Der Religionssoziologe Anastas Odermatt hat sich in seiner Dissertation mit dem Verhältnis zwischen «Religion und Sozialkapital in der Schweiz» beschäftigt. Er teilt hier einige Erkenntnisse und Überlegungen mit. Eine seiner zentralen Thesen lautet: Religion wirkt gesellschaftlich positiv – solange sie nicht abwertet.
Zur empirischen Erfassung von Sozialkapital verwenden wir in der Forschung meist freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen. Ausgehend vom klassischen Konzept des Sozialkapitals von James S. Coleman 1 und Robert D. Putnam 2 gilt dabei häufig die Annahme: Religion und Religiosität fördern freiwilliges Engagement und tragen dazu bei, soziales Vertrauen zu stärken und damit den sozialen Zusammenhalt zu festigen. Mit repräsentativen Daten des KONID Survey 3 für die Schweiz habe ich diese Annahme empirisch überprüft 4. Die Ergebnisse geben ein differenziertes Bild ab.
Religion und Sozialkapital allgemein
Ein erste Erkenntnis: Religiöse Praxis schafft Räume für Koordination und Motivation von freiwilligem Engagement.
Der positive Zusammenhang zwischen Religiosität und freiwilligem Engagement ist ausschließlich auf öffentliche religiöse Praktiken zurückzuführen.
Personen, die häufig Gottesdienste oder auch Freitagsgebete besuchen, engagieren sich häufiger als andere. Kirchen bieten Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement und für dessen gesellschaftliche Koordination an. Wichtig zu wissen: Dieses Engagement findet nicht nur innerhalb kirchlicher Gelegenheitsstrukturen statt, sondern findet auch in nicht religiösen Bereichen statt. Religion wirkt hier also positiv.
Spannend ist, dass es einen Zusammenhang zwischen der historisch konfessionellen Prägung eines Kantons und freiwilligem Engagement gibt. In reformiert geprägten Kantonen ist die Wahrscheinlichkeit, sich freiwillig zu engagieren, höher als in katholisch geprägten Kantonen. Dies beruht auf historischen Pfadabhängigkeiten. Einerseits wurden in reformierten Kirchgemeinden hierarchisch-klerikale Strukturen eher abgewertet und gleichzeitig die Laientätigkeiten aufgewertet, auch für Frauen. Anderseits war die Bevölkerung in reformierten Regionen auch liberaler eingestellt, was sich besonders in der Kulturkampfzeit des 19. Jahrhunderts zeigte. Dies führte dazu, dass sich in reformiert geprägten Kantonen grössere Bevölkerungsgruppen in unterschiedlichen freiwilligen Engagements betätigen. Dies kam in vielfältigeren Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement zum Ausdruck. Das wirkt bis heute nach.
Eine zweite Erkenntnis: Positiv auf soziales Vertrauen wirken zunächst religiöse Praxis und religiöse Erfahrungen aufgrund der integrierenden Wirkung religiöser Rituale.
Positiv wirkt auch eine liberal ausgerichtete Religiosität, weil sie zu weniger Vorurteilen gegenüber anderen führt.
Negativ auf soziales Vertrauen wirkt demgegenüber eine exklusivistisch-fundamentalistisch ausgerichtete Religiosität, weil sie zu mehr Vorurteilen führt und dadurch soziales Vertrauen hemmt.
Spannend ist zudem, dass ein religiös fragmentiertes, das heisst diverses Umfeld soziales Vertrauen eher stützt denn hemmt. Auch gibt es wieder einen Effekt aufgrund historischer Prägung: In katholisch geprägten Kantonen ist soziales Vertrauen weniger verbreitet als in reformiert geprägten Kantonen. Da es sich auch hier um einen Strukturunterschied handelt, liegt die Erklärung erneut in den hierarchisch-klerikalen Strukturen und ihrer Aufwertung in katholisch geprägten und ihrer Abwertung in reformiert geprägten Kantonen.
Insbesondere Hierarchien, die mit Macht verbunden sind und bei denen sich diese Macht in vertikalen Sanktionsmechanismen zeigt, untergraben soziales Vertrauen sowie Vertrauenswürdigkeit, weil sie mit Zwang verbunden sind.
