Der Kampf um die Erde (Gaia) ist entbrannt. Bruno Latour legt 8 Vorträge vor, die sich mit einer Neuordnung im Klimakampf beschäftigen. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Buch „Kampf um Gaia“ durch Irmgard Klein und Annemarie Hochrainer.
Wir fahren mit dem Auto 500 m, weit ist das nicht. Aber 1 kg Gletschereis schmilzt sozusagen unter uns weg.[1] CO2-Emissionen als Hauptursache der Erderwärmung. Dieses anschauliche Beispiel beschäftigt uns unterwegs, während wir auf einer taglangen Fahrt die beängstigenden Öko-Kriegsschilderungen des französischen Soziologen Bruno Latour hin und her wiegen.
Latour lässt die Alarmglocken schrillen und konzeptioniert eine neue Akteurin
Ein Kosmokoloss stellt sich uns entgegen – Gaia, eine fruchtbar-furchtbare Gewalt, eine Kraft, wirkungsmächtig, unbändig, aktiv, aufdringlich wie nie. Es ist als zwänge sie uns zum Agieren. Mitnichten, meint Latour. Die Menschen haben anderes zu tun, sind angesichts der Gefahr wie taub, eingeschlafen. Die einen – Latour nennt sie Klimapietisten – richten sich in Parallelwelten ein, die anderen denken, sie hätten die Natur nur noch nicht ausreichend in der Hand, man könne sie wohl auch total beherrschen – Geo-Engeneering genannt -, wieder andere verfallen in Depression und verlieren ihre aktiven Kräfte, und dann gibt es da noch jene, die es mit Hoffnung versuchen. Allessamt nicht angemessen – „die Ökologie macht wahnsinnig“.[2]
Die Ökologie macht wahnsinnig.
Und Großunternehmen setzen auf sprachliche Mittel. Sie engagieren Psychosoziologen, die statt „globale Erwärmung“ das Wort „Klimawandel“ einüben helfen. Weil es weit weniger bedrohlich klingt, weil es uns denken lässt, dass es so schlimm gar nicht sein kann. Im Interessenkarrussell schreiten denn auch die Klimaverhandlungen im Schneckentempo voran, ganz im Gegensatz zur frenetisch vorangetriebenen Waffenproduktion.
Intellektuelle Reformulierung einer lateinamerikanischen Schwestererkenntnis?
Acht Vorträge sind in diesem Buch gesammelt, von Vortrag zu Vortrag sind wir geknickter rausgegangen. Wo sind die Perspektiven? Was können wir tun? Die Menschen werden ihren Planeten für sie selbst unbewohnbar machen. Doch von Vortrag zu Vortrag wurden wir auch ein klein wenig sensibler für Wirkungsmächte und deren Verbindungen in Netzwerken und in der Einübung darin, auch Bäume oder Flüsse als Subjekte zu sehen, nicht als Objekte. Dies ist ein wirklicher Neuansatz, der an lateinamerikanische Versuche erinnert. Ecuador 2008 – wie abgeschwächt auch Bolivien 2009 – schufen in ihren Verfassungen eine neue Rechtspersönlichkeit (Natur/Pachamama). Die verfassunggebenden Versammlungen dieser Staaten nahmen schon vor mehr als einer Dekade wahr, was Latour fordert.
Es ginge darum, anzuerkennen, dass wir im Kriegszustand leben, dass alle Akteure ihre eigenen Interessen mit all ihrer Kraft vertreten
Es gibt also Begegnung, nicht nur mit Menschen, auch mit der Erde, die sich verhält, die reagiert, die agiert – und darin natürlich zahlreiche Akteure, das Meer und die Gletscher, Amazonien, indigene Völker, der Wald, die Malediven … Es ginge darum, anzuerkennen, dass wir im Kriegszustand leben, dass alle Akteure ihre eigenen Interessen mit all ihrer Kraft vertreten – Latour wählt bewusst eine vehemente, kriegerische Beschreibung der Epoche, in der wir leben, Anthropozän genannt.
Die epistemische Dimension wechseln – Ästhetik statt Wissenschaft
Jede_r müsse für sich selbst lernen, immer wieder ganz neu, um möglichst nah an sich und an die Erde heranzukommen, möglichst genaue Worte zu suchen, um “immer empfänglicher für und reaktionsfähiger gegenüber den zerbrechlichen Hüllen, die wir bewohnen“,[3] zu werden. Ästhetik im ursprünglichen Wortsinn als Kunst der Wahrnehmung kann helfen und der Mut zur Betroffenheit – bis auf die „Herzhaut“ (Hilde Domin). Und die Religionen? Latour würde ihnen eine neue Tiefe, Genauigkeit, Qualität abverlangen. Erdverbunden sein – Menschenhaut an die Erdhaut – souveräne Überpositionen aufgeben und der Spur Papst Franziskus‘ folgen, „mit allen ins Gespräch kommen“[4] wollen/müssen, denn alles hängt zusammen, ist miteinander verbunden.
