Andreas Tyroller beschreibt Erfahrungen als Nikolaus, in Resonanz auf den Beitrag „Gnade dir, der Nikolaus kommt!„.
Herr Prof. Dr. Hans Mendl spricht mir ganz aus der Seele mit seinem Artikel „Gnade Dir Gott, der Nikolaus kommt!“. Das, was er theologisch reflektiert, habe ich erlebt und praktisch umsetzen dürfen, davon will ich hier berichten und ebenso „Theologie“ betreiben, also „von Gott erzählen“:
Wenn auch in anderen Teilen Deutschlands der Nikolaus ein lieber Mann ist (vgl. die anderen Leser:innenbriefe), im katholischen Bayern ist das mitunter noch anders. Ich habe mich als Kind immer vor dem Nikolaus gefürchtet, war meistens doch ein Krampus dabei und mir wurde erklärt, dass der Kinder, die nicht brav sind, mitnimmt, durch die Wurstmaschine dreht und Weißwürste daraus macht. Manche Kinder bewaffneten sich sogar mit einem Messer um dann „den Sack aufschneiden zu können“! Meine erste Bitte daher: Werft den widerlichen Krampus hinaus, der hat bei Kindern wirklich nichts zu suchen!
Mir wurde erklärt, dass der Krampus Kinder, die nicht brav sind, mitnimmt und durch die Wurstmaschine dreht.
Meine erste Lektion: Wandlung!
Meine Nikolauskarriere begann, als ich 17 Jahre alt war: Ich war ein hochgeschossener, schlaksiger Gymnasiast und wurde gebeten bei einer Familienfeier „den Nikolaus zu machen“. Was ich nicht wusste, war, dass diese Feier eine lange Familientradition hatte und dabei die gesamte Großfamilie mit Enkel, Tanten, Onkel, Neffen und Nichten geladen war. Ehrlich gesagt, war ich völlig überfordert. Am Ende der Feier nahm mich der Familienvater beiseite und erklärte mir, dass ich als Nikolaus immer ganz Nikolaus werden müsste: Ich muss mich verwandeln, ich darf nicht mehr ich sein, der als Nikolaus verkleidet ist, sondern ich muss mich ganz in den Heilige Nikolaus verwandeln. Sankt Nikolaus muss leibhaftig im Raum stehen. Diese Lektion habe ich mir gemerkt!
Meine zweite Lektion: Bedingungslos barmherzig und liebevoll
25 Jahre später wurde ich in der Pfarrei gebeten, wieder „den Nikolaus zu machen“, und zu den Familien zu gehen. Das machte ich gerne: Meine erste Lektion im Gedächtnis, verwandelte ich mich in St. Nikolaus und füllte mit meiner heiligen Präsenz die Wohnzimmer aus, wo ich Kinder tadelte, mir Gedichte anhörte und Geschenke verteilte, „weil sie ja so brav waren“.
Ich füllte mit meiner heiligen Präsenz die Wohnzimmer aus, wo ich Kinder tadelte, mir Gedichte anhörte und Geschenke verteilte, „weil sie ja so brav waren“.
In diesem Jahr hatte ich aber noch ein besonderes Erlebnis: Ich wurde von einer Familienhelferin gebeten, eine Familie im sozialen Brennpunkt zu besuchen. Eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern, ca. vier, sechs und acht Jahre alt. Hier wurde vorweg abgemacht, dass ich über die Kinder nur Positives sagen dürfe, sie würden von der überforderten Mutter oft genug geschimpft. Unbekümmert und gerne übernahm ich diese Aufgabe. Der Sohn (8 Jahre) öffnete mir die Tür, sah mich und rannte in Panik schreiend davon. Ich dachte, der sei nur ein bisschen überdreht und die Mutter bat mich herein. Ich ging würdevoll ins Wohnzimmer, die Kinder aber stoben auseinander und schrien, als wäre ein blutrünstiger Wolf hereingekommen! Der Sohn versuchte, völlig hilflos, sich hinter einer hüfthohen Kommode an der Wand zu verstecken, brüllte, seine Schwestern flohen zur Familienhelferin und brüllten genauso. Chaos – Panik – Überfall: Ein Kampf um Leben und Tod! Es war nichts gespielt, ich, besser gesagt, der Heilige Nikolaus löste das blanke Entsetzen aus!