Diese Prägung gesellschaftlicher Strukturen bildete sich in entsprechenden Kulturen sozialen Vertrauens ab, die durch stetige Sozialisierung weitergegeben wurden und bis heute Spuren hinterlassen.
Die Bedeutung funktionierender Beziehungen und Netzwerke
In Kirchen und kirchlichen Strukturen wird viel Beziehungs- und Netzwerkarbeit geleistet. Sie motivieren Menschen, freiwillig und ohne Gegenleistung Ressourcen für andere Menschen bereitzustellen und sich gegenseitig zu helfen, sowohl innerhalb als auch ausserhalb kirchlicher Strukturen. Das löst Probleme, die anderweitig schwieriger zu lösen wären (da es beispielsweise kostenintensiver und mit zusätzlichen Strukturen verbunden wäre). Hier sind die Kirchen stark – und die Tatsache, dass kirchliche Gelegenheitsstrukturen freiwilliges Engagement befördern, ist ein wichtiges Argument.
Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, dass es immer mehr säkulare Gelegenheitsstrukturen gibt, die diese Funktion auch übernehmen (die Forschung steckt hier noch in Kinderschuhen). Das Argument der Gelegenheitsstrukturen ist und bleibt daher kein Alleinstellungsmerkmal der Kirchen. Aber sie haben grosse Erfahrungen mit der Pflege und Entwicklung solcher Strukturen. Das ist ein Ass, das auch auszuspielen ist.
Die Kunst der Rituale
Ein zentraler Grund, wie und warum, kirchliche Netzwerke funktionieren, liegt darin, dass sie mit Ritualen integriert und am Laufen gehalten werden. Es ist die religiöse Praxis, das heisst die Teilnahme an Ritualen, die freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen fördert.
Wichtig ist also, dass die angebotenen Rituale auch tragen und nicht schal und bedeutungslos werden.
Viele Pfarrpersonen sind denn auch Meister im Umgang mit Ritualen, das ist eine hochzuhaltende Kompetenz. Die Kompetenz sollte aber heutzutage auch darin bestehen, die Rituale so zu gestalten, dass sie viele, also beispielsweise auch für Jugendliche sowie für Menschen «am Rande» zum Tragen kommen.
Es ist nicht nur das Ritual an sich, das wirkt, sondern vor allem der soziale und zeitliche Raum rund um das Ritual. Die Erklärung für erhöhtes freiwilliges Engagement unter regelmässigen Kirchgänger:innen liegt in den Gelegenheitsräumen, die auf religiöse Rituale folgen: Nach einem Gottesdienst löst sich die Gruppe häufig nicht sofort auf. Es ergibt sich ein informeller Gelegenheitsraum. Er bietet die nötige Niederschwelligkeit, Offenheit und Stimmung, andere Personen für freiwilliges Engagement anzufragen und sich gegenseitig darin zu bestärken.
Die Kirchen als jahrhundertealte Ritualanbieterinnen tun also gut daran, ihre Ritualkompetenz zu pflegen und sich hier zu positionieren.
Aber Menschen und ihre Institutionen brauchen Zeit und Raum für soziale Interaktion und für entsprechende Rituale. Darauf ist konkret zu achten, etwa in der Festsetzung und Ermöglichung von Feiertagen, in den arbeitsrechtliche Bestimmungen, in den Reglementen zur Benützung von Räumlichkeiten.
Ambivalente Ausrichtung von Religiosität
Netzwerke und Rituale können freilich gesellschaftlich auch negativ wirken. In ihrem Rahmen entsteht zunächst nur Nah-Vertrauen zu direkt Beteiligten oder identitätsbasiertes Vertrauen zu Beteiligten beispielsweise derselben Religion. Engagement führt nicht per se zu sozialem Vertrauen. Aber es ist dieses soziale Vertrauen, das gesellschaftlich positiv auf Kohäsion wirkt. Es handelt sich dabei nicht um einen Automatismus, gerade auch in den Kirchen nicht. Die Knacknuss liegt darin, dass Netzwerke, Gruppen und Rituale eine in ihnen liegende Tendenz haben, sich gegen Aussenstehende abzugrenzen. Das ist im Grund konstitutiv für Gruppen und funktionierende Rituale.
