Michael Nixdorf und Steffen Lossau aus Dresden haben den Beitrag von Sonja Strube vom 28.5.2016 zum Anlass für diesen Leserbrief genommen.
Die bisher erschienenen 3 Artikel zum Thema Rechtspopulismus habe ich aufmerksam verfolgt. Insbesondere die Frage von Willibald Sandler möchte ich unterstreichen, zeigt sie doch die praktische Brisanz des Denkens: Wie mit Personen umgehen, die rechtspopulistische Positionen vertreten?
Karl Popper ist nicht nur der Urheber des Theorems „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, sondern auch Gewährsmann für einen kritischen Diskurs. So schreibt er im Aufsatz „Zum Thema Freiheit“ (Alles Leben ist Problemlösen, 160f.), dass die Tugend des echten Rationalisten darin besteht, dass er nicht glaubt, „dass er selbst oder irgendjemand im Besitze der Weisheit ist […]. Man könnte wohl die rationalistische Einstellung folgendermaßen ausdrücken; vielleicht habe ich unrecht, und du hast recht, jedenfalls können wir beide hoffen, nach unserer Diskussion etwas klarer zu sehen als vorher, und jedenfalls können wir beide ja voneinander lernen, solange wir nur nicht vergessen, dass es nicht so sehr darauf ankommt, wer recht behält, als vielmehr, der Wahrheit näherzukommen.“ Mir scheint, dass im guten Eifer für die eigene Sache diese offene und vorurteilslose Haltung im Umgang miteinander verloren gegangen ist. Das generiert und perpetuiert jedoch lediglich ideologisch-exkludierende Verhärtungen und verhindert konstruktive Diskurse.
Sonja Strube wendet sich der Frage des Umgangs mit Rechtspopulisten innerhalb der Kirchgemeinden am Beispiel zweier „Bürgerdialoge“ in einer Dresdener Pfarrei zu. Sie vermisst eine „streitbare kontroverse politische Auseinandersetzung“ und stellt ein Versagen seitens der Initiatoren als auch der Diskussionsleiter fest.
Abgesehen von der Frage, ob Gedächtnisprotokolle eines einzigen Teilnehmers eine ausreichende Quellenbasis für die geäußerten scharfen Urteile bieten, sehe ich weitere Schwachpunkte, die symptomatisch für die Umgangsstrategien mit bestimmten Meinungen sind:
(1) Eine mangelnde Kriteriologie von Begriffen und Urteilen zusammen mit oberflächlicher Wahrnehmung von Aussagen führt von einer Hermeneutik des Verdachts zu einer „Hermeneutik“ der Verdächtigung und Unterstellung. Ein solcher hermeneutischer Zirkel ist nicht nur erkenntnistheoretisch vitiös, sondern auch durch den Übergang ins Ethische moralisch bedenklich, weil er zu einer Abwertung des anderen und damit zur Selbsterhöhung führt, die sich gegen jede Kritik immun gibt.
(2) Es wird unterstellt, dass sich die unterschiedlichen Meinungen in jeder Hinsicht kontradiktorisch gegenüberstehen. Damit lassen sich hochkomplexe Kommunikationssituationen nicht annähernd erfassen. Die Folgen zeigen sich deutlich: doktrinäre Überhöhung der eigenen Ansichten, verbunden mit einer Abwertung des Anderen, den es zu „identifizieren“ i. S. von zu stigmatisieren, zu therapieren und zu isolieren gilt. Dass solches Vorgehen den vielschichtigen Problemen der Gegenwart nicht in Ansätzen gerecht wird und überdies unredlich ist, weil andere der Vorurteilsbildung bezichtigt werden, während die eigenen Urteilsvoraussetzungen unreflektiert bleiben, erleben wir seit gut anderthalb Jahren. Damit dürfen wir uns nicht zufrieden geben.
Karl Rahner hat mich gelehrt, dass man im Dialog inkommensurabler Überzeugungen und Zielsetzungen den Anderen niemals offen oder stillschweigend für dumm oder böse halten darf. Er fordert in auswegloser Lage den „Tutiorismus des Wagnisses“, d.h. das Bemühen um neue Wege, ohne dass das neue Ziel schon feststeht. Er gibt selbstkritisch zu bedenken, dass nicht „jede Rede, die den anderen zu belehren und zu überzeugen sucht ohne Gewaltanwendung, schon ein Dialog [ist] oder eben nicht – Predigt und Propaganda.“ (Über den Dialog in der pluralistischen Gesellschaft, SzT VI, 48f.) Haben auch wir Theologen diese einfachen Wahrheiten vergessen?
Sonja Strube ist zuzustimmen, wenn sie mit Entschiedenheit für einen kritischen Diskurs etwa mit dem Rechtspopulismus plädiert. Aber: inwiefern tragen wir durch unser Denken und Verhalten dazu bei, dass die nuancierenden Zwischenräume eines vielfältigen Weltanschauungsspektrums verloren gehen und Extreme dominieren, weil unthematische Zwischentöne nicht nur kein Gehör finden, sondern schlimmer noch, diese einfachen Schubladen zugeteilt werden, die dann auch noch abgeschlossen werden? Wäre es nicht an der Zeit, die eigenen Vorentscheidungen zu hinterfragen und im Raum der Kirche den Aufbruch zu wagen, ANDERS als bisher mit den so genannten „Feinden der offenen Gesellschaft“ umzugehen?
Sollten wir nicht gerade als Christ(innen)en um ein radikaleres positives Menschenbild ringen und etwa in Bezug auf gesellschaftliche Fragen grundsätzlich zugestehen, dass jeder vernünftige Mensch prinzipiell ethisch zu handeln gewillt ist und ihm das nicht vorschnell absprechen oder Gründe ins Irrationale verschieben, wenn sich die jeweiligen Positionen im kritischen Diskurs als wahrhaftig und anhaltend kontrovers erweisen? Armin Kreiner hat in seinem Aufsatz „Dialog und Wahrheit“ daran erinnert, „dass es so gut wie keine konsensfähigen nicht-trivialen Erkenntnisansprüche gibt, woran sich vermutlich auch in absehbarer Zeit nichts ändern dürfte“ (QD 166, 134).
Es geht um eine anständige Art und Weise der Auseinandersetzung mit unserem Gegenüber, nicht um die Aufforderung zur Kritiklosigkeit gegenüber Irrtum oder Unrecht. Gerade wir Christ(inn)en dürfen uns befähigt wissen, mehr Vertrauen in alle Begegnungen zu setzen, eben auch in jene, die uns erschrecken, die uns unschön oder bedrohlich erscheinen.
Michael Nixdorf und Steffen Lossau, Dresden.