Subjekt-theoretisch fragiles Unterfangen – das Klima-Regime
Latour, wenig optimistisch in Bezug auf ein Umlernen der Nationalstaaten, ruft ein neues Klima-Regime aus. Dies ist charakterisiert durch eine netzwerkartige Struktur quer Beet. In einem notwendigen Bruch mit der neuzeitlich-cartesianischen Denkweise werden die Wirkungsmächte neu verteilt, die Lebendigkeit und agonale Macht allen zugesprochen. Gerade dieses subjekt-theoretische Wagnis versuchen die lateinamerikanischen Vorher-Denker_innen seit Jahren mit dem Konzept des “sumak kawsay” (gut leben). Alle Mitspieler_innen im Parlament des Lebens müssen ihre emotionalen, kognitiven und politischen Kräfte bündeln.
Man muss ja nicht alles verstehen, aber das eigene möglichst genau kennen und argumentieren lernen.
Offen miteinander reden, heißt die Bedürfnisse ansprechen. Man muss ja nicht alles verstehen, aber das eigene möglichst genau kennen und argumentieren lernen. Dann, scheint’s, ist eine Lösung in Sicht. Die involvierten Parteien – Konzerne, Staaten, Lebewesen – sollten hier ihre Interessen offen legen, vertreten, ein neues Gleichgewicht ausstreiten. Balance of Powers als Ausweg. Ein letzter offener Konflikt könnte als Gegengift helfen, so Latour. Die winzige Quelle von Hoffnung heißt Partei ergreifen. Wie das Klima-Regime konkret gedacht und mehr noch gemacht werden kann, bleibt Latour schuldig. Die Möglichkeit der Anwaltschaft, für eine gleich-berechtigte Pachamama/Gaia die Stimme zu erheben, haben Bolivien und Ecuador juridisch versucht.[5] Man müsste mal nachschauen, ob es etwas gebracht hat.
Apokalypse now – Spürübungen (Günther Anders)
Earthbound-sein im Sinne Latours trifft sich mit Günther Anders‘ Spürübungen. Die unglaublichen Geschehnisse in Europa, die Shoah, und der Atombombenabwurf in Japan im August 1945 gaben seinem Denken die entscheidende Richtung, haben seine Epistemologie gedreht. Je technisch ausgefeilter die Menschenwelt wird, desto verkorkster, verschrobener, vereister ist unser Fühlen.
Wenn unser Spüren nicht dehnbar wird, bleiben wir als „Analphabeten der Angst“ gelähmt.
Nach Anders lautet die Aufgabe, die Phantasie- und Gefühlsmöglichkeiten auszudehnen und zu weiten, um sich die Schreckensszenarien vorstellen zu können, irgendwie. „Exerzitien“ nennt er diese Leistungen, „moralischen Streckübungen“.[6] Wenn unser Spüren nicht dehnbar wird, bleiben wir als „Analphabeten der Angst“[7] gelähmt. Die Endzeit ausblenden, sich nicht ihrer Aussichtslosigkeit aussetzen zu wollen, bedeutet keine Handlungskraft mobilisieren zu können. Gewissermaßen prophylaktisch apokalyptisch – das wäre die angemessene Haltung dem Zustand der Gaia gegenüber. Günther Anders schreibt rund sechzig Jahre vor Bruno Latour. Die Mahner sind sich einig: es ist Krieg, wir sind im Kampf. Es geht darum, unser Gefühl und unsere Vorstellungskraft zu weiten, um die Größe der Gefahr zu erfassen – und etwas zu tun. „Wissen und nicht handeln heißt nicht wissen.“[8]
Literatur:
Anders Günther, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München (1956) ⁵1980.
Gudynas, Eduardo, Politische Ökologie. Natur in den Verfassungen von Bolivien und Ecuador, Übersetzung Almut Schilling-Vacaflor, in: Juridikum Nr.4 (2009) 214–218.
Latour Bruno, Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs, Berlin 2017.
[1] http://science.orf.at/stories/2902031/ [abgerufen 06.06.2018].
[2] Latour, Kampf um Gaia, 30.
[3] Latour, Kampf um Gaia, 241.
[4] LS 3.
[5] “Die Konzeption der Natur als Rechtsträgerin eröffnet die Möglichkeit zu einem essentiellen Wandel hinsichtlich Fragen der rechtlichen Vertretung und der Sachwalterschaft. Wenn Pflanzen und Tiere eigene Rechte haben, ist die nächste Frage, wer diese vertritt. Offensichtlich können nicht-menschliche Lebensformen als solche keine Rechtsmittel beim ecuadorianischen Justizsystem einbringen und daher wird es sich als notwendig erweisen, neue Vorgangsweisen der Vertretung, Sachwalterschaft und Rechtsmittelverfahren zu etablieren.” Gudynas, Politische Ökologie, 216.
[6] Anders, Die Antiquiertheit des Menschen I, 273f.
[7] Anders, Die Antiquiertheit des Menschen I, 265.
[8] Latour, Kampf um Gaia, 241.
Autorinnen: Irmgard Klein und Annemarie Hochrainer sind Universitätsassistentinnen am Institut für Praktische Theologie/Universität Innsbruck.
Beitragsbild: http://jaymantri.com/post/112158023323/download