Andreas Münster wendet in seinem Artikel auf feinschwarz.net vom 22. November 2018 Erkenntnisse des Buches „Nicht mehr wie immer. Wie wir unsere Eltern im Alter begleiten können“ (München 2017) von Katja Werheid auf die Erfahrungen und die Entwicklung von Gemeinden an. Und es scheint schlüssig: Auch in den Gemeinden spielt die Generation 60+ eine prägende Rolle. Und die zitierten vier „inneren Gegenspieler“ lassen auch gleich vielfältige eigene Erlebnisse in Gemeinden wach werden.
Es erstaunt: Vieles trifft auf Gemeinden zu, was die Gerontopsychologie an Erkenntnissen bereithält. Die Alternswissenschaften legen jedoch den Schluss nahe, dass dies nicht so ist, weil Kirche(ngemeinden) gealtert sind oder weil ihre Gemeindemitglieder 60+ sind, sondern weil Altern in unserer Gesellschaft eine „Radikalisierung der Existenzerfahrung“ (Körtner 2010, S. 16) darstellt. Weil sich gerade in dieser Lebensphase die Paradoxien unserer Leistungs- und Wachstumsdiskurse deutlich zeigen. Weil gegenwärtigen Körpernormen spätestens im Alter nur mit Photoshop und plastischer Chirurgie entsprochen werden kann. Weil gerade in der vierten Lebensphase deutlich wird: Autonomie, verstanden als totale Unabhängigkeit, ist unmenschlich.
Die Frage nach der Zulässigkeit der Analogie „alternde Eltern – alternde Gemeinden“ sagt dann folgerichtig mehr über den Autor – und mit ihm über die prägenden gesellschaftlichen Altersbilder – aus, als über die alternden Gemeinden. Die Ausführungen über die Definitionen von Alter bestätigen diesen ersten Eindruck: Wenn Situationen des Wandels als herausfordernd erlebt werden, dann wird das „dem Alter“ zugeschrieben – derjenigen Lebensphase, in der man verstockt, unbeweglich, unfruchtbar wird und die Degeneration beginnt – und liegt sicher nicht daran, dass Veränderungen zuerst verunsichern, dass Ohnmacht nicht lustig und Abschiednehmen nicht immer leicht ist.
Indem diese Einstellungen und Verhaltensweisen dem Alter zugeschrieben werden, gerät aber auch etwas anderes aus dem Blick: die Ambivalenz jeder (neuen) Lebensphase und, nicht zuletzt, die „Tyrannei des gelingenden Lebens“ (Schneider-Flume, 2004) und damit die Einsicht, dass alles Leben Geschenk ist.
Aus den Erkenntnissen der Alternswissenschaften lässt sich sicherlich viel für die Situation und das Leben der Kirche, der Gemeinden lernen – manchmal jedoch zuerst etwas über die eigenen Vorurteile, Stereotype und eingefahrenen Wahrnehmungsmuster.
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Anna-Christina Kainradl
Projektmitarbeiterin für die Projekte „Gemeinsam Gesundheit gestalten – Regionale Entwicklung für altersgerechte Gesundheitsversorgung“ und „Who cares? Alter(n) und Pflege gemeinsam neu denken“ am Institut für Moraltheologie der Karl-Franzens-Universität Graz
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Literaturverzeichnis
Kolland, Franz (2015): Neue Kultur des Alterns. Forschungsergebnisse, Konzepte und kritischer Ausblick. Online verfügbar unter http://www.forschungsnetzwerk.at/downloadpub/2015_soziale-themen_alter-kultur-kolland-2015-studie.pdf, zuletzt geprüft am 15.03.2018.
Körtner, Ulrich H. J. (2010): Leib und Leben. Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 61).
Schneider-Flume, Gunda (2004): Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens. 2., durchges. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Transparent, 66).
„Nicht mehr wie immer“. Anregungen aus Gerontopsychologie für unsere Pfarrgemeinden?