Julian B. Müller (Tübingen) reagiert in einem Leserbrief auf den Beitrag von Bernd Hillebrand vom 7.1.2025.
Mit großem Interesse, aber nicht minder großer Irritation habe ich den von Bernd Hillebrand verfassten Beitrag über Fragen der Erlösung und spätmoderne Fitnessbegeisterung gelesen. Dabei bündelt bereits der wegweisende Titel die Problematik auf überaus prägnante Weise.[1]
„Fitness statt Erlösung“ konstruiert ein unnötig kontrastives Gegensatzpaar zweier Größen, die in einem weitaus komplexeren und stärker ambigen Verhältnis zueinanderstehen. Während der Lektüre entstand bei mir der Eindruck, dass in einer Art Schattenboxen ein idealisierter Sparringspartner als Aufhänger dafür dient, die „aufgrund vernachlässigter Verkündigung der Heilsperspektive des Lebens Jesu (vermeintlich) sündenunbewussten sowie (vermeintlich) erlösungsdesinteressierten spätmodernen Menschen“ (B. Hillebrand) symbolisch zu verkörpern. Eine stärker differenzierende sowie abwägende Auseinandersetzung mit dem Phänomen Fitness, die Graustufen zulässt und Ambivalenzen aushält, täte der Debatte meiner Auffassung nach gut. Schließlich wird die einfache Gegenüberstellung von „Fremderlösung durch Jesus“ und „Selbsterlösung durch Sport“ letztlich weder dem Umstand gerecht, dass es sich beim Gym in klassischer Terminologie selbst um einen locus theologicus handelt[2], noch der Tatsache, dass die „Muckibude“ keineswegs als ein Ort der Selbsterlösung fungiert. Zu beiden Punkten möchte ich daher in aller Kürze einige ergänzende Gedanken beifügen.
Beginnend mit letztgenanntem handelt es sich um eine allzu stereotype Darstellung von Fitnessstudios als säkularen Erlösungsanstalten, in denen Menschen ihr Heil in einer Bewahrung von Gesundheit, einer Zunahme an Kraft und/-oder einer Verwirklichung von ästhetischen Schönheitsidealen suchen, wobei menschliche Vulnerabilitäten und Begrenztheiten notwendig kaschiert werden. Diese Zeichnung entspricht jedoch nicht der umfassenden Realität.
Zum einen sind Menschen, die sich für Sport begeistern, ebenso heterogen wie die Beweggründe, die sie zur Bewegung anspornen. Die Spannweite reicht von Bodybuilder*innen, die ein entsprechendes Körperideal erreichen möchten über Powerlifter*innen[3], die sich auf Wettkämpfe im Kraftdreikampf vorbereiten und an Körperfettwerten nur sekundär interessiert sind, Mannschaftssportler*innen, die im Fitnessstudio als Ergänzung zu ihren üblichen Einheiten trainieren, bis hin zu Menschen, die einfach etwas für ihre Gesundheit tun oder das Gym als sozialen Ort der Begegnung aufsuchen, älteren Personen, die sich eine möglichst gute und schmerzfreie Mobilität erhalten wollen und solchen, die sich nach einem schweren Unfall oder einer langwierigen Krankheit ihren Weg zurück ins Leben erkämpfen. Eine simple Gleichsetzung von Fitness mit problematischen Selbstvervollkommnungsanleitungen oder gar Selbstrettungsfantasien verkennt die Pluralität der Menschen und negiert im Letzten leider auch die Bedeutung ihrer grundsätzlichen Leiblichkeit (gilt doch: Wir Menschen haben einen Körper, aber sind ein Leib. Theologisch angeschlossen bedeutet dies, wir haben nicht eine Seele, sondern sind eine).
Zum anderen werden Aspekte der Verwundbarkeit und Endlichkeit in vielen Sportinstituten keineswegs ausgeklammert, sondern vielmehr offen thematisiert und eigens problematisiert. Dass dies im Ganzen nicht in einer von Ambivalenzen freien Art und Weise stattfindet, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sowohl Essstörungen als auch Dysmorphophobien bei exzessiv Sportbegeisterten gehäuft auftreten. Dennoch oder vielmehr gerade deswegen aber gilt, dass es sich bei Vulnerabilität/en, Endlichkeit/en und auch Erlösungsbedürftigkeit/en um explizite Themen im Bereich Fitness handelt, die keineswegs invisibilisiert werden.