Problematisch wird es, wenn die Abgrenzung zu Aussenstehenden in eine ideologisch aufgeladene negative Abwertung mündet.
Insbesondere beim sozialen Vertrauen zeigt sich diese ambivalente Wirkungsweise. Den Ausschlag gibt die religiöse Ausrichtung. Eine religiös liberale Ausrichtung, die zwar durchaus Grenzen setzt, aber die eigene Position nicht verabsolutiert und Aussenstehende dadurch nicht abwertet, hat einen positiven Effekt auf soziales Vertrauen. Demgegenüber fördert eine exklusivistisch-fundamentalistische Ausrichtung Vorurteile aufgrund der Verabsolutierung der eigenen Position und der Abwertung des Gegenübers. Sie wirkt negativ auf soziales Vertrauen und damit auch negativ auf sozialen Zusammenhalt.
Will Kirche gesellschaftlich förderlich sein und sich auch entsprechend legitimieren, haben kirchliche Akteure differenziert auf einzelne Strömungen, Positionen und Traditionen zu achten. Sie sollten sich stets fragen, inwiefern diese oder jene Position eher eine liberale und offen ausgerichtete oder eher eine exklusivistisch-fundamentalistische und ausgrenzende Religiosität kolportiert.
Besteht der Anspruch, soziales Vertrauen und damit sozialen Zusammenhalt zu fördern, sind erstere zu bevorzugen und letztere zurückzuweisen. Zu fördern sind zudem jene Räume und Zeiten der Interaktion sowie jene Institutionen, in denen sich Gruppenabgrenzungen nicht mit sozialer Abwertung von Fremdgruppen verbinden.
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Anastas Odermatt, geb. 1985 in St. Gallen, studierte Religions- und Umweltwissenschaften, Philosophie und Ethik in Luzern, Zürich und Wien. Er arbeitet an der Universität Luzern als Forschungsmitarbeiter am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP). Er ist Präsident der «Stiftung pro jungwacht blauring» sowie Mitglied des Zuger kantonalen Parlaments. Im Mai ist seine Dissertation erschienen: Odermatt, Anastas (2023). Religion und Sozialkapital in der Schweiz: Zum eigenwilligen Zusammenhang zwischen Religiosität, Engagement und Vertrauen. Politik und Religion. Springer VS. Online frei verfügbar unter https://doi.org/10.1007/978-3-658-41147-3.
Am 16. August 2023, 18.00 Uhr, wird das Buch von Anastas Odermatt an der UNIVERSITÄT LUZERN vorgestellt.
Beitragsbild: Ranfttreffen, Fotoarchiv Jungwacht Blauring Schweiz.
- Coleman, James S. (1988): Social capital in the creation of human capital. In: American Journal of Sociology 94, S. 95–120. ↩
- Putnam, Robert D. (2000): Bowling alone. The collapse and revival of American community. New York: Simon & Schuster; Putnam, Robert D.; Campbell, David E. (2010): American grace. How religion divides and unites us. New York: Simon & Schuster. ↩
- Liedhegener, Antonius; Pickel, Gert; Odermatt, Anastas; Yendell, Alexander; Jaeckel, Yvonne (2019): Wie Religion «uns» trennt – und verbindet. Befunde einer Repräsentativbefragung zur gesellschaftlichen Rolle von religiösen und sozialen Identitäten in Deutschland und der Schweiz 2019. Luzern, Leipzig. Online verfügbar unter http://doi.org/10.5281/zenodo.3560792. ↩
- Odermatt, Anastas (2023): Religion und Sozialkapital in der Schweiz. Zum eigenwilligen Zusammenhang zwischen Religiosität, Engagement und Vertrauen. Wiesbaden: Springer VS (Politik und Religion). Online verfügbar unter http://doi.org/10.1007/978-3-658-41147-3. ↩