Anna Noweck antwortet auf den Kommentar von Christian M. Rutishauser zur Enzyklika Fratelli tutti und kommentiert das Dokument im Blick auf die Frage, wie es denn um die vielbeschworene Geschwisterlichkeit in der Kirche selbst steht.
Die Enzyklika Fratelli tutti (FT) spricht in ihrem Titel alle Brüder an, doch weitet der Text, wie Christian M. Rutishauser schreibt, diese Anrede im Zitat umgehend auf die Schwestern und Brüder (FT 1) und die Geschwisterlichkeit unter ihnen. Zunächst: Diese sprachlich abgebildete Inklusion mag durch die im deutschen Sprachraum mögliche Differenzierung der Termini den Shift von der Brüder- zur Geschwisterlichkeit erlauben. In den weiteren Übersetzungen jedoch bleibt die fraternità die fraternité die fraternity – und damit eben die Brüderlichkeit. Wir wissen es: Sprache schafft Wirklichkeit. Deshalb ist die Übersetzung mit der Geschwisterlichkeit im Deutschen ein wichtiger Schritt (so wie die sprachliche Indifferenz ein Treten auf der Stelle ist).
Doch essentiell in Bezug auf die Feststellung, der Text sei „gendergerecht“, scheint mir doch auch ein Blick darauf, was in der Enzyklika steht – oder eben nicht. Franziskus hebt explizit darauf ab, „dass die Frauen genau die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben wie die Männer“ (FT 23). Er zieht zur Untermauerung der universalen Geltung der Menschenrechte gerade die Situation der Frauen heran (FT 121). Dies ist gut und wichtig. Dennoch aber ist der Kritik von Frauenverbänden, dass Frauen vor allem in einer Rolle der Verletzlichkeit und Abhängigkeit gezeichnet werden, nicht zu widersprechen.
Was in der Enzyklika steht – oder eben nicht.
Völlig jedoch fehlt, das Thema dieser Enzyklika – eben diese überbordend beschworene Geschwisterlichkeit – auf die Kirche selbst zu spiegeln. Franziskus zeichnet ein inklusives Modell der Gesellschaft, dass ausgehend von der gemeinsamen Würde alle einschließt; in dem alle Anerkennung erfahren; das Grenzen überschreitet; das im Polyeder dialogisch, begegnend, bereichernd und ohne Hierarchien kooperiert; das auch herausfordert (und hier wendet sich der Text auch scharf gegen die, die aus vermeintlich christlicher Motivation andere ausschließen); er fordert ein inklusives Modell, in dem sich alle einbringen, einander zuhören und gemeinsam Neues schaffen. Das ist großartig!
Aber wieso wird dieses Modell mit keiner Silbe auf die Gemeinschaft in der Kirche angewandt, die ebenso eine soziologische Größe und noch mehr: eine Gemeinschaft im Glauben ist und als solche doch Sauerteig sein müsste für das, was Gemeinschaft, was Gesellschaft im Großen könnte? Gerade wenn wir auf den Synodalen Weg in den letzten Monaten blicken, fehlt eben genau dieses Zuhören und Verstehenwollen im Blick auf die Fragen der Frauen. Und dies ist symptomatisch für das Beenden von Debatten von ganz oben (die dann doch weitergehen) und vieles mehr. Warum nutzt der Text seine eigene Steilvorlage nicht? Wenn es darum ging, innerkirchliche Klippen zu umschiffen, dann schlagen die genau hier mit voller Wucht doch erst auf.
Das Modell wird mit keiner Silbe auf die Gemeinschaft in der Kirche angewandt.
Noch etwas vermisse ich: Der Text wurde als post-Corona Gesellschaftsentwurf angekündigt. Man kann den Aufruf zur Geschwisterlichkeit durchaus als Antwort auf die durch Corona sichtbar gewordene Isolation, die Vereinzelung und ihre Folgen lesen. Aber auch in Bezug auf Corona hätte der Blick hinter den einen Satz (FT 54) auf das was, positiv geleistet wurde, gezeigt, dass es gerade in dieser Krise die Sorge-Tragenden – und das sind zum ganz großen Teil immer noch die Frauen – waren und sind, die sich in der multiplen Herausforderung von Home-Care, von Home-Schooling, von Familienarbeit und Home-Office unentgeltlich und alternativlos aufreiben und in den frauendominierten Berufsfeldern der Sozialen Arbeit, der Pflege, der haushaltsnahen Dienstleistungen und im pädagogischen Bereich intrinsisch motiviert und schlecht bezahlt abschuften.
Würdigen kommt auch von Würde.
Diese Frauen leben das, was die Enzyklika unter den Chiffren „Geschwisterlichkeit“ und „Liebe“ fordert, in der Gesellschaft und auch in der Kirche. Sie dort in ihrem Dienst einer diakonischen Kirche als die zu sehen, die Kirche greifbar machen, und ihre Sorgearbeit als gesellschaftlich unabdingbare und entsprechend zu entgeltende Arbeit miteinzubeziehen, ist mehr als überfällig. Ein Verweis auf eine Care-Economy etwa hätte dem seitenlangen, auch berechtigtem Bashing neoliberaler Wirtschaftsmodelle eine gute Alternative entgegengestellt und eine mögliche Antwort auf die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen, geben können. Um nochmals auf die päpstliche Bezugnahme auf die menschliche Würde als Grundlage all unseres Handelns abzuheben: Würdigen kommt auch von Würde.
____
Anna Noweck, Professorin für Theologie in der Sozialen Arbeit, Katholische Stiftungshochschule München