Unter anderem durfte ich dies auch selbst in den vergangenen Monaten wiederholt erleben. Seit ich wieder regelmäßig in der Kraft- und Fitnesshalle Tübingen trainiere, habe ich unzählige Gespräche mit Trainingspartner*innen über alle möglichen Probleme abseits der Hantelbank geführt. Vom Beziehungsende über eine schwere, körperliche Verletzung, die die sportliche Karriere gefährdet, ein berufliches Fiasko, die Bewältigung einer verzerrten Körperwahrnehmung bis zum alltäglichen Kampf mit Depressionen – der Smalltalk zwischen den Übungssetzen kippte mehr als einmal in eine existenzielle Gesprächsebene. Das Leben bleibt im Training nicht außen vor. Dabei begegnete mir in nicht einem Fall jemand, der glaubt, sich durch Fitness auf eine wie auch immer geartete Weise selbst befreien zu können. Sehr wohl aber erweist sich die Krafthalle als ein Ort reflexiver Bearbeitung sowie heilsamer Begegnung. Das Krafttraining erweist sich daher für viele als praktikable Coping-Strategie, die keineswegs als simple Selbsterlösung zu brandmarken ist.[4] Es ist daher nicht frei von Ironie, dass es ausgerechnet die von Bernd Hillebrand im Artikel zurecht so stark gemachten Erfahrungen heilsamer Begegnung und eines bedingungslosen Angenommen-seins sind, die ich an diesem Ort wiederholt machen durfte – mehr im Übrigen, als in so mancher Kirchengemeinde. G*tt, so könnte man es vielleicht bündeln, ereignet sich schließlich auch im Kraftraum.
Abschließen möchte ich mit dem Kommentar einer guten Freundin, die selbst katholische Theologin ist. Nach Lektüre von Hillebrands Beitrag schrieb sie mir, dass sie die Konstruktion des Konnexes von Sünde-Erlösung-Fitness sehr irritierend finde und dass sie selbst lange Zeit unter einem schlechten Gewissen gelitten habe, als sie anfing Yoga zu betreiben. Ihre Worte hallen in mir noch nach.
Literaturverzeichnis
Müller, Julian Benjamin: Die Kraft- und Fitnesshalle Tübingen als theologischer Ort. Von tragender Gemeinschaft, Leiblichkeit und anderen adventlichen Dingen. https://y-nachten.de/2024/12/die-kraft-und-fitnesshalle-tuebingen-als-theologischer-ort-von-tragender-gemeinschaft-leiblichkeit-und-anderen-adventlichen-dingen/. 08.01.2025.
Rossi, Fabricio Eduardo, Dos Santos, Gustavo Gusmão, Rossi, Priscila Almeida Queiroz, Stubbs, Brendon, Barreto Schuch, Felipe und Neves, Lucas Melo: Strength training has antidepressant effects in people with depression or depressive symptoms but no other severe diseases: A systematic review with meta-analysis, in: Psychiatry research 334 (2024).
[1] Dies ist unabhängig davon der Fall, ob der Titel von Herrn Hillebrand selbst stammt oder das Produkt der Redaktion ist, da er die zugrundeliegende binäre Logik des Textes treffend einfängt.
[2] Meine diesbezüglichen Eindrücke habe ich in einem Beitrag auf y-nachten festgehalten, der weitaus stärker auf die positiven Elemente abzielt. Julian Benjamin Müller: Die Kraft- und Fitnesshalle Tübingen als theologischer Ort. Von tragender Gemeinschaft, Leiblichkeit und anderen adventlichen Dingen. https://y-nachten.de/2024/12/die-kraft-und-fitnesshalle-tuebingen-als-theologischer-ort-von-tragender-gemeinschaft-leiblichkeit-und-anderen-adventlichen-dingen/. 08.01.2025.
[3] Powerlifter*innen trainieren für den wettkampfbasierten Kraftdreikampf, der sich aus den Disziplinen Bankdrücken, Kniebeugen und Kreuzheben zusammensetzt.
[4] Es gibt mittlerweile eine gute Datenbasis, welche die antidepressive Wirkung von Sport nahelegt. Exemplarisch: Fabricio Eduardo Rossi, Gustavo Gusmão Dos Santos, Priscila Almeida Queiroz Rossi, Brendon Stubbs, Felipe Barreto Schuch und Lucas Melo Neves: Strength training has antidepressant effects in people with depression or depressive symptoms but no other severe diseases: A systematic review with meta-analysis, in: Psychiatry research 334 (2024).
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Julian Benjamin Müller, Doktorand bei Prof. Dr. Schüßler in Praktischer Theologie in Tübingen.
Beitragsbild: Fabiano Silva auf Pixabay