Stephan Schmid-Keiser äußert seine Gedanken zum Beitrag „Körperlicher Entzug“ von Judith Hahn in folgendem Leserbrief.
Am Ende ihrer Situationsanalyse betont Judith Hahn den Pandemieeffekt des „kalten Liturgieentzugs“ auf Katholik*innen. Auch habe sich deren Unbehagen verstärkt, mit ihrer Präsenz in „amtlichen Gottesdiensten … zu Symbolen einer sie „befremdenden Ordnung“ gemacht zu werden. Darum wählten sie schliesslich den dauerhaften Entzug.
Judith Hahn hebt als Professorin für Kirchenrecht die Rolle der in Gottesdiensten präsenten Gläubigen hervor. Für nicht wenige unter ihnen sei es wichtig geworden, zum „wirksamsten Mittel“ zu greifen, sodass sie ihren „eigenen Körper nicht länger in den Kreislauf der Reinstitutionalisierung amtlicher Kirchenvorstellungen“ einbinden müssen. So plausibel diese ernüchternden Feststellungen sind, so deutlich sind die in der Analyse vorgebrachten Argumente auf der Ebene eines weiterhin Gottesdienste mitfeiernden Subjekts vertiefter zu bedenken. Als Mitfeiernder werde ich mit einer „hierarchischen Dualisierung“ in der Feiergemeinde konfrontiert, die nur eingeschränkt meine Mitgestaltung des rituellen Geschehens zulässt. Dies kann mich zum „radikalen Selbstausschluss“ von Gläubigen aus bzw. zu einem „dauerhaften Entzug“ von dieser Ritualwelt führen. Diese ritualtheoretische Argumentation benennt meines Erachtens nur die eine Seite der Medaille.
Ekklesiologische Sackgasse
Aus dem Wege geräumt sind jene Probleme nicht, die uns seit den Konzilstagen (1962-1965) auf einer praktisch relevanten Ebene gestellt sind und – ja – auch „amtlichen Kirchenvorstellungen“ entspringen, und es zudem verunmöglichen, aus einer eigentlichen ekklesiologischen Sackgasse zu gelangen. Tatsächlich ist eine allein an der Ausübung des Dienstamtes – dem sacerdotium ministeriale – festgemachte Ekklesiologie problematisch. Diesem vollständig ebenbürtig ist das in Lumen Gentium 10 angeführte sacerdotium commune nicht. Die Passage im Konzilstext selbst lautet (man beachte die Reihenfolge!): „Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen aber und das Priestertum des Dienstes, das heisst das hierarchische Priestertum, unterscheiden sich zwar dem Wesen und nicht bloss dem Grade nach. Dennoch sind sie einander zugeordnet: das eine wie das andere nämlich nimmt je auf besondere Weise am Priestertum Christi teil. Der Amtspriester nämlich bildet kraft seiner heiligen Gewalt, die er innehat, das priesterliche Volk heran und leitet es; er vollzieht in der Person Christi das eucharistische Opfer und bringt es im Namen des ganzen Volkes Gott dar; die Gläubigen hingegen wirken kraft ihres königlichen Priestertums an der eucharistischen Darbringung mit und üben ihr Priestertum aus im Empfang der Sakramente, im Gebet, in der Danksagung, im Zeugnis eines heiligen Lebens, durch Selbstverleugnung und tätige Liebe.“
Missverhältnis blockiert den Sozialkörper der Kirche
Die zitierte Stelle enthält eine jener vielen Kompromissformeln des letzten Konzils, die ein zukunftsgerichtetes Verständnis eines von allen Anwesenden gleichzeitig zelebrierten Gottesdienstes ohne Überhöhung des aristokratisch-monarchischen „sacerdotium“ blockieren. Einmal mehr muss ich darum die gewichtige Sicht von Yves Congar OP aus jenen Jahren in Erinnerung rufen. Historisch sensibel blickte er auf die christliche Gemeinschaft als integrales Subjekt der liturgischen Aktion. Nach Congar erfolgte in der karolingischen Epoche der Umschlag vom ehemals korporativen Verständnis der liturgischen Versammlung zur Kirchenschau, die in der Rolle des allein Christus repräsentierenden Priesters gipfelte. Definitiv seit dem Tridentinum fokussierte die Entwicklung auf die alleinige (auch sprachlich definierte) Konsekrationsvollmacht des Liturgievorsitzenden. Congar zielte auf die Geschichte der Ekklesiologie „sous l’angle du destin du schème corpus-caput, corps-tête“. Das Schicksal des Bezugspaars „Körper/Leib-Haupt“ lag für ihn darin, dass der Begriff „caput“ oft den Begriff „corpus“ absorbiert habe. Congars Frage beschämt darum bis in unsere Tage: „Peut-être a-t-on commencé de surmonter cet abus séculaire?“ Dieses jahrhundertehalte Missverhältnis belastet den ganzen Sozialkörper der Kirche.[1] Hat man – so gesehen – die Sicht von Congar verdrängt und damit den «dauerhaften Entzug» der «eigenen Körper» der von ihrer Taufe und Firmung an in den Leib Christi integrierten Gläubigen sträflich provoziert? Womit die institutionell enggeführte Kirchenvorstellung bis in unsere Tage zementiert bleibt – verschärft noch durch die durch Missbräuche geschädigte Kirchenwelt.[2]