Wir brauchten ca. 5 Minuten, die Kinder soweit zu beruhigen, dass die Familienhelferin sagen konnte: „Der Hl. Nikolaus will uns eine Geschichte erzählen!“ Das war aber mal das Wirken des Heiligen Geistes! Ohne uns abzusprechen hatte ich mir eine Geschichte ausgedacht, in der der Heilige Nikolaus nicht als unerreichbarer heiliger Superman erscheint, sondern eine, die ihn auf Augenhöhe zu den Kindern bringt: Ich fragte, ob ich kurz hereinkommen dürfe, mich fröre es so in den Fingern, weil ich seit drei Stunden durch den Ort irre und die Kinder nicht fände, die ich besuchen wolle. Meine Engel wären wieder mal recht g‘schlampert gewesen und hätten den Zettel mit der Adresse verloren. Jetzt hätte ich nur die Namen der drei Kinder. Ich nannte die Namen, natürlich ihre Namen, und fragte ob sie die Kinder kennen würden. Natürlich war ich hier richtig und das erste Mal sah ich etwas wie Hoffnung in den Augen der Kinder aufleuchten.
… dass der Heilige Nikolaus einer ist, der immer zu ihnen steht, egal was passiert.
Ich kramte mein goldenes Buch hervor und fand dort, wie besprochen, nur Gutes über die Kinder. Die Kinder fassten Zutrauen und wollten mir dann schließlich alles zeigen, was sie hatten, vom Fahrrad bis zur Puppe! Natürlich gab es Geschenke und sogar eines für die Mutter. Ich glaube ihre Augen leuchteten am meisten! Hinterher fragte ich die Familienhelferin, was hier los gewesen sei und ob wir Kinder so in Panik versetzen dürften? Sie erklärte mir, die Mutter hatte den Kindern mit dem Nikolaus Angst gemacht und sie waren in Panik, weil sie tatsächlich glaubten, ich würde sie mitnehmen, daher der „Kampf auf Leben und Tod!“ Aber sie meinte, diesen Kindern werde nie mehr jemand mit dem Heiligen Nikolaus Angst machen können, sie hätten erfahren, dass der Heilige Nikolaus einer ist, der immer zu ihnen steht, egal was passiert.
Ich hatte meine zweite Lektion gelernt: Der Nikolaus steht immer und unverbrüchlich auf der Seite des Schwächeren: Bedingungslos barmherzig und liebevoll!
Meine dritte Lektion: Bedingungslose Liebe? Unerwünscht!
Diese Erkenntnis versuchte ich in den „normalen“ Familien umzusetzen. Der Erfolg war niederschmetternd! Anstelle die Kinder zu tadeln, fragte ich nach, was denn die Ursache des Fehlverhaltens sei.
Ein Beispiel: Ein Mädchen (1. Schulklasse), will abends nicht ins Bett gehen. Ich sollte also schimpfen und sagen, dass das Kind früher ins Bett gehen muss. Die Mutter mir wörtlich aufgeschrieben, was ich zu sagen hatte! Also sagte ich, ich würde im goldenen Buch lesen, dass sie (das Mädchen) immer so spät ins Bett gehe und ich fragte, warum denn das so sei? Das Mädchen antwortete, sie könne doch nicht ins Bett gehen, ohne dem Papa erzählt zu haben, was denn den ganzen Tag alles in der Schule und Zuhause passiert sei! Und der Papa komme immer so spät nach Hause! Komme er früher, werde sie auch früher ins Bett gehen! Kann ein Kind eigentlich noch schöner ausdrücken, wie wichtig ihm der Papa ist und wie gern es ihn mag? Ich schimpfte also den Papa, dass er in Zukunft früher heimkommen solle, er würde zuhause gebraucht! Umsonst, der Vater hatte es nämlich nicht einmal nötig, wenigstens am Nikolausabend anwesend zu sein! Schließlich sprang die Mutter auf, nahm mir das goldene Buch aus der Hand baute sich vor der Tochter auf, erhob den Zeigefinger und mahnte die Tochter: „Jetzt hast Du es gehört: Der Heilige Nikolaus hat gesagt, dass Du früher ins Bett gehen musst!“ Oh mei! Selbst ich, verwandelt in den Heilige Nikolaus, war hier ratlos. Mit einem aufmunternden Wort und einem Augenzwinkern verabschiedete ich mich von dem Kind.
Ich schimpfte also den Papa, dass er in Zukunft früher heimkommen solle, er würde zuhause gebraucht!
Als ich dasselbe Verfahren in anderen Familien anwenden wollte, rüffelte mich sogar einer der Großväter vor versammelter Mannschaft: „Das ist kein g‘scheiter Nikolaus, der schimpft nicht richtig!“ „Nichts ist schwieriger, als Traditionen zu ändern!“ schreibt Professor Mendl, wie wahr!
