch schlicht älter geworden und könnte solches vielleicht gar nicht mehr schultern. Aber die jährlichen internationalen Treffen wurden bis heute fortgeführt. Exemplarisch ein Frageraster 2004: «Welches sind die Ausbeutungen, die ich erleide? Bei welchen Ausbeutungen bin ich Komplize/Komplizin? Mit wem versuche ich, zu verstehen und herauszukommen? Wie leisten wir Widerstand und kämpfen wir? Wie sind wir Zeichen bei all dem?».
Wie weiter?
Nach den Treffen in Manchester 2018 und in der ArbeiterInnen-Bildungsstätte Herzogenrath bei Aachen 2019 soll das Treffen in diesem Jahr in Lille stattfinden. Die Frage der Zukunft und einer Weiterentwicklung des Kreises ist dabei durchaus offen. In Frankreich sind derzeit nur wenige P.O. noch berufstätig, alle andern sind pensioniert (regelmässig vernehme ich zudem von einem Nachruf). Bei den deutschsprachigen Arbeitergeschwistern ist diese Proportion noch ausgeglichener, aber auch bei uns fehlen die jungen Jahrgänge. Wichtiger als das Festhalten von Quantitäten ist für mich allerdings das Festhalten an der eingeschlagenen Spur, obschon das bisweilen durchaus eine radikale Neuorientierung beinhaltet, wenn wie bei mir eine Druckerei einfach dicht macht oder wenn jetzt in der Corona-Krise ein Betrieb gleich Insolvenz erklärt, statt seine Leute mit Kurzarbeit zu halten.
«Lebe so, dass du gefragt wirst»
«Lebe so, dass du gefragt wirst», ist eine Devise der P.O., die mich hoffen lässt. Wenn wir glaubwürdig dranbleiben und Gottes Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellen, werden wir bestimmt als Zeuginnen und Zeugen beigezogen. Schon Clévenot hatte am Ende seines Beitrags einen Türspalt offen gelassen für eine Zukunft der P.O.: «Vielleicht wird es später in veränderter Form noch einmal neue Arbeiterpriester geben.» Ich kann nur bekräftigen: «Es gibt sie!»
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Urs Häner hat katholische Theologie studiert in Luzern, Tübingen und Berlin und danach über 30 Jahre als Hilfsarbeiter in einer Druckerei gearbeitet. Ausserdem engagiert er sich auf verschiedene Weise in seinem Luzerner Wohnquartier Untergrund (Quartiertreffpunkt, sozialgeschichtliche Rundgänge, Basisgruppe).
Zur Website der Arbeitergeschwister geht es hier.
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