Christoph Hammer unterscheidet in seiner Reaktion auf Jan Hendrik Herbst eine „cancel culture“ von einer „call-out culture“ und weist auf mögliche Folgen hin, wenn es über die Empörung hinausgeht.
Wenn auch Jan-Hendrik Herbst berechtigterweise die „Empörung über Empörung“ kritisiert, sollte man meines Erachtens aber nicht nur den inhaltlichen Diskurs betrachten, sondern auch die praktischen Auswirkungen. Es mag tatsächlich sein, dass sich die Kritik an einer „cancel culture“ oft so verhält, wie es einer „cancel culture“ vorgeworfen wird, und es gibt sicher viele Dinge, die man an den Thesen von Cornelia Koppetsch oder Achille Mbembe kritisieren kann und vermutlich auch sollte. Etwas Anderes ist es aber, wenn eine derartige Kritik zum politischen Machtinstrument wird.
Ich denke deswegen, dass man differenzieren sollte zwischen reiner „call-out culture“ („Empörungskultur“) auf der einen Seite, die bei aller Kritikwürdigkeit meines Erachtens unter freie Meinungsäußerung fällt, und „cancel culture“ auf der anderen Seite. Das Problem beginnt meiner Meinung nach eben dann, wenn die Empörung über eine Person zum Versuch wird, diese Person in ihrer Redefreiheit zu hindern.
Das Problem beginnt, wenn die Empörung die Redefreiheit zu hindern sucht.
Auch bei mir an der Universität Wien gibt es mittlerweile solche Versuche, auch wenn sie glücklicherweise meist erfolglos geblieben sind. Gelungen ist es aber trotzdem zumindest einmal, nämlich beim ehemaligen Black-Panther-Aktivisten Dhoruba bin Wahad – wegen dessen Nähe zur BDS-Bewegung. In diesem Fall schien offenbar auch Liberalen die politische Ablehnung des Vortragenden wichtiger zu sein als dessen akademische Freiheit. Hier handelte es sich eben nicht mehr nur um eine reine Imagination, sondern um ein tatsächliches Beispiel dafür, was passieren kann, wenn „cancel culture“ eine Mehrheit der EntscheidungsträgerInnen hinter sich hat, wohl auch bedingt durch die Dominanz „antideutscher“ Positionen innerhalb der studentischen Universitätsvertretung bei gleichzeitiger Marginalisierung von „antiimperialistischen“ Positionen. Der Vorwurf, dass „bestimmte Positionen als unmoralisch deklariert und aus dem Diskurs ausgeschlossen“ werden, scheint im Fall von Dhoruba bin Wahad eben tatsächlich zuzutreffen.
die politische Ablehnung des Vortragenden wichtiger als dessen akademische Freiheit?
Vielleicht mögen die vergleichsweise erfolglosen Angriffe gegen den deutschnationalen Historiker Lothar Höbelt tatsächlich das Aufbegehren einer lauten Minderheit sein, ganz zu schweigen von den Forderungen des FPÖ-nahen RFS, sogenannte „Linksextreme“ wie Ali Rami oder Thomas Schmidinger von der Universität zu entlassen – aber völlig haltlos ist die „Kritik eines angeblich durch politische Korrektheit blockierten Wissenschaftsbetriebes“ sicherlich nicht.
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Christoph Hammer, Student der vergleichenden Religionswissenschaft an der Universität Wien.
Der Leserbrief bezieht sich auf diesen Beitrag von Jan Hendrik Herbst:
Akademische ‚Cancel culture‘? Zum Vorwurf einer politisch korrekten Wissenschaft