Hannah Ziegler, selbst Überlebende sexueller Gewalt, reagiert auf den Beitrag von Annette Meyer.
Warum ist der Automatismus, auf Gewalt mit dem Konzept von Vergebung zu reagieren, nicht loszuwerden? Warum werden nicht die Forderungen von Menschen, die sexualisierte Gewalt im kirchlichen Kontext erlebt haben, als Ausgangspunkt genommen – etwa Gerechtigkeit, Entschädigungen, Veränderung von Machtstrukturen? Warum wird die theologische Forschung von Betroffenen zu (Nicht)Vergebung angesichts von sexualisierter Gewalt[1] nicht wahr- und ernstgenommen? Vergebung ist ein auf Täter:innen zentriertes Konzept, das als ein Risikofaktor für fortgesetzte sexualisierte Gewalt im kirchlichen Kontext mehrfach benannt wurde[2] und somit grundsätzlich in Frage steht.
Es kann und darf liturgische Angebote für Betroffene geben. Aber: In diesem Beitrag wird mit Vergebung das Konzept gestärkt, das die Täterorganisation am wenigsten kostet. Mit einer solchen Liturgie müssen keine Machtstrukturen verändert, keine Diskriminierung von Frauen und queeren Menschen beendet, kein Eingriff in die höchstpersönliche Lebensführung auch von Geistlichen gestoppt, keine Mitwirkungs- und Entscheidungsrechte geschaffen und keine Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeführt werden. Außerdem setzt nach dem Verständnis dieser Kirche selbst Vergebung zunächst ein Schuldeingeständnis und Reue voraus. Bisher fehlt es jedoch, dass die Schuld von Tätern und der Institution so bekannt wird, dass dies auch juristisch Gültigkeit hat und das gerichtliche Einklagen von Entschädigungen ermöglicht.
Es ist eine gute Beobachtung, dass nach Karfreitag der Ostersonntag schon sehr bald folgt, und dies für Menschen mit Gewalterfahrungen zu schnell gehen kann. Gerade noch wurde an Karfreitag all die Gewalt thematisiert, die Jesus erlebt hat, die in der Welt geschieht und die sich mit den eigenen Gewalterfahrungen verknüpft – und schon folgt das Halleluja in der Osternacht, der Jubel über die Auferstehung. Traumaaufarbeitung dauert Jahre, Jahrzehnte, oft ein ganzes Leben. Wäre Jesus nicht gestorben und auferweckt worden, hätte auch er wohl ein Posttraumatisches Belastungssyndrom gehabt, das nicht einfach an Ostern vorbei gewesen wäre. Aber was ist eine angemessene Antwort auf dieses Problem – theologisch, liturgisch, menschlich, institutionell?
Gibt es Entschädigungen, die hoch genug sind, vielleicht auch als monatliche Zahlung, damit Betroffene weniger arbeiten müssen und die Möglichkeit haben, sich nach intensiven Kar- und Ostertagen noch die Zeit zu nehmen, um all die vielfältigen Eindrücke zu verarbeiten? Werden Kosten für Psychotherapie und weitere hilfreiche Therapieformen umfassend von der Täterorganisation übernommen – auch dann, wenn nicht schon vor Beginn der Therapie dies bei dem zuständigen Bistum oder Orden beantragt wurde, oft verbunden mit monatelangem Warten auf eine Antwort? Bisher gilt in Deutschland die Regelung, dass Therapiekosten nur in bestimmten Ausnahmefällen und nach vorheriger Beantragung bei der Täterorganisation erstattet und sonst der Solidargemeinschaft der Versicherten in den Krankenversicherungen oder den Betroffenen selbst aufgebürdet werden.
Wer darf Sakramenten vorstehen? Nur unverheiratete Männer – oder Menschen aller Geschlechter und in vielfältigen Lebensformen? Das würde das Sakrament der Stärkung und Salbung für Überlebende zugänglicher machen.
