Max Tretter reagiert auf den Tübinger Kanye-Text vom 01.03.2023.
Als leidenschaftlicher Hip Hop Hörer und Theologe bin ich davon überzeugt, dass wir als Lehrende, Pfarrerinnen und Gläubige einiges von diesem Genre sowie der Hip Hop Kultur insgesamt lernen können. Und als langjähriger Kanye West Fan, halte ich, trotz meiner Enttäuschung über dessen jüngste Entgleisungen, daran fest, dass sich sein Schaffen für solch theologische Erkundungen besonders gut eignet. Deshalb freut es mich, wenn Hip Hop und „Ye“ Eingang in theologische Curricula und Blogs finden. Und besonders gefreut hat es mich, dass ich bei der abschließenden Seminarsitzung Simons mit dabei sein und ins Gespräch mit den Studierenden kommen durfte.
Drei kurze Impulse zum Nachdenken über Hip Hop und Religion möchte ich im Nachgang unserer Diskussionen sowie des jüngst veröffentlichten Beitrags und des zugehörigen Podcast – quasi als methodologische Einbettung der dortigen inhaltlichen Gedanken – gern weitergeben.
Erstens erscheint es mir wichtig, die politische Radikalisierung Kanye Wests nicht kausal auf dessen religiöse „Entweltlichung“ während der letzten Jahre zurückzuführen – und damit „Religion“ für dessen Ausfälle verantwortlich zu machen. Produktiver scheint mir ein Ansatz, der sich in den amerikanischen Hip Hop Studies zunehmend durchsetzt [1]. Dieser betrachtet religiöse und politische Zusammenhänge nicht zuerst separat und fragt anschließend nach Wechselwirkungen zwischen ihnen, sondern erfasst sie von Anfang an als untrennbare Aspekte einer „Gesamtgedankenwelt“. Für die Auseinandersetzung mit Kanye West bedeutet dies, die sozialreligiösen Motive seiner frühen Songs sowie seine damaligen politischen Statements als Ausdruck der gesellschaftskritischen Persönlichkeit des sogenannten „Old Kanye“ wahrzunehmen – und seine gegenwärtigen religiösen und politischen „Äußerungen“ als Ausdrücke eines Künstlers zu deuten, der sich, aus welchen Gründen auch immer, von allen Seiten bedroht fühlt.
Zweitens scheint es mir, als jemand, der selbst auf den Gebiet Hip Hop und Religion forscht, wichtig, die religiösen Äußerungen, die sich in manchen Werken finden, nicht unmittelbar als Glaubensvorstellungen der Künstlerin zu identifizieren. Hier gilt es meines Erachtens die Differenz zwischen Künstlerin und Werk aufrecht zu erhalten und – obwohl beide niemals unabhängig voneinander sind und einander beeinflussen – eher von der „Theologie“ eines bestimmten Werks oder Songs, statt von der „Theologie einer Künstlerin“ zu sprechen.
Drittens möchte ich zuletzt darauf hinweisen, wie unterschiedliche und vielfältig religiöse Motive im Hip Hop verwendet werden [2]. Wenn Kanye West sich beispielsweise als God oder Yeezus bezeichnet und mit religiösen Begrifflichkeiten spielt, tut er dies in erster Linie, um sich Hip Hop-typisch selbst zu glorifizieren. Und wenn er in Anlehnung an 1. Johannes 1,7 „Wash us in the blood“ singt, stellt er seine politische Sozialkritik am amerikanischen Gefängnissystem und der Praxis der Todesstrafe damit in einen religiösen Rahmen ein. Wenn Kanye West hingegen auf seinem Album Jesus is King traditionelle christliche Hymnen singt oder singen lässt, stehen dabei wohl primär genuin gottes-dienstliche Ansinnen im Hintergrund. Nun lassen sich die verschiedenen Intentionen und Zwecke bei der Verwendung religiöser Motive weder zweifelsfrei identifizieren noch das „Religiöse“, „Politische“ oder „Künstlerische“ trennscharf voneinander scheiden – doch kann eine Sensibilität für die verschieden nuancierten Verwendungsweisen von „Religion“ dabei helfen, Hip Hop Songs und religiöse Motiviken besser zu verstehen [3].
- Wright, Joshua K., VaNatta S. Ford und Adria Y. Goldman, I Gotta Testify: Kanye West, Hip Hop, and the Church. Journal of Hip Hop Studies, 2019. 6(1), https://scholarscompass.vcu.edu/jhhs/vol6/iss1/
- Miller, Monica R., Religion and Hip Hop. 2013, New York: Routledge.
- Tretter, Max, »Neben der Pistole steht ’ne Jesus-Ikone«. Über (nicht-)religiöse Rhetorik im Deutschrap, in: Thomas Wilke und Michael Rappe (Hg.), Hip Hop im 21. Jahrhundert. Medialität, Tadierung, Gesellschaftskritik und Bildungsaspekte einer (Jugend-)Kultur. 2022, Wiesbaden: Springer VS. 473–487, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36516-5_23