Martha Marens ist Gewaltüberlebende von spirituellem und psychischem Missbrauch in der Kindheit durch eine Ordensfrau und reagiert mit folgendem Leserinbrief auf Max-Josef Schusters Beitrag „Die Kirche sein lassen“ vom 21.10.2024.
Als ich diesen neuen Beitrag las, kamen mir – einer Gewaltüberlebenden – die Tränen. Denn Herr Schuster fasst etwas in Worte, was ich genau so empfinde, aber nicht auszudrücken verstand. Darum danke ich ihm sehr.
Es ist die Tatsache, dass er das Spirituelle, ohne gleich zu bewerten, in den Blick nimmt: Die Frage, was wohl der richtige Weg sein möge. Damit benennt er eine Seite, die mir ebenso am Herzen liegt. Denn es gibt so viele Ambivalenzen, Widrigkeiten, Vulnerabilitäten, die durch das Bekanntwerden des Missbrauchs offenbar wurden, die verdeutlichen, wie vielschichtig die Problematik und ebenso kompliziert auch der Lernprozess im Umgang damit ist. Wir befinden uns im Prozess des Benennens all des Leides und der so furchtbaren Folgen, die dadurch entstanden, der Suche nach deswegen so dringend nötigen Veränderungen, wie auch der damit verbundenen negativen Folgen für nach wie vor gut arbeitende hauptamlich und auch ehrenamtlich tätige Menschen. So fragte ich mich auch oft, was mit der Forderung nach einer Evangelisierung gemeint sei?
Die Illusion von der Kirche als heiler Welt loszulassen, die Herr Schuster von Frau Reisinger aufgreift, ist tatsächlich dabei ein zentral wichtiger Punkt. Denn in der Tat ist dieses Denken, was über Jahrhunderte von den Mächtigen der Kirche gern befördert wurde, um die eigene Macht zu legitimieren und zu nutzen, ein großes Problem. Es sitzt in vielen Köpfen drin, oft wohl auch unbewusst, und ermöglicht dadurch nicht die Erkenntnis, dass eben alles ambivalent ist. Genauso ergeht es mir mit der Frage, was denn Evangelisierung angesichts dieser Tatsache bedeuten müsste: Denn auch ich nehme wahr, wie sehr sich die Institution Kirche um sich selbst dreht, anstatt sich auf das zu konzentrieren, was ich als dringend notwendige Form der Evangelisierung und als ihre Aufgabe empfinde: Seelsorge, also Menschen bei ihrem inneren Heilungsweg zu helfen, was, wenn ich darauf hinweise, kaum auf Resonanz stößt, und das stimmt mich traurig.
Die Blickrichtung von vielen Verantwortlichen ist dabei das Problem: Man schaut auf sich und gleichzeitig verhindert dies den Blick auf die, um die man sich kümmern sollte: Die Opfer von Gewalt, von Leid, Diskriminierung und Ausgrenzung.
Gleichzeitig gibt es in meinen Augen einen weiteren Punkt, den es gilt zu erkennen: Die Tatsache, dass wir Menschen gerne schlimne und komplizierte Dingen möglichst wegbekommen möchten, was aber so nicht geht. So lernte ich, als ich mich von dieser Vorstellung lösen konnte, diese Ambivalenz anzunehmen und stehen zu lassen, dass mir dies entscheidend weiterhalf meine Verletzungen zu verarbeiten. Die Annahme der vorhandenen Ambivalenzen und die Bereitschaft, diese stehen zu lassen, sind also wesentliche Elemente, um schwierige Dinge aushalten und sich der Aufgabe zu stellen, wie sie Schuster mit Hilfe des Bonhoeffer Zitates so trefflich formulierte und ausführte:
“Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. „1
Das Beten:
Gerade das Herzensgebet hat mir die Stabilität gegeben, mich dem Teil in mir zuzuwenden, den meine Täterinnen nicht zerstören konnten: Ihn in mir. So wie ich auch später lernte, dass gerade dieses Gebet Ähnlichkeit mit stabilisierenden Maßnahmen der Trauma-Therapie hat. Sich auf diese Kraft des Gebetes besinnen und sich dafür zu öffnen, ist nicht unbedingt leicht. Doch gerade dieses kann einen befähigen, Ihm die Wunden hinzuhalten und Vertrauen zu entwickeln, dass ER es irgendwann wandeln wird, sowie sich Menschen öffnen zu können und Hilfe zu suchen bzw. sie anzunehmen.
Das Gerechte tun:
Genauso kann das Beten den Prozess im Lernprozess des Glaubens und im Tun des Gerechten fördern und stärken. Wie oft wundere ich mich heute, dass ich den Mut, die Geduld und Kraft habe, im Argen liegende Dinge wie auch solche, die traumatisierte Menschen zur inneren Heilung benötigen, gegenüber Bischöfen u.a. zu benennen und dafür zu kämpfen. Dass ich einfach nach Rom fuhr und hier immer wieder das Gespräch mit Synodenteilnehmenden suche, versuche für eine traumasensible Seelsorge und damit verbundene notwendige strukturelle Veränderungen zu sensibilisieren, in der Hoffnung, dass Einsicht, ein Umdenken und verändertes gerechtes Verhalten beginnt. Dabei bin ich mir bewußt, wie verrückt das erscheinen mag.
Denn wahrlich: „Es geht [doch] um die Rettung der menschlichen Person, es geht um den rechten Aufbau der menschlichen Gemeinschaft….“2 Wie kann ich also anderes tun, als das zu versuchen und das zu tun, was ich tief in mir als Aufgabe verspüre? Wie wichtig ist es dazu, sich an Christi Frage zu erinnern: Was ist es, das ich dir tun soll? Diese Frage also als Leitfaden zu nutzen für das gerechte Handeln an den Menschen, insbesondere den vielen Traumatisierten, also Gewaltüberlebenden der Kirche und es auch zu tun. So ist schließlich auch mir Herrn Schusters Erläuterung von Frau Reisingers Satz hilfreich:
„Egal, was aus der Kirche wird“: Hauptamtliche können – und brauchen – die Kirche nicht retten.“
Ja, es ist eine Entlastung für Hauptamtliche, genauso wie für Ehrenamtliche! Sich zu konzentrieren auf das Wesentliche: Beten UND das Gerechte tun. Denn so wird – da bin ich gewiss – Hoffnung wieder aufkeimen können, die so dringend nötig ist in der heutigen Zeit, damit wieder Energie da ist, um Neues entstehen zu lassen, und die Diskriminierungen beendet werden können.
- Dietrich Bonhoeffer, Gedanken zum Tauftag von D. W. R (Mai 1944), in: Ders., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, München 1951, 211-222; hier 221. ↩
- Pastorale Konstitution „Gaudium et Spes“ über die Kirche in der Welt von heute, Artikel 3, in: in: Karl Rahner / Herbert Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium, Freiburg Basel Wien 1966, 450. ↩