„Corona und die Liturgie“: seit März in Praxis wie Theologie ein hoch virulentes Thema. Peter Ebenbauers Thesen vermessen ein ebenso schwieriges wie chancenreiches und relevantes Feld.
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Die Verpflegung und Heilung der sozialen Wunden, die durch die Corona-Pandemie sichtbar geworden oder neu entstanden sind, muss an erster Stelle stehen – nicht nur auf der gesellschaftlichen und politischen Agenda, sondern auch auf der kirchlichen Agenda.
Wo Leben massiv gefährdet und bedroht ist, hat die konkrete, alltägliche Hilfeleistung Vorrang vor allem anderen, auch vor der Liturgie. Diese Hilfeleistung selbst wird zum Gottesdienst.
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Die christliche Liturgie selbst ist sozial verankert. Sie ist Versammlung von Menschen im Namen Jesu, die durch Gebet, Erinnerung, Erwartung, Gemeinschaftsleben und Solidarität dem Evangelium und dem kommenden Gottesreich Raum, Stimme und körperlich konkreten Ausdruck in den gottesdienstlichen Riten geben.
Von dieser Basis her wird Liturgie immer die Qualitäten körperlich-sinnlicher Präsenz und realer physischer Zusammenkunft für sich beanspruchen. Auf sie ganz verzichten zu müssen ist ein schmerzlicher Verlust, der nur hingenommen werden kann, wenn es um die Vermeidung akuter Gefahren geht. Was der Lockdown von Kunst und Kultur für die Gesellschaft bedeutet, das bedeutet der Lockdown der Liturgie für die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Ich würde mir bei öffentlichen Stellungnahmen von kirchlichen Repräsentanten, bei allem Verständnis für strenge Maßnahmen im Blick auf die Gottesdienste, eine ähnlich differenzierte und kritische Haltung erwarten wie wir sie von den Vertreterinnen und Vertretern kultureller Institutionen erleben.
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Zwischen religiös motivierter Leugnung oder Verharmlosung der Corona-Gefahr und kritikloser Akzeptanz staatlicher Einschränkungen gilt es für die Kirchen und Religionsgemeinschaften einen dritten Weg zu suchen und zu finden.
Dieser Weg bedeutet geistvolle – durch Tradition und Innovation inspirierte – und kreative Ausbalancierung von Risiko und Wagnis, von beherztem Experiment und nachdenklicher Unterbrechung: Gottesdienste in neuen, corona-kompatiblen Formaten, aber immer mit dem Fokus auf Begegnung, Beteiligung und Miteinander-Tun, auch unter Zuhilfenahme digitaler und virtueller Kommunikationsformen.
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Der Rückgriff auf priesterzentrierte Solo-Liturgien spiegelt ein Kirchen- und Liturgieverständnis, in das wir nicht mehr zurückfallen dürfen.
Dagegen gilt es, netzwerkförmige, basiskirchliche Glaubenspraxis und Gottesdienste zu fördern und offene Angebote der Begegnung, der Besinnung, des Gebets und des Gottesdienstes zu schaffen, ohne exklusive Kontrollinstanz des Klerus. – Mit oder ohne Corona: das wird eine Überlebensfrage der Kirchen in den nächsten Jahrzehnten sein.
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Die Kirchen und ihre Liturgien sind im Kontext unserer westlichen, säkularen Gesellschaften und Staaten nicht mehr systemrelevant. Das ist kein Unglück, sondern vielmehr eine Chance.
Wäre es nicht so, könnten sie gegenüber dem „System“ keine spürbare und inspirierende Gegenkraft ausprägen. Dazu sind sie jedoch aufgerufen, wenn sie dem Evangelium treu bleiben wollen. Ihre Relevanz muss sich an der Sehnsucht nach Menschlichkeit und nach einem guten Leben für alle messen und nicht am Fortbestehen des aktuellen gesellschaftlichen Systems. Die Corona-Liturgien des Staates müssen die Stabilisierung des Gesamtsystems im Auge behalten, die Liturgien der Kirchen aber dürfen und müssen der Sehnsucht nach Menschlichkeit, nach Trost und Begleitung, nach einem „guten Ende“, nach dem „Mehr-als-das-hier“ entgegenkommen.
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Die Liturgien der Kirche können in der Corona-Krise eine Geschichte erzählen und eine Welt erstehen lassen, die nicht durch die Abwehr-, Kampf- und Siegesrhetorik der staatlichen Corona-Politik beherrscht wird.
Sie können oder könnten die Corona-Wirklichkeit besser und heilvoller integrieren, weil sie aus Glaubenserfahrungen und Glaubenszeugnissen gespeist werden, die zusammen mit der Not die Hoffnung, zusammen mit der Gefahr das Vertrauen, zusammen mit dem Elend die Aussicht auf Rettung festhalten, die das Menschenmögliche einfordern, aber das Menschen-Unmögliche zugleich besingen und darin eine Stärkung eröffnen, die Bedürftigkeit und Angst, Klage und Verlassenheit aussprechen und einer größeren Kraft und Hoffnung anheimstellen können, die nüchtern und faktenorientiert anerkennen, was ist und wo die Gefahr lauert, und zugleich von einer Kraft beseelt sind, die darüber hinaus hoffen und vertrauen kann.
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Die gesellschaftlichen, sozialen und individuellen Verwundungen der Corona-Pandemie rufen nach Verpflegung und Heilung.
Das kann nicht nur durch medizinische und ökonomische Therapien gelingen, sondern erfordert auch spirituelle Ressourcen. Die Liturgien der Kirchen können und sollen mit und nach Corona Orte sein, an denen diese Ressourcen fließen. Die Ritualtraditionen der kirchlichen Liturgien und der Sakramente bergen dafür Schätze, die es zu heben gilt, z.B. im Blick auf die Praxis von Vergeben und Verzeihen. Rituale, Gottesdienste und Sakramente könnten sich genau hier bewähren, vorausgesetzt, ihre Akteur*innen und ihr institutioneller Rahmen stellen sich bedingungslos der Situation der Verwundungen und auch der Schuld.
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Die Integration der Corona-Gefahr und die vielen Heilungsaufgaben werden uns nicht alleine gelingen.
Dazu bedarf es der Kooperation und des guten Geistes sehr vieler, sicher nicht nur der eigenen Kirchenmitglieder, und dazu bedarf es eines noch größeren Beistandes, wir nennen ihn in den christlichen Traditionen den „Heiligen Geist“. Möge dieser Geist in den Liturgien mit und nach Corona und im Gottesdienst unseres weltlichen Handelns am Werk sein.
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Die liturgische Normalität von morgen ist ungewiss. Hoffentlich ist sie eine kreative, lustvolle und bewegliche Normalität.
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Das göttliche „Darüber hinaus“ ist die gute und heilsame Gabe, die durch die Liturgien der Kirchen freigesetzt werden kann. Sie wird dann spürbar und überzeugend sein, wenn die Kirchen selbst über sich hinausgehen – in allen ihren Handlungsfeldern.
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Peter Ebenbauer ist Professor für Liturgiewissenschaft am Institut für Systematische Theologie und Liturgiewissenschaft der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz. – Die 10 Thesen waren Schlusspunkt und Resümee eines Studientags „Corona und die Liturgie“ der Fakultät am 11.12.2020.
Photo: Rainer Bucher. Der Apostel Judas Thaddäus ist in katholischer Tradition Fürsprecher in bedrohlichen Lebenslagen.