In einem Leserbrief kommentiert Bernhard Fresacher (Mainz) den Artikel von Bauer „Gott ist mehr als Religion. Theologie in zunehmend säkularen Zeiten“ sowie die darin verlinkte Blog-Langfassung.
Mit vielen Referenzen, Zitaten und eigenen Überlegungen breitet Christian Bauer einen schwebenden Teppich aus, gehalten von Lesefrüchten, wie zufällig da und dort aufgesammelt, darunter Jan Loffelds Bestseller, der seiner Einschätzung nach noch reifen kann, vor allem mithilfe von Bonhoeffer, Chenu und Certeau. Säkularität, steht da, Multisäkularität sogar, fühle sich zwar gottesfern an, müsse aber gottesnah wahrgenommen werden.
Warum verbirgt sich Gott und lässt dann von Experten erklären, wo und wie er ist?
Es ist viel von „Müssen“ die Rede und davon, wer Gott ist: „Denn nicht die Säkularen müssen sich angesichts zunehmender religiöser Indifferenz ändern, sondern die Christ:innen. Sie müssen ein neues Verhältnis zu ihnen und zu ‚ihrem‘ Gott gewinnen. Denn dieser ist kein tribalisierbarer Stammesgötze, sein universaler Heilswille kennt vielmehr noch ganz andere Wege als den christlichen“. Bauer ruft in kritischer Anknüpfung an Loffelds Überlegungen zur Rettung Gottes angesichts der Anzeige seines Fehlens auf, mit zwei theologisch vertrauten Schachzügen: Gott ist scheinbar abhandengekommen, weil man ihn verkannt hat, und Gott ist genuin in der Form der Abwesenheit anwesend, „auf geheimnisvolle Weise“. Mit ihm ist also gerade dann zu rechnen, wenn er fehlt. Schön für jene, die mit dieser Einsicht ins Geschäft kommen, „stellvertretend“.
Nur: Warum so kompliziert? Warum verbirgt sich Gott und lässt dann von Experten erklären, wo und wie er ist? Wenn es kein Versteckspiel ist, was dann? Aus pädagogischen Gründen? Aus therapeutischen Gründen? Aus soteriologischen Gründen? Auch mit dieser – einer seit der Bibel bewährten, u.a. von Thomas von Aquin bis Karl Rahner geschätzten – Antwort bleiben jene auf dem Markt, die damit handeln, ausgewiesen zum Besseren aller.
Ohne Gott ist die Theologie verloren. Ebenso aber ist sie auf die Religionsgemeinschaft angewiesen, die sich diese leistet
Ich würde erwarten, dass sich die Theologie auch wissenschaftlich über Motive und Widersprüche ihrer Argumentationsfiguren aufklärt. Ohne Gott ist die Theologie verloren. Ebenso aber ist sie auf die Religionsgemeinschaft angewiesen, die sich diese leistet. Wenn sie also aus purem Eigeninteresse Gott auch dort noch finden möchte, wo niemand mehr an ihn glaubt, sollte sie genau darin die Abhängigkeit von ihrer Religionsgemeinschaft nicht verschweigen. Denn mit Beidem sichert sie ihr Überleben. Daraus entspringt der eigenartige Spagat, den viele aktuelle theologische Vorschläge riskieren. Bauer entscheidet sich für einen Appell an die christliche Religionsgemeinschaft, sich Gottes nicht allzu gewiss zu sein und ihn vielmehr – als Chance der Säkularität – bei den anderen aufzuspüren. Theologisch bemüht er dafür zahlreiche prominente Gewährsmänner und Madeleine Delbrêl. Insofern dürfte es nicht allzu klug sein, das Evangelium gegen die Organisation auszuspielen. „Kirche muss in einer umfassenden conversión pastoral besser werden (d.h. sich ‚optimieren‘), weil sie sonst ihren Zweck verfehlt, das Evangelium in den Kontexten ihrer Gegenwart zu leben – und nicht um als Organisation wieder erfolgreich zu werden.“
Dank der Wirksamkeit solcher und anderer kirchlicher Techniken hat die christliche Theologie über Jahrhunderte erstaunliche Früchte getragen.
Der Ruf zur Umkehr gehört zu jenen Techniken zumindest der biblischen und koranischen Religionen, die den Widersprüchlichkeiten der Welt und der Existenz mit weiteren Widersprüchlichkeiten begegnen: Um die Richtung einzuhalten, soll die Richtung geändert werden. Diese Idee bewährt sich nach wie vor, dank der hohen moralischen Gewinne, die sie verspricht – und damit neue Widersprüchlichkeiten erzeugt. Denn Verbesserungen können verschlechtern, was den Vorteil hat, dass wiederum Verbesserungen vorgeschlagen werden können usw., im Übrigen auch praktisch für Organisationsentwicklungs- bzw. -transformationsprozesse. Religionen bewältigen Kontingenz mit weiterer Kontingenz, in kontingenten Ritualen und Formeln: Ekstasen, Fasten, Bußen, Taufen, Segnungen, Wandlungen, Gottesdiensten, Wallfahrten, Sakramenten, Gebeten, Fürbitten u.a. Sie antworten auf Unheimlichkeit mit weiterer Unheimlichkeit, in unheimlichen Gedanken und Gefühlen: Jungfräulicher Empfängnis, Engeln, Dämonen, Auferstehung, Erbsünde, Vorsehung, Jüngstem Gericht, Himmel, Hölle, Fegefeuer u.a.
Dank der Wirksamkeit solcher und anderer kirchlicher Techniken hat die christliche Theologie über Jahrhunderte erstaunliche Früchte getragen, über alle systematischen Traktate hinweg bis zur Pastoraltheologie heute, allegorisch, mystagogisch, scholastisch, neuscholastisch, katechetisch, historisch-kritisch, korrelativ, diakonisch usw. Es sorgen also nicht nur Welt und Existenz mit ihrer Sehnsucht, sondern auch die darin hervorgebrachten eigenen Techniken dafür, dass sie damit niemals fertig werden wird, selbst dann nicht, wenn Gott fehlt. Deshalb gibt es für sie überall Spuren seines Vorübergehens zu entdecken, aus denen wiederum besondere eigene Zeichen gemacht werden können, über die nachgedacht und geschrieben werden kann.