Sakramente sind Handlungen – zu gemeinsamem Tun bestimmt
Ein weiterer Einwand zu einer ritual- und normtheoretisch basierten Diskussion gottesdienstlicher Versammlungen soll zudem auf die Verknüpfung zweier Erkenntnisebenen aufmerksam machen. Diese vermisse ich im Text von Judith Hahn. Zugegeben: Bei der Einführung in das neu konzipierte Feiern hat sich ein bestimmter intellektueller Zug der gottesdienstlichen Versammlungen bemächtigt. Mir selbst als Nicht-Ordinierter lag während der beruflichen Praxis daran, im Zusammenwirken mit Ordinierten und allen Mitwirkenden Gegensteuer zu geben. Und so die Umsetzung dessen zu realisieren, was etwa Andrea Grillo zum Zusammenspiel der theologischen Disziplinen, die vom Gottesdienst handeln, auf den Punkt brachte. Seine zentrale Aussage aus dem Jahre 2000 lautet: «Die Sakramente sind nicht Zeichen, die zum Lesen bestimmt sind, sondern Handlungen, die zum Tun bestimmt sind, sie sind sozusagen keine ‚-logie‘, sondern eine ‚-urgie‘.»[3] Für Grillo vermitteln die Sakramente zwei Ebenen des Erkennens. Sie tragen in sich zum einen die – ritualtheoretisch wichtige – Ebene des Erkennens, den „intellectus ritus“. Damit unabdingbar verbunden ist nun aber die für den Mitvollzug andere wesentliche Weise fühlenden Erkennens, der „intellectus fidei“. M. a. W. ist im Vollzug einer Feier des Glaubens das Ritus-Element, das zudem nicht vom Prinzip aufgeteilter Rollen absehen kann, nicht allein hervorzuheben. Mit dem in meinen Augen fühlenden Erkennen aller hier versammelten Gläubigen ist die Grundlage einer angemessenen, genügsamen bzw. schwachen Ekklesiologie gelegt. Diese müsste jedoch, um den Mitvollzug der Feiern attraktiver zu gestalten, erst noch neu entwickelt werden.
Die Orte des Theologietreibens haben gewechselt
Oder nochmals mit Schlüsselgedanken von Yves Congar über „Die Theologen, das Pastoral-Konzil und die Theologie“, mit welchen er ein „trinitarisches Modell“ der Kirche forderte. Nicht bloss „paternal“, was zu patriarchalisch-paternalistisch geprägter Autorität führt. Nicht bloss „christologisch“, was die pyramidenhaft-klerikale Sicht betont. Sondern ein „pneumatologisches“ Modell, das „die Beteiligung aller Christen und Christinnen am Aufbau des Leibes Christi und ein Regime von synodalem Typus (Räte usw.) grundlegt“. Congar hielt sich an Paul VI., welcher am 6. Juni 1973 zum Ausdruck brachte: „Auf die Christologie und zumal die Ekklesiologie des Konzils müssen ein neues Studium und ein neuer Kult des Heiligen Geistes folgen als unerlässliche Ergänzung der Lehre des Konzils.“ In den Augen Congars befreiten historische Arbeiten vom „Bleigewicht der Vergangenheit“. In seinem Rückblick auf das Konzil war dieses in mancher Hinsicht „auf halbem Weg stehen geblieben“. Congar engagierte sich in der später verbotenen Bewegung der Arbeitspriester. In der Folge würde er sich heute engagieren für ein Aufbrechen vor Ort, bei der Not der Menschen und ihrem eigenen Potential. Und er sah 20 Jahre nach dem Konzil eine Ortsveränderung der Theologie: „Die Orte des Theologietreibens haben gewechselt: Es sind nicht mehr nur die sogenannten theologischen Fakultäten (sic!/SSK). Die Laien halten weitgehend Einzug, die Frauen sind nach und nach auch dabei. Aus all dem Gesagten erhellt, dass das Konzil nicht ein Abschluss, sondern eine Etappe ist“.[4] Inwieweit dies nicht nur primär jurisdiktionell erkannt ist, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls wird damit der weltweite Prozess des synodalen Weges zur grössten Herausforderung der neueren Kirchengeschichte.
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[1] Yves Congar: L’Ecclesia ou communauté chrétienne, sujet intégral de l’action liturgique. In: J.-P. Jossua / Y. Congar: La Liturgie après Vatican II. Bilans, études, prospective. Paris, 1967, 241–282, 276.
[2] Vgl. Stephan Schmid-Keiser: Hindernislauf im Gottesvolk als spirituelle Herausforderung, in: SKZ 180 (2012) 659 f.
[3] Andrea Grillo in seinem Aufsatz: «Intellectus fidei» und «Intellectus ritus». Die überraschende Konvergenz von Liturgietheologie, Sakramententheologie und Fundamentaltheologie, in: Liturgisches Jahrbuch 50 (2000) Heft 3, 143-165, 144.
[4] Yves Congar: Die Theologen, das Pastoral-Konzil und die Theologie, in: Diakonia 13 (1982) 364-376, 367 f., 376.