In ihrem Beitrag schreibt Lia Alessandro «Die gegenwärtige Situation der sogenannten Kirchenkrise zeigt auf, dass grundlegende Strukturproblematiken vorherrschen. Innerkirchliche Partizipationsbestrebungen machen dabei deutlich: wie keine andere Religion sticht die Katholische Kirche aktuell durch den Grad ihrer organisatorischen Hierarchisierung und Zentralisierung hervor.» Dazu folgende Gedanken:
Die gegenwärtige Situation ist viel mehr als eine «sogenannte Kirchenkrise». Die christlichen Kirchen stecken als Institutionen in einem epochalen Umbruch. Die letzten Jahrzehnte kam es zum vermehrt markanten Auseinanderdriften von Lebenswelt und Kirchenwelt, die nicht allein auf «organisatorische Hierarchisierung und Zentralisierung» zurückzuführen sind. Obwohl der von Hubertus Halbfas als Traditionsbruch am Ende der überlieferten Kirchengestalt bezeichnete Zustand endgültig sicht- und fühlbar wird, kann auch von einem Neubeginn ausgegangen werden. Sein Kernsatz zur «Binnenorientierung» der Kirche ertönte wie ein Widerhall des Unverständnisses unter Menschen der Gegenwart, denen wir in der Seelsorge begegnen: «Man denkt, spricht und amtiert auf einer Ebene, auf der sich das Leben nicht mehr bewegt.»
Das Auseinanderdriften von Lebenswelt und Kirchenwelt wurde auch in den jüngsten Tagen mehr als deutlich. Die posthum bekannt gewordene Entscheidung des ehemaligen Bischofs von Chur, Vitus Huonder, ist für die jüngere Geschichte des Katholizismus in der Schweiz signifikant. Sein letzter Wille wird mit der Beisetzung seiner sterblichen Überreste in der Nähe des Grabes von Erzbischof Lefebvre in Ecône (Wallis) vollzogen werden. Dieser markante Wille wird von jenen verstanden werden, die dem Denken des vatikan-kritischen und exkommunizierten Marcel Lefebvre je schon nahe standen. Von der Vielzahl jener aber, die dem Zweite Vatikanische Konzil verbunden bleiben, wird das Faktum wie ein spiritueller Salto Mortale empfunden werden.
Ähnliche Winkelzüge fern von der Lebenswelt der Menschen vollzogen sich vor nun bald 40 Jahren auf der Ebene der Kirchenführung. Johannes Vonderach hatte 1988 auf Wolfgang Haas gesetzt. Schliesslich liess es Johannes Paul II zu, diesen zum Ko-Adjutor mit Nachfolgerecht zu ernennen. In wacher Erinnerung an jene Tage ist mir eine Begegnung mit einem Menschen, der sich selbst nach dem Konzil wie viele andere für eine weltoffene und entklerikalisierte Kirche eingesetzt hatte.
Im Traum – erzählte mir dieser – sei er auf einen Hügel gestiegen, auf dem erst noch majestätisch eine Kirche stand. Als er oben ankam, stand sie kurz vor dem vollständigen Zusammenbruch. Er sei zum Pfarrhaus geeilt, um wenigstens dort in Sicherheit zu sein, denn mit jenen, die dort wohnten, hatte ihn sein Engagement verbunden. Wenige Zeit danach habe einer seiner ehemaligen Berater Zugang zum Pfarrhaus erbeten, da er seine Aushilfe anbieten wollte. Der Träumer aber meinte, er müsse nun einen Stock höher zu einem Seminar, das dort ein Theologieprofessor von Format durchführe. Kaum oben angekommen, verabschiedete er sich aus diesem Seminar, und sagte: «Ich muss weiter gehen, denn hier finden wir nicht voran.» Kaum war er draussen, stand er unversehens in einem Kreis von meditierenden Frauen und Männern. In deren Mitte lag ein wunderbar gestaltetes schimmerndes Tuch. Und er vernahm Stimmen aus dem Kreis, die ihm zusprachen: «Schau, hier verbirgt sich Christus in unserer Mitte.» Seither fühlte er mit in diesem Kreis und erkannte, dass die Zukunft der Kirche von diesem Kern ausgehen werde.
Ein Schlüsseltraum für die Zeiten nach dem Konzil? Ein Echo aus dem Unbewussten, das für viele Strömungen in der nachkonziliaren Kirche typisch wurde: Sich (Kuschel-)Gruppen oder temporären Bewegungen anzuschliessen. Sich dann aber auch für die eine oder andere Richtung entscheiden zu müssen – für den Rückzug in ein Ghetto auf hohem Niveau, das sich einseitig lebensferner Lehramtsideologie verschrieb oder in den vollständigen Auszug aus einem Zuhause im christlichen Glauben, der aus der fernen Vergangenheit eigener Kindheit nachhallte? Oder dann trotzdem dranzubleiben – wach und konstruktiv in kritischer Loyalität?
Wird es einfacher werden, Räume zu öffnen und aufzubrechen aus ekklesialer Sklerose?! Wird es gelingen, sich selbst aus eigens konstruierter Machtfülle zu entlassen? Wird die gewünschte geschlechtergerechte Partizipation möglich? So, dass sich die Menschen von der Christus-Mitte gemeinsam tragen lassen können. Und schliesslich: Warum fehlt es an grundlegender Einübung Tausender Akteure, denen als (männliche) Personen Verantwortung übertragen werden, denen sie nicht gewachsen scheinen? Der Weg in die Zukunft einer die Gesellschaft durchsäuernden Kirche wird zum Abschied jener organisatorischen Strukturen führen müssen, die den Menschen auf ihrem spirituellen Weg zu Christus in der Mitte im Wege stehen.
Stephan Schmid-Keiser, St. Niklausen (LU)