Die Aussage, Vergebung sei für „viele“ (!) Betroffene „ein essentieller Akt der Befreiung und Heilung“, ist gewagt und wird nicht belegt. Dies schließt jedoch nicht aus, dass sie für einzelne Menschen tatsächlich hilfreich sein kann. Indem Vergebung als Gnade bezeichnet wird, Nichtvergebung jedoch nicht, wird Vergebung jedoch spirituell bevorzugt. Dies verkennt, dass auch Nichtvergebung, ja das Hinterfragen des Konzepts von Vergebung angesichts sexualisierter Gewalt ebenso Erfahrung von Gnade und auch Gabe der Heiligen Geistkraft und prophetische Berufung sein kann. Warum wird auf die Bibelstellen verwiesen, in denen Gott vergibt, und nicht auf die, in denen Gott Gewalttätern Vergebung verweigert? Zudem erstaunt die Aussage von Gottes Vergebung für Kain, denn in Gen 4,15 ist zwar von einem Schutz Gottes für Kain trotz seines Mordes zu lesen, nicht aber von Vergebung.
In dem Beitrag findet eine Vermischung zwischen persönlicher Aufarbeitung, Vergebung und Verständnis für den Täter, Sinnfindung sowie Heilung statt, die höchst problematisch ist. Er suggeriert sogar, dass Vergebung ein Schritt sein kann, Heilung von Traumafolgen zu erfahren. Damit werden zwei Ebenen vermischt, die überhaupt nicht miteinander in Verbindung stehen und die von Betroffenen mühsam zurück gewiesen werden müssen. Dies kann sogar dazu führen, dass Betroffene vergeben wollen in der Hoffnung, dass dadurch Traumafolgen weniger werden – eine sehr gefährliche Annahme. Es geht um Gewalt, die im Körper steckt, um fragmentiert abgespeicherte Erinnerungen, die verarbeitet werden müssen und die trotzdem oft noch durch Trigger reaktiviert werden können.
Wenn es in diesem Beitrag um die Frage geht, „wie die katholische Kirche den Missbrauchsopfern begegnen könnte“ – dann könnten erst einmal Betroffene gefragt werden, wo und wie sie dieser Kirche überhaupt begegnen wollen oder auch nicht. Oft sind Betroffene nämlich gezwungen, mit der Täterorganisation in Kontakt zu treten, weil etwa Strukturen für Aufarbeitung, Anerkennung und Entschädigung fehlen, die kirchlich unabhängig sind. Diese Kirche muss aushalten lernen und theologisch ernstnehmen, dass sie für viele Menschen kein Heilsort ist, es niemals war und auch nie sein wird.
Indem Vergebung einfach als Ausgangspunkt genommen wird, werden sehr viel spannendere Fragen vermieden: Hat Gott überhaupt das Recht, jemanden eine Tat zu vergeben, deren Folgen nicht Gott, sondern eine andere Person zu tragen hat? Hat eine Kirche folglich überhaupt das Recht, dass ihre Vertreter im Namen Gottes jemandem Vergebung zusagen – oder ist dies nicht spiritueller Missbrauch, insbesondere gegenüber Gewaltüberlebenden?
Ich bin Überlebende sexueller Gewalt in der römisch-katholischen Kirche, und für mich wäre allein die Entwicklung einer solchen liturgischen Feier zur Vergebung spirituell übergriffig angesichts all der mir und so vielen Betroffenen verweigerten Gerechtigkeit.
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Hannah Ziegler ist Theologin und Überlebende sexueller Gewalt in der römisch-katholischen Kirche. Sie schreibt hier unter Pseudonym, um selbst darüber bestimmen zu können, mit wem sie über die Gewalt spricht, die sie als Kind erlebt hat.
[1] Etwa https://www.deutschlandfunk.de/i-m-sorry-von-der-unfaehigkeit-wirklich-um-entschuldigung-zu-bitten-dlf-fb6d1ae2-100.html; Hannah Ziegler, Theologie angesichts sexueller Gewalt in der römisch-katholischen Kirche, in: ET-Studies 13 (2022) 2, 291-310.
[2] Vgl. etwa Martin Wazlawik u.a., Zusammenfassung der Ergebnisse, Schlussfolgerungen und Empfehlungen für
Prävention, Intervention und Aufarbeitung, https://www.forum-studie.de/wp-content/uploads/2024/01/Zusammenfassung_ForuM.pdf;
Katharina Karl / Harald Weber, Missbrauch und Beichte. Erfahrungen und Perspektiven aus Praxis und Wissenschaft, Würzburg 2021.