Heinz-Günther Schöttler reagiert mit einem Leserbrief auf den Beitrag „Die Vertrauensfrage steht im Raum“ von Dagmar Mensink vom 25.11.2023.
In ihrem Artikel kritisiert bzw. beklagt Dagmar Mensink mit Recht die doch recht verhaltene Reaktion auf den unvorstellbar brutalen, unmenschlichen Terror der Hamas am 7. Oktober 2023 und erinnert an den Grundsatz, dass die Sicherheit Israels doch deutsche Staatsraison sei. Könnte es nicht sein, dass es gerade die Penetranz ist, mit der der Satz „Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsraison“ in der derzeitigen Diskussion mantrahaft wiederholt wird, die zu jener verhaltenen Reaktion beiträgt? Ich teile zwar nicht die Absolutheit, die in dem Satz von der deutschen Staatsraison zum Ausdruck kommt, stimme aber seiner Intention angesichts des unvergleichlichen Verbrechens Deutschlands an den Jüdinnen und Juden in Europa und der daraus resultierenden bleibenden Verantwortung für ‘uns’ Deutsche zu. Der Satz von der deutschen Staatsraison artikuliert aber nur die Hälfte der Verantwortung, die Deutsche und Deutschland zu tragen haben. Mit der völkerrechtlichen Gründung des Staates Israel durch die UNO 1947/48 sind die Rechte der im damaligen Mandatsgebiet lebenden Palästinenser*innen in den Hintergrund getreten, bereits Ende der 1940er Jahre und im Verlauf der Geschichte immer mehr. Das Land, auf dem der Staat Israel 1947/48 gegründet wurde, war eben nicht unbesiedelt, sondern (auch) die Heimat der dort seit Generationen unter Fremdherrschaft lebenden Palästinenser*innen. Diese dürfen nicht vergessen werden und in dem Konflikt, der seit Gründung des Staates Israel eskalierend andauert, nicht marginalisiert werden. Wenn die Schoa der Anstoß für die Gründung des Staates Israel war, ja: mehr als ein Anstoß: Wenn in der Schoa die besondere Verantwortung Deutschlands für den Staat Israel begründet ist, dann gibt es auch eine besondere deutsche Verantwortung für die Palästinenser*innen, die de facto im weiteren Verlauf der Entwicklung zu (den) Verlierer*innen und auch von den arabischen Staaten im Stich gelassen wurden. Die so viel gelobten „Abraham Accords“ zeigen, dass es keine Lösung des Konfliktes geben kann, ohne die Palästinenser*innen einzubeziehen, die unter der Hamas und anderen terroristischen Organisationen leiden, und das seit Jahrzehnten. Die „Abraham Accords Declaration“ vom 15. September 2020 wurde von arabischen Staaten mit dem Staat Israel über die Köpfe der Palästinenser*innen hinweg unterschrieben – übrigens unter der Mitwirkung der Trump-Regierung – und in den Folgejahren sukzessive in die Tat umgesetzt. Die Palästinenser*innen mussten sich wiederum ausgeschlossen und von den arabischen Staaten im Stich gelassen fühlen.
Ich glaube, dass der Staat Israel nur eine Zukunft hat – und Zukunft muss er haben! –, wenn das Problem, das damals bei seiner Gründung schon nicht gesehen wurde (das sage ich ohne Vorwurf an die UNO), heute umso deutlicher in den Blick kommt. Die terroristischen und kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten seit der Gründung des Staates Israel haben das Problem, das in der Gründung des Staates liegt, ja nur verschärft und nicht auch nur im Entferntesten gelöst. Die derzeitigen schrecklichen gewalttätigen Auseinandersetzungen sind eine weitere unvorstellbare Steigerung in diesem Dauerkonflikt. Wo soll das enden? Die völkerrechtlich verbriefte Verteidigung des Staates Israel löst doch nicht das Problem. Löst eine vollständige Vernichtung der Hamas das Problem? Im Gegenteil! Deshalb habe ich Angst um die Zukunft des Staates Israel! Die Menschen spüren und wissen, dass das Problem komplexer ist als es der wohlfeile und deswegen so inflationär gebrauchte Satz von der deutschen Staatsraison artikuliert, und dass da noch etwas fehlt: nämlich die Palästinenser*innen.
Die permanente Wiederholung des formal richtigen, aber insuffizienten Satzes von der deutschen Staatsraison trägt nicht unerheblich dazu bei, dass die Solidarität mit dem Staat Israel schwindet. Um des Staates Israel willen und seiner existentiellen Bedeutung für Jüdinnen und Juden in aller Welt als ‘Refugium’ muss der Konflikt in seiner geschilderten Komplexität gesehen werden. Die aus der Schoa resultierende Verantwortung ist eine doppelte: dem Staat Israel und den in ihm lebenden Jüdinnen und Juden gegenüber wie auch den Palästinenser*innen gegenüber, ob sie nun im Gaza-Streifen leben, in der okkupierten West Bank, im okkupierten Ost-Jerusalem oder im Staat Israel selbst. Wenn man denn von ‘Staatsraison’ sprechen will – ich bevorzuge diesen Begriff nicht –, dann gilt diese Verantwortung auch in Bezug auf die Palästinenser*innen.
Das bedeutet: Bezüglich der Verantwortung dafür, dass es so viele schreckliche Opfer in diesem Konflikt gibt, muss unterschieden und differenziert werden – auf beiden Seiten, aber im Blick auf die Leiden und die Tode der Opfer darf nicht komparatistisch beurteilt oder segregiert werden. Diese Position ist keine ‘Ja, aber…’-Haltung! Den Konflikt historisch und politisch zu kontextualisieren, von Mitverantwortung und Mitschuld zu sprechen, wie es viele tun, auch Israelis, heißt nicht, den Terror der Hamas zu relativieren.
Für mich als Mensch, der versucht, als Christ zu leben, bedeutet dies in der aktuellen Situation, mit Muslimen, die Teil unserer Gesellschaft sind, das Gespräch zu suchen. Das ist unsere Aufgabe. Was sonst? Wer in dieser Gesellschaft sollte damit anfangen, wenn nicht ‘wir’ Christ*innen. Wenn wir es nicht tun, dann haben wir versagt. Als Christ*innen haben wir in diesem Konflikt eine besondere Verantwortung, verbindet doch die Gestalt Abrahams Juden, Christen und Muslime auf der Ebene ihrer religiösen Identität miteinander – bei weitem tiefer als das Stichwort „Abraham“ in der genannten „Abraham Accords Declaration“ gebraucht (missbraucht?) wird. Der Rekurs auf die Konzilserklärung „Nostra aetate“ muss in der derzeitigen Situation konkret werden, nicht nur im Blick auf das vierte Kapitel „Über die jüdische Religion“, sondern auch im Blick auf das dritte Kapitel „Über die muslimische Religion“. Auch wenn das dritte Kapitel dieser Erklärung nicht erst aus heutiger Sicht insuffizient ist: In der derzeitigen Situation sollte das dritte Kapitel ernstgenommen und könnte konkret fortgeschrieben werden.
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Heinz-Günter Schöttler, Pfatter