In seinem Leserbrief nimmt Sven Kerkhoff Bezug auf den Artikel „Segensfeiern? Nein danke!“ von Ruben Schneider, vom 28.10.2019.
Ich bin Ruben Schneider für seinen Beitrag, mit dem er konsequent eine, wie er es nennt, emanzipatorisch-utopisch-queere Perspektive auf das Thema aufmacht, sehr dankbar. Es braucht diese Perspektive unbedingt, um Selbstverständliches kritisch zu hinterfragen. Gleichwohl kann es, wenn man es nicht bei Utopien belassen möchte, unerlässlich sein, genau das zu tun, was Schneider als zu dürftig und die Gefahr neuer Repressionen bergend ablehnt, nämlich die „Toleranzgrenze des heteronormativen Systems lediglich ein Stück weit“ zu verschieben.
Die ganze Debatte ist im säkularen Kontext ja bestens bekannt und wurde innerhalb der Community auch geführt, als die Einführung der Lebenspartnerschaft und später dann die Ehe für alle anstand. Hier wie dort bleibt es dabei: Es muss zunächst einmal darum gehen, allen Menschen gleiche Rechte einzuräumen und sie als Gotteskinder gleich an Würde anzuerkennen. Damit beginnt jede Emanzipationsbewegung – wenngleich sie, ganz im Sinne von Schneiders Verständnis – dort nicht enden muss und sollte. Wer, wann und in welcher Form von den so eröffneten Möglichkeiten Gebrauch macht und wie ggf. das jeweilige Modell gelebt wird (was auch bei der Ehe, ob gleich- oder verschiedengeschlechtlich, höchst individuell ist), muss jedem selbst überlassen bleiben.
Zum Vergleich: Bis 1958 bestimmte nach dem BGB der Ehemann darüber, ob, wann und wie die Ehefrau berufstätig sein durfte. Durch eine (nicht unbedingt kirchlicherseits initiierte) Gesetzesänderung wurde verheirateten Frauen dann gestattet, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, „soweit dies mit ihren Pflichten aus Ehe und Familie vereinbar“ war. Erst 1977 fiel auch diese gesetzliche Einschränkung weg. Nun hätte man die entsprechenden Gesetzesänderungen 1958 und 1977 natürlich mit dem Hinweis ablehnen können, dass diese nur der Einordnung der verheirateten Frauen in ein zu überwindendes patriarchal-kapitalistisches System der Lohnarbeit Vorschub leisten und außerdem einen neuen Graben aufreißen zwischen berufstätigen und nicht-berufstätigen Ehefrauen, von denen die eine womöglich gesellschaftlich mehr Anerkennung erfährt als die andere. Zugleich hätte man darauf abheben können, dass die Neuregelungen vor dem Hintergrund einer entsprechenden gesellschaftlichen Folie und eines binären Geschlechterverständnisses geschehen. Aber will deshalb ernsthaft jemand behaupten, dass dies nicht wichtige und richtige Schritte hin zur Gleichstellung der Frau waren?!?
Erst wenn Menschen die gleichen Rechte haben und sich insgesamt als gleich an Würde erleben können, können sie überhaupt entscheiden, wie sie leben wollen. Dass es dann – je nach gewähltem Lebensmodell – in der gesellschaftlichen Beurteilung immer noch „Die anständige Frau“ und „Die unanständige Frau“ oder im hiesigen Kontext eben „Den anständigen Schwulen“ und „Den unanständigen Schwulen“ geben mag und dass diese Beurteilung schon aus christlicher Grundüberzeugung obsolet werden muss, ist eine andere Frage. Wer beide Fragen vermengt, schreibt anderen schnell vor, wie sie zu leben und ihre erkämpften Freiheiten wahrzunehmen haben – ein dezidiert autoritärer Ansatz, der den Einzelnen zum Instrument eines an sich ja sinnvollen gesamtgesellschaftlichen Anliegens macht.
Daher ist Gleichberechtigung versus Andersartigkeit ein gefährlicher Scheingegensatz. Diesen aufzurufen, spielt immer jenen in die Hände, die jede Veränderung fürchten, weil sie den Schritt zur Gleichberechtigung völlig zu Recht als einen solchen erkennen, der den entscheidenden ersten Riss in die „Folie“ bringt und damit das Potential zu weit mehr Veränderung, Lebendigkeit und Vielfalt birgt.
Übrigens: Gleichberechtigung heißt nicht „Segensfeier“ sowie auch im staatlichen Recht die „Lebenspartnerschaft“ noch keine Gleichstellung war, sondern eben Ehe für alle. Dass Schneider sich zur Ablehnung derselben allein auf das naturrechtliche Eheverständnis (Verschmelzung von Keimzellen) bezieht, ist nun wirklich weder emanzipatorisch, noch queer gedacht und auch theologisch wenig überzeugend.
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Autor: Sven Kerkhoff