„Das ist kein g‘scheiter Nikolaus, der schimpft nicht richtig!“
Nachdem ich schließlich woanders einem zweijährigen Kind den Schuller abnehmen sollte und es zu ermahnen hatte, doch nicht mehr im Bett der Eltern zu schlafen, verweigerte ich schlicht solch unmenschliche Aufträge: Ich gab die Familienbesuche auf. Hier wären mir die Tipps des Prof. Dr. Hans Mendl sehr recht gewesen.
Meine vierte Lektion: Erwachsene freuen sich mehr als Kinder!
Die Krankenhausseelsorgerin bat mich, mit ihr durchs Krankenhaus zu gehen. Vor Jahren war ich selbst auch mal um die Nikolauszeit im Krankenhaus eingeliefert und bekam einen Nikolausbesuch: Das war wunderbar! Nach und nach entwickelten wir gemeinsam ein Konzept: Wir besuchen Patienten und Personal. Ich trete vor die Person, stelle mich vor und erkläre, dass ich einen Gruß aus der ewigen Liebe brächte. „Ich habe Ihnen was mitgebracht: Den Segen des allmächtigen und liebenden Gottes.“ Dann segne ich feierlich jede und jeden einzelnen, wende mich dabei persönlich jeder und jedem zu und baue Blickkontakt auf. Damit der Segen anhält, verschenke ich Äpfel und Mandarinen. Zum Abschluss wünsche ich einen besinnlichen Advent und frohe Weihnachten.
Alle Patienten und das gesamte Personal werden gesegnet, quer durch alle Religionen! Alle lassen sich segnen, obwohl ja sicher auf viele Menschen dabei sind, die aus der Kirche ausgetreten sind. Alle halten kurz inne, alle freuen sich, jung wie alt, fromme wie unfromme! Bei türkischstämmigen Menschen freue ich mich, jemand aus „meiner Heimat“ zu treffen und alle türkischstämmigen wissen, dass die Heimat des Heiligen Nikolaus in der Türkei liegt und sie sind stolz darauf!
Alle halten kurz inne, alle freuen sich, jung wie alt, fromme wie unfromme!
Es kommt immer wieder zu berührenden Szenen: Wenn gestandene Männer in Tränen ausbrechen, „weil jetzt auch endlich mal der Nikolaus zu ihnen kommt“. Als sie Kind waren, ist er nämlich nie gekommen und sie hätten es sich so gewünscht. Oder wenn völlig apathische ältere Patienten auf einmal mit den Augen strahlen oder mit dem Mund ein stimmloses „Danke“ formulieren, weil sie den Nikolaus erkennen.
Oft reagieren die Menschen erschrocken: „Ich war aber nicht brav!“ Das kontere ich dann mit so etwas wie: „Ich komme vom All-Erbarmer, aus der ewigen Liebe! Ich komme nicht zum Schimpfen, ich will ihnen was schenken!“ Dann macht sich immer Entspannung breit.
„Ich komme vom All-Erbarmer, aus der ewigen Liebe! Ich komme nicht zum Schimpfen, ich will ihnen was schenken!“
Ausnahmslos alle lassen wir lächelnd zurück! Mir kommt es immer vor, als würden wir als frischer lieblicher und wärmender Hauch mal kurz durchs Krankenhaus fegen und husch, schon sind wir wieder weiter.
Prof. Dr. Mendl formuliert das theologisch: „Sankt Nikolaus ist als Heiliger im Kontext der adventlichen Vorbereitung auf Weihnachten ‚eigentlich‘ die Personifizierung der theologischen Aussage: ‚Euch wird (in Jesus Christus) das Heil geschenkt‘: Eine mystische, ehrerbietende Gestalt der Vergangenheit mit prächtigem Gewand und langem Rauschebart, mit zahlreichen Legenden ausgeschmückt, der als hoffnungsfrohes eschatologisches Blitzlicht für die Erlösung durch und die Gemeinschaft mit Gott in die Gegenwart hineinreicht.“ Und dabei segne ich und segne ich und mein Akku wird nicht leer, es ist als würde ich aus einem unendlichen Füllhorn schöpfen dürfen. Nein, natürlich nicht ich segne, sondern der heilige Bischof Nikolaus segnet und er bringt „Charis“: „Freude, Wohlgefallen, Freundlichkeit, Lieblichkeit, Geschenke und Dankbarkeit!“
Den Tipps von Prof. Dr. Hans Mendl, die ich gerne um Jahre früher gehabt hätte, möchte ich noch folgendes hinzufügen: Verwandelt euch in den Hl. Nikolaus und besucht Erwachsene, die es nicht erwarten, die sind euch am meisten dankbar!
Andreas Tyroller aus Schrobenhausen (im katholischen